Kapitel 49

Der Osdorfer Born, eine Plattenbau-Großsiedlung in Hamburg, lag in den Stadtteilen Osdorf und Lurup nahe der westlichen Stadtgrenze. In dem 20-stöckigen Hochhaus, von seinen Bewohnern auch liebevoll Affenfelsen genannt, lebten über 10.000 Personen.

Der Nordfriese Arndt Bruns stand am Fenster einer der Wohnungen. Sein Blick durch die schmierige Glasscheibe ging nach unten. Hier im 18. Stock, in dem er und sein Freund Tom Krause seit zwei Jahren zusammenlebten, sahen die Autos und umherlaufende Menschen unten auf der Straße wie Figuren im MiniaturWunderland aus.

„Schau mal, Tom, Polizei!“, rief er. „Wie nervig, lass uns bloß bald hier wegziehen. Unsere Mitbewohner sind wie Bullenmagneten, die ziehen die Polizei schon fast automatisch an.“

„Was meinst du? Sprich lauter, die Lüfter der Server sind scheißlaut.“

Tom war von der Couch aufgesprungen, nicht ohne den Ton des riesigen LED-Fernsehers abgeschaltet zu haben.

„Schau dort unten, Bullen!“, versuchte Arndt einen neuen Anlauf. „Haben sicher einen Drogendealer hopsgenommen.“

„Was? Hoffentlich nicht den, von dem wir das Dope kaufen!“, meinte Tom und blickte, neben seinem Freund stehend, nach draußen. „Oder sie kommen uns holen!“, lachte er.

„Klar, die haben inzwischen alle Informatik studiert und sind uns auf der Spur. Aber sag, wie war das mit dem Tesla ? Findest du es nicht übertrieben, nach so einer Luxuskarosse zu schauen? Hast du überhaupt einen Führerschein?“

Tom zuckte mit den Schultern. „Und wenn nicht, kann ich ihn ja machen. Eins nach dem anderen.“

„Wie weit bist du mit dem Transfer der Coins in Euro und Dollar.“

„Es läuft, sagen wir mal so.“

Arndt hatte den Fensterplatz verlassen. Er war zur kleinen Küchenzeile spaziert. Zwischen verschmutzten Tellern und Töpfen griff er nach einer nicht weniger schmutzigen Tasse und schenkte sich aus einer Glaskanne heißen Kaffee ein. Er betrachtete stumm die dunkle Kruste, die sich am Boden der Kanne gebildet hatte. So, als lese er die Zukunft aus dem Kaffeesatz.

„Entweder müssen wir mal das Geschirr spülen oder eine neue Kaffeemaschine kaufen!“, bemerkte er nach einer Weile.

„Ein Kaffeeautomat wäre super.“ Tom riss die Arme hoch und tanzte vor Freude.

„Natürlich so einer, der auch Milchkaffee und Cappuccino kann.“

„Klar, wir können bald alles kaufen, was uns Freude macht.“

„Ja, ja, aber erst muss die Kohle auf den Konten sein!“, erwiderte Arndt und nahm seine ehemalige Position am Fenster wieder ein.

„Sind die Bullen wieder abgezogen?“ Tom hatte mit einem Satz wieder Platz auf dem alten Sofa genommen. Staub wurde hochgeschleudert. Er wedelte mit Armen und Händen dagegen an.

Arndt reckte sich, um noch etwas besser nach unten schauen zu können. „Keine Ahnung, man hat ja oft das Gefühl, die Bullen richten hier im Affenhügel schon ihr eigenes Kommissariat ein.“

„Affen in Uniform!“, amüsierte sich Tom. „Komm, Arndt, lass uns eine Runde Formel 1 spielen!“

„Nein, spiele alleine gegen den Computer. Ich werde den Fluss der Coins noch etwas ... steuern.“

„Auch keine schlechte Idee. Und heute Abend gehen wir mal zum Hässler, Sushi essen.“

„Du meinst sicher den Henssler? Der immer im Fernsehen kocht.“

„Ja, genau!“

„Igitt, nein, dir haben sie wohl ins Hirn geschissen. Roher Fisch ist nix für mich. Dann lieber ins Portugiesenviertel. Oder Pizza, mir auch wurscht.“

„Von mir aus, ich muss dringend mal wieder vor die Tür.“

Das Wort ,Tür‘ ging in einem explosionsartigen Knall unter. Eine Druckwelle schob sich durch die 40-Quadratmeter-Wohnung. Arndt, der entgeistert aufschrie und seine Tasse fallen ließ, wurde einige Zentimeter in Richtung des Fensters gedrückt. Noch bevor die beiden Bewohner in der Lage waren, das Geschehene zu verarbeiten, ertönte eine weitere Explosion, ähnlich einem gezündeten Polenböller. Der Druck zerriss Arndt, der am nächsten an der Tür stand, das Trommelfell des linken Ohres. Laut brüllend fasste er sich an den Kopf und hielt dabei den Mund vor Schreck aufgerissen. Der Raum verschwand nach und nach in der Dunkelheit. Das geringe Tageslicht, das die schmutzigen Fensterscheiben hindurchließen, wurde innerhalb von Sekunden gegen dunklen Qualm ausgetauscht. Die Schwaden zogen vom Boden hoch zur Decke und innerhalb weniger Augenblicke war die Atemluft in der Wohnung durchsetzt mit etwas, was die Schleimhäute der beiden jungen Männer aufs Äußerste reizte.

