Kapitel 44

Sandras These über den Mann, der die 17-jährige Stefanie Andres im Alten Elbtunnel bedroht, misshandelt und getötet haben könnte, ließ sie nicht los. Frost war wieder zurück in seine Wohnung gefahren. Er hatte versprochen, ihr beim Leerräumen der Habseligkeiten am Wochenende helfen zu wollen. Sandra war klar, ihr Hinweis über den legalen Kauf von teuren Dingen, wie Luxuskarossen mit der digitalen Währung, hatte ihn nachdenklich gemacht. Sicher saß er schon am Rechner und arbeitete sich durch Läden, die das ermöglichten.

Sie sah diesen Hönneke vor sich, wie er Stefanie angriff. Was würde solch ein Triebtäter tun, um die Leiche des Mädchens loszuwerden? Der Mann hatte, laut Aussage der Kollegin Porceddu, nie ein Auto besessen. Folglich wäre es ihm nicht möglich gewesen, sie mit dem Aufzug nach oben zu bringen, in den Kofferraum zu werfen und irgendwo verschwinden zu lassen. Aber sie dort unten einfach zu vergessen, wäre auch keine Lösung gewesen. Doch er war vorbestraft für gleichartige Delikte. Schon am nächsten Tag hätte das SEK ihn sicher aus seiner Wohnung gezerrt. Wo also befanden sich die sterblichen Überreste des jungen Mädchens? Ob es Möglichkeiten gab, sie irgendwo dort unten zu verstecken? Der Tunnel war in diesem Jahr 110 Jahre alt geworden. Damals hatte man sicher noch irgendwelche Versorgungsschächte oder Öffnungen gebaut, die später nach der Renovierung unnötig geworden waren. Und wer hatte mehr Zeit, solche Verstecke zu finden, als ein Mann, der stundenlang dort unten seine Arbeitszeit verbrachte? Morgen musste sie sich dringend mit einem Verantwortlichen der HPA austauschen. Nein, besser war es, sich mit ihm unten in der Röhre zu treffen.

*

Julius Keller, Pressesprecher der HPA, war plötzlich überaus freundlich und vermittelte Sandra an den verantwortlichen Betriebsingenieur des Alten Elbtunnels, Malte Bornhövel. Sie verabredeten ein Treffen gegen Mittag beim Ausgang Steinwerder. Sandra hoffte, nicht wieder auf den Deppen von letzter Woche zu treffen.

Sie trat eine halbe Stunde vorher an den Kiosk beim Aussichtspunkt, bestellte eine Bockwurst, dazu eine Flasche Mineralwasser. Ständig kamen und gingen Touristen, die einen Blick auf die Landungsbrücke warfen, ein Handyfoto der Elbphilharmonie schossen und dann wieder zurückliefen. Für Hamburgs Besucher war der alte Tunnel auch noch nach über hundert Jahren eine besondere Attraktion.

Bornhövel war pünktlich. Ein Mann in ihrem Alter, schätzte sie, mit moderner Brille, gut gekleidet und sicher auch gut bezahlt. Er hielt Sandra schon von Weitem die ausgestreckte Hand hin. „Ich habe schon viel von Ihnen gehört und gelesen, Kommissarin Holz.“

„Ein echter Fan also! Hallo, Herr Bornhövel.“

„Ja, tatsächlich. Geht es immer noch um die vermisste junge Frau, von der sie vermuten, dass es mit unserem Alten Elbtunnel zusammenhängt?“

Sandra nickte. „Richtig, ich benötige Informationen oder Baupläne von Öffnungen oder Räumen. Dort, wo es Möglichkeiten gegeben haben könnte, etwas abzulegen.“

Die Gesichtszüge des Mannes entgleisten. „Sie meinen, eine ... Leiche?“

„Richtig. Können Sie mir da helfen?“

„Natürlich. Aber bevor wir hinuntergehen, ich hatte natürlich mit einer solchen Frage gerechnet.“ Bornhövel kramte ein gefaltetes Papier aus der Tasche und hielt es an die Wand. „Schauen Sie: In den Röhren selbst gibt es baulich keine Chance, etwas zu verstecken, was größer ist als eine Stecknadel. Überall Fliesen, eng an eng. Es bleiben folglich nur die Treppenabgänge, der Personenaufzugsschacht und natürlich die Schächte der beiden Lastenaufzüge. Tatsächlich wurden dort beim Bau der Röhren Versorgungsschächte notwendig. Damals war alles dicker, umfangreicher. Wo wir heute ein dünnes Rohr benötigen, war 1912 ein Schacht notwendig. So hat man im Süden, in Richtung Blohm & Voss, kleine Kriechkeller ausgehoben. Nach der letzten Renovierung, Ende der 80er-Jahre, gab es keinerlei Verwendung mehr dafür. Ich habe nachgeschaut, sie wurden ...“, der Mann blickte auf einen kleinen Zettel, den er vollgeschrieben hatte, „... um die Jahrtausendwende, genau 2001, verschlossen.“

Sandra fühlte sich bestätigt. Genauso hatte sie es sich gewünscht und so war es gekommen. Der Mörder musste Stefanie am späten Abend während ihrer Rückfahrt vom missglückten Treffen unten im Tunnel getötet und den Leichnam in einem der genannten Kriechkeller versteckt haben. Die Nähe zur Leiche und die Angst davor, sie könne entdeckt werden, musste Hönneke veranlasst haben, seinen Job bei den Lastenaufzügen aufzugeben. Sandras Herz hüpfte vor Freude über diese Erklärung. Am Montag würde sie mit Liebknecht und Porceddu reden, wie weiter zu verfahren sei. Klar war, dass die geschlossenen Kriechkeller baldigst geöffnet werden mussten.

„Hallo, Frau Holz, lassen Sie mich gerne an Ihren Gedanken teilhaben“, grinste Bornhövel sie an.

„Oh, entschuldigen Sie, aber das ist erst mal nur eine Vermutung. Wenn wir konkrete Anhaltspunkte finden, sind sie der Erste, der von mir informiert wird.“

Der Mann nickte, sah momentan etwas niedergeschlagen aus. Sicher hatte er gehofft, die Kommissarin weihe ihn in die weiteren Ermittlungen ein.

„Sollten Sie hinter die Mauern schauen wollen, lassen Sie es mich wissen, Frau Kommissarin. Das Gelände selbst gehört nicht mehr der HPA, sondern Blohm & Voss. Dort ist man an negativer Publicity sicher nicht interessiert. Darauf läuft es hinaus, auch wenn Sie nicht fündig werden. Gerade läuft es nicht gut beim Schiffsbau und den Werften. Aber ich pflege dorthin gute Kontakte. Melden Sie sich bei Bedarf. Wir können auch gerne mal ein Glas Wein zusammentrinken.“

Sandra war verblüfft. Waren die Männer heutzutage nur noch hormongesteuert? Was hatten MeToo und andere Bewegungen gebracht? Nichts! Jede kleine Hilfeleistung an eine Frau war mit einer Einladung oder anzüglichen Bemerkung verbunden. Warum war sie kein Y-Chromosom-Träger?

„Gute Idee, mein Mann wird sich freuen!“