Kapitel 54

Es hatte Sandra einiges an Überredung gekostet, Jochen Andres für den gestrigen Tag erneut nach Hamburg zu locken.

„Ich bekomme schon Meilen als Vielflieger, wenn das so weitergeht“, scherzte er, als sie ihn mit einem Leihwagen an diesem Montag um vier Uhr in der Früh beim Hotel abholte.

„Aber musst du den alten Mann schon um diese Zeit ohne Kaffee und ohne Nahrungsaufnahme aus dem Bett werfen? Hätte es eine Spazierfahrt gegen Mittag nicht auch getan?“

Sandra schüttelte den Kopf. „Hinten in meiner Tasche auf dem Rücksitz findest du eine Thermoskanne voller Kaffee. Ohne Milch. Ich hoffe, du trinkst ihn schwarz?“

Andres war überrascht und bestätigte das.

„Dazu habe ich Brezeln aufgebacken und mit Butter bestrichen. Um die Zeit sind auch die Bäcker noch nicht auf den Beinen.“

Der Škoda-SUV zwängte sich durch die Spurverengung einer Baustelle bei Hausbruch .

„Wow, du bist ja wie Jessica, sie denkt auch an alles.“

Sandra grinste, ohne den Kopf von der Straße abzuwenden. „Danke, das freut mich.“

Der Š koda Karoq des Autoverleihers war nagelneu. Genau das beunruhigte die Fahrerin etwas. Er roch wie aus der Fabrik und war gespickt mit Elektronik.

„Das Display ist größer als das Fernsehgerät in den 80ern bei uns zu Hause!“, nahm sie das Gespräch mit dem Sitznachbarn wieder auf. Sie zeigte auf das Armaturenbrett.

„Ja, das stimmt, Sandra. Auf Mallorca besitzen Jessica und ich einen Clio Zoe Elektro . Er reicht vollkommen für all unsere Belange. Dazu lässt er sich überall gut einparken.“

Andres hatte Sandra vertraut, als sie ihn gebeten hatte, am Sonntagabend nach Hamburg zu fliegen. Und er hatte keinerlei Fragen gestellt. Das war gut so. Sie hatte auch keine Antworten. Die Idee, nach Bamberg zu fahren, war nach und nach gereift. Irgendwann hatte sie der Gedanke daran fast aufgefressen. Ihre Kollegin und den Kollegen in der Arbeitsgruppe ließ sie im Dunkeln darüber. Doch Sandra war bewusst, sie waren neugierig geworden. Lange Jahre in diversen Ermittlertätigkeiten hinterließen ihre Spuren. Heute, um
12 Uhr, wurde Häftling Michael Wachter entlassen. Das würde gut zu schaffen sein. Ihr Navi zeigte als Ankunftszeit bei der Justizvollzugsanstalt 10.21 Uhr an. Da konnten sie auch noch eine Baustelle und einen kleinen Stau verschmerzen.

*

Der Verkehr auf der stark befahrenen Autobahn A7 verlangte volle Konzentration. Schon einige Male hatte Andres den Versuch gestartet, etwas über den Grund der Tagesreise herauszubekommen. Die Kommissarin hatte ihn immer wieder abgewimmelt mit Hinweisen wie: Ich muss mich konzentrieren oder: Lass dich überraschen. Irgendwann hatte er aufgegeben und war eingeschlafen.

Ein Unfall bei Homberg-Efze hielt sie eine Viertelstunde auf. Zum Glück waren sie fast direkt hinter dem Lkw, der einem anderen aufgefahren war. Die Kollegen von der Autobahnpolizei hatten noch eine Spur offen gelassen. Aber es sah so aus, als müssten zur Bergung des Fahrzeugs bald beide Spuren gesperrt werden. Gerade noch so witschte Sandra im Škoda durch. Hinter ihr, so hörte sie im Verkehrsfunk, wurde Minuten später die A7 in Fahrtrichtung Fulda komplett gesperrt.