„Scheiße, ein ... Beben!“, hustete Tom. Der Mann hatte sich von der Couch auf den Boden geschmissen. Seine Knie versagten aufgrund der Aufregung ihren Dienst und er sank in sich zusammen. Zitternd und wie ein Häufchen Elend krümmte er sich auf dem Linoleum, während ein halbes Dutzend schwarz gekleideter, bewaffneter Polizeibeamte mit Atemmasken in die Wohnung stürzten. Sie packten die beiden Männer, verpassten ihnen Handschellen und zerrten sie ohne jegliche Gegenwehr hinaus auf den Flur.

Die komplette Polizeiaktion hier am Osdorfer Born hatte keine zwei Minuten gedauert.

*

Jon Christen Frost und die Kommissarinnen Meyfeld und Sinn-Brinkhaus hatten unten vor dem Aufgang des riesigen Gebäudekomplexes gewartet. Jensen hatte einen wichtigen Termin und war nicht mitgekommen. Die SEK-Einheit war nach Frosts Befehl hineingestürmt. Einige der Vermummten hatten den Aufzug, andere die Treppe genommen. Diverse Schaulustige hatten sich in der Nähe versammelt. Sie versuchten, mit ihren Handys Videos der Polizeiaktion aufzunehmen. Uniformierte Beamte waren noch immer dabei, den Bereich mittels Trassierband abzusperren.

Erst nach Minuten des Wartens und Bangens erschienen die maskierten Beamten des SEK wieder. Sie schoben zwei Männer vor sich her, die sich kaum auf den Beinen halten konnten. Hauptkommissar Guido Hinz, Leiter der Einheit, trat zum Leiter LKA.

„Melde: Einsatz abgeschlossen! Ich denke, dieses Mal haben wir die Richtigen. Oben stehen zig Server in der kleinen Wohnung. Hier, ich habe Ihnen schnell mal einige Fotos gemacht. Die Spusi ist rauf nach oben.“

Während Guido Hinz sein Handy aus der Brusttasche zog, stoppte neben ihnen ein Mercedes mit dunklen Scheiben. Innensenator Lars Rohde stieg aus. Mit dabei Kriminalrat Eggling, der Abteilungsleiter des Landeskriminalamts 7, Staatsschutz.

Hauptkommissar Hinz grüßte zackig und die beiden Neuankömmlinge nickten. „Erläutern Sie uns die Situation, meine Damen und Herren!“, forderte Rohde.

Hauptkommissar Frost übernahm die Aufklärung.

„Sie wissen sicher von unseren bisherigen Ermittlungsergebnissen, was die Terroristen bzw. die Erpressung der Stadt angeht. Eben hat das SEK unter Leitung von Hauptkommissar Hinz eine Wohnung geöffnet und die beiden mutmaßlichen Terroristen gewaltfrei überwältigt. Sie sitzen dort im Wagen.“ Frost zeigte auf den Transporter.

„Sie sind sich absolut sicher, dieses Mal die Richtigen gefasst zu haben?“, wollte der Innensenator wissen.

„Ja“, entgegnete Frost, „Kollege Hinz, würden Sie dem Senator bitte Ihre Fotos zeigen?“

Hinz näherte sich mit seinem Mobilfunkgerät der Gruppe und ließ sie die aufgenommen Fotos aus der Wohnung anschauen.

„Hier, der Server-Schrank. Dazwischen jede Menge Computer. Im Papierkorb fand ich auch eine Übersetzung des Erpresserbriefes. Schauen Sie, das Original habe ich natürlich der Spusi überlassen.“

Erstaunt, aber zufrieden betrachteten die Beamten die Fotos.

Als Hinz das Handy weggesteckt hatte, meldete sich Eggling zu Wort. „Meine Damen und Herren, in Absprache mit dem Innensenator und auch nach einem Telefonat mit dem amtierenden Polizeipräsidenten übernimmt nun der Staatsschutz das weitere Vorgehen in diesem Fall. Ich bitte die Mordkommission abzuziehen. Alles Weitere bespreche ich mit dem Kollegen Hinz und seinen Männern. Gute Arbeit, Kollege Frost!“

Eggling nickte noch, lief dann mit dem Leiter des SEK, Hauptkommissar Hinz, davon und Senator Rohde folgte den beiden.

Hauptkommissar Frost und seine Kolleginnen standen wie gelähmt seitlich des Szenarios.

„Habe ich das richtig verstanden, Jon: Eggling sammelt die Lorbeeren für unsere Ermittlungsarbeit ein? Was sagt Jensen dazu?“

Frost schien sprachlos, zuckte jedoch resignierend mit den Schultern.

„Lasst uns zurückfahren und ein Fass aufmachen!“, schlug Julia Sinn-Brinkhaus vor. Die drei stiegen schweigend in den Dienstwagen.