*

Um 10.51 Uhr fuhren sie durch die Bamberger Hafenstraße an der gestauten Regnitz vorbei und unmittelbar danach überquerten sie die Europabrücke. Sandra hatte unterwegs, während Andres schlief, noch einmal in der Haftanstalt angerufen. Man hatte ihr bestätigt, Wachter würde pünktlich um 12.00 Uhr das Tor in Richtung Freiheit verlassen. Das sei schon seit Jahrzehnten gängige Praxis hier und zur Uhrzeit gebe es auch keine Ausnahmen. Froh über diese Auskunft hatte Sandra das Gespräch beendet.

Um elf Uhr neununddreißig parkte Sandra den Škoda auf dem Seitenstreifen in Höhe der Apoll -Skulptur des deutschen Bildhauers Markus Lüpertz. Mit Blick auf die St.-Elisabeth-Kirche und den dahinter liegenden Ausgang der Justizvollzugsanstalt konnte sie alles überschauen. Andres hatte sich wieder Kaffee eingeschenkt. Er biss in die letzte Butterbrezel. Seine beiden einzigen Sätze seit nahezu einer Stunde lauteten: „Später müssen wir aber etwas Warmes zu uns nehmen.“, und gerade eben: „Wir warten also auf die Entlassung von Michael Wachter.“ Sandra hatte nur genickt, nichts dazu entgegnet. Sie drehte die Rückenlehne des Sitzes etwas nach hinten und machte es sich bequem. Etwas, was ihr Beifahrer schon während der Fahrt über die Hamburger Elbe vor knapp sieben Stunden hinter sich gebracht hatte.

Immer wieder kamen und verließen Fahrzeuge die kleine Parkfläche. Knapp zehn Autos fanden dort Platz. Dennoch blieb immer genügend Parkraum für weitere Besucher. Sandra war sich sicher, die Bamberger Bevölkerung sah keinen Grund, hier zu parken. Die Touristen kamen inzwischen überwiegend mit dem Zug an oder stellten ihre Fahrzeuge in den Tiefgaragen und auf Parkplätzen der Hotels ab.

Sandra spürte, wie ihr im Wagen warm wurde. Sie ließ das Fenster ein wenig nach unten gleiten. Andres beobachtete unterdessen interessiert und mit flinken Augen das Szenario draußen. Ein dunkler BMW mit Kemptener Kennzeichen erregte Sandras Aufmerksamkeit. Eine Frau saß am Steuer. Ansonsten war der Wagen leer. Die Unbekannte hatte den Wagen weiter hinten abgestellt, Sandra konnte alles im Rückspiegel verfolgen. Sie spürte, wie ihr Herzschlag leicht anzog, und bemühte sich, ruhig zu atmen. Die Frau war ausgestiegen. Noch konnte Sandra weder ihre Kleidung noch die Statur erkennen. Die Unbekannte spazierte gemütlich in Richtung Kirche und blieb dann vor der Statue stehen. Sie faltete ihre Hände, als wolle sie beten. Von seiner Position aus konnte ihr Sitznachbar die Frau noch nicht sehen; erst als die Unbekannte, wenige Minuten später, in Richtung der Justizvollzugsanstalt lief. Sie war schlank und vielleicht 1,75 Meter groß. Sie trug eine dunkle Lederjacke, deren Kapuze hinten herunterhing. Dazu Jeans und stabile Lederboots. Ihr Gang zeugte von großem Selbstbewusstsein und sie warf die mittellangen, dunkelblonden Haare immer wieder in Position. Sandra schielte hinüber zu Jochen. Sie registrierte, dass auch Andres die Person bemerkt hatte. Aber noch zeigte er keinerlei Regung. Die Frau blickte auf die Uhr. Offenbar hatte sie einen Termin. Eine weitere weibliche Person, mit einem Kind an der Hand, überquerte die Straße. Sandra blickte auffällig zu ihr rüber, und als sie den Blick der Unbekannten bemerkte, zog die Frau das Kind näher zu sich. Sie konnte keine dreißig Jahre alt sein, da war sich Sandra sicher. Auch Jochen ließ den Neuankömmling nicht aus den Augen.

*

Die Uhr im Škoda zeigte 11.59, als die Glocken der Kirche zu läuten begannen. Dann änderte sich die digitale Anzeige auf exakt 12.00 Uhr. Sandras Spannung stieg. Sie hatte große Lust, aus dem Wagen zu steigen und sich die Beine zu vertreten. Doch das musste warten. Andres schaute nun regelmäßig hinüber zur Kommissarin. Sandra wich seinem Blick aus. Weit hinten näherte sich eine Frau im blauen Hemd. Sie hielt eine Art Tablet in der Hand. Es handelte sich wahrscheinlich um eine Stadtangestellte, die Parkknöllchen verteilte. Hoffentlich dauerte es etwas, bis sie bei ihnen eintraf. In der Aufregung hatte Sandra gar nicht geschaut, wie das Parken vor Kirche und Justizvollzugsanstalt geregelt war. Die Hamburger Kommissarin beobachtete beide Frauen beim Tor der Haftanstalt und wechselte alle paar Sekunden den Blick in den Rückspiegel. Die Verkehrsüberwacherin stritt gerade mit dem Fahrer eines Transporters, dem sie wohl ein Ticket verpasst hatte. Das konnte dauern.

Endlich tat sich etwas: Das Tor zur Haftanstalt war nicht einsehbar, doch plötzlich, wie durch Zauberei, traten drei Männer in Sandras Sichtbereich. Zwei trugen einen Koffer, einer einen Rucksack auf dem Rücken. Die Frau mit dem Kind lief einem der Männer entgegen, küsste ihn. Anschließend traten beide gemeinsam den Weg zurück zur Kirche an. Die zweite männliche Person war sofort verschwunden. Nur einer blieb stehen: Michael Florian Wachter.

Wachter stand starr auf der Stelle. Er hatte seinen schwarzen Koffer neben sich abgestellt. Er blickte sich um, sein Blick blieb bei der Frau in Lederjacke und Boots hängen. Jochen Andres, neben Sandra, war ebenfalls nervös geworden. Sicher hatte er die Tragweite der Fahrt und den Zusammenhang inzwischen richtig gedeutet. Gebannt starrte er auf das ungleiche Paar, das sich gerade in den Armen lag.

„Das ist ... Wachter?“, fragte er.

Sandra nickte. „Und die Frau in seinen Armen ist ...“

„... Stefanie?“

Wieder nickte Sandra und sie spürte, wie ihr Herzschlag Fahrt aufnahm.

„Nein, das kann nicht sein, das ... das glaube ich nicht!“ Andres Stimme war belegt. Er kämpfte mit den Tränen. Plötzlich riss er die Tür auf und lief um den Wagen auf das Paar zu.

Sandra betätigte den Knopf, ließ das Fenster komplett hinunter.

Sie hörte Andres laut ,Stef‘ schreien und bemerkte, wie sich die Frau neben Wachter erschrocken umdrehte. Andres rannte, ohne auf die Straße zu schauen, auf das Pärchen zu. Inzwischen hatten sie den aufgeregten Mann auf der Straße bemerkt. Wachter war mit einem Schritt vor die Frau getreten.

Der ehemalige Polizeipräsident hatte die beiden Personen nun erreicht. Es war, als ringe er mit seiner Fassung. Sandra glaubte es an den unkontrollierten Bewegungen seiner Extremitäten erkennen zu können. Hoffentlich bricht er nicht zusammen, ging es der Kommissarin durch den Kopf. Es schien, als wolle Andres die Frau in die Arme nehmen, doch Wachter stand schützend vor ihr. Andres blieb mit hängenden Schultern stehen. Sandra hörte die zittrigen Worte: „Stefanie, du ... du bist es tatsächlich!“

Schauer liefen ihren Rücken hinunter und auch sie spürte, wie ihr Tränen die Wangen hinabrannen.

„WARUM HAST DU MIR DAS BLOSS ANGETAN!“, schrie Jochen Andres laut und verzweifelt.

Dann vernahm Sandra die Worte der Frau. Sie war etwas von Michael Wachter weggetreten. Stefanie Andres stand nun, aufrecht und selbstbewusst, wenige Zentimeter vor ihrem Vater. Sie wischte mit einer kontrollierten Bewegung ihre Haare aus dem Gesicht. Dann wies sie mit dem Zeigefinger der Hand auf Jochen Andres und entgegnete: „IMMER GING ES NUR UM DICH! UM DICH, UM DICH UND NOCHMALS UM DICH!“

Sandra bemerkte das zornige, hochrote Gesicht und die verbitterten Züge von Stefanie Andres. Michael Wachter griff nach der Hand Stefanies und zog die Frau fort.

„Lass uns nach Hause fahren, Fannie!“ Er brüllte es regelrecht. So laut, dass sogar die Frau das Verteilen der Knöllchen stoppte und neugierig in ihre Richtung blickte.

Wachter griff nach dem Koffer. Mit schnellen Schritten rannte das Paar zum BMW. Die Frau stieg, ohne sich umzublicken, auf der Fahrerseite ein.

Sandra selbst hatte den Škoda inzwischen verlassen. Andres sah hilflos aus und schaute dem Paar hinterher. Die Fahrerin hatte inzwischen den Motor des Wagens angelassen. Dann wendete das Fahrzeug gekonnt auf der Straße. Nach wenigen Sekunden war der dunkle BMW am Ende der Unteren Sandstraße hinter einer Kurve verschwunden.

Jochen Andres stand noch immer bewegungslos seitlich der kleinen Kirche und Sandra spazierte zu ihm rüber.

„Sie war es tatsächlich, unsere Stef!“

Sandra nickte und nahm den zitternden Mann in ihre Arme. Er weinte bitterlich.

„Komm, lass uns nach Hause fahren, Jochen. Nun haben wir absolute Gewissheit: Stefanie lebt!“

*

Sandra wollte Jochen Andres unterwegs auf einen Stopp mit einer Mahlzeit überzeugen. Doch er hatte abgelehnt, saß wie ein Häufchen Elend auf dem Beifahrersitz und schien in seinen Gedanken verloren zu sein. Die Kommissarin machte sich Vorwürfe, ihn ohne vorherige Information über die Tochter damit konfrontiert zu haben. Doch sie war sich nicht sicher, ob sie selbst überhaupt mit einem Erfolg und dem Auftauchen der seit über fünfundzwanzig Jahren verschwundenen Stefanie Andres gerechnet hatte.

Beim Euro Rastpark „Dreieck Fulda“ füllte sie den Tank des Škodas auf, kaufte zwei Becher Kaffee und einige belegte Brötchen. Dazu zwei Würstchen. Andres aß still eines davon und trank den Kaffee. Aber sie schaffte es, trotz weiterer Versuche, nicht, ihn zum Reden zu bringen. Hinter Hannover fragte sie ihn erneut, ob alles gut sei.

Andres antwortete: „Mach dir keine Gedanken, Sandra. Ich muss erst alles sacken lassen, bevor ich in der Lage bin, darüber zu sprechen. Ich glaube, die erste Chance dazu muss ich Jessica geben.“

Sandra war beruhigt und ließ den ehemaligen Polizeipräsidenten kurz vor zweiundzwanzig Uhr beim Hamburger Hotel aus dem Wagen. Ohne ein Wort des Dankes oder einer Bemerkung trottete er still und mit hängendem Kopf zum Eingang.