Die Geschichte der Kommissarin
Marie-Therese Porceddu

Hast du schon einmal erlebt, wie dir jemand den Fuß in den Allerwertesten getreten hat? Eine schmerzhafte Sache und sehr unangenehm. Mich hat eine ganze Armee voller Schwachsinniger in den Allerwertesten getreten, oder zumindest in dessen Nähe.

Begonnen hatte alles mit meinem Wunsch, zur Polizei zu gehen. Ich bin Geburtsjahrgang 1993, sozusagen eine Nachzüglerin, machte 2010 Abitur im Bremer Gymnasium an der Hamburger Straße. Ein Einser-Abitur und ich war das, was man im Allgemeinen eine Streberin nannte. Ich spielte leidlich Tennis und Squash, das war es aber schon mit meinen sportlichen Leistungen. Mein Vater, ein Sarde, der in den 60ern auf Arbeitssuche nach Deutschland emigriert war, und meine Mutter, zehn Jahre jünger und gebürtige Bremerin, waren stolz. Vater, der kaum vernünftig lesen und schreiben konnte, besaß nun eine Tochter, die alles studieren konnte. Er malte es sich schon aus, wie er in seiner Heimat prahlen konnte mit dem Kind, das nun zur Frau Doktor geworden war. Doch ich wollte etwas anderes. Lange wusste ich nicht, was. Dann erzählte mir ein ehemaliger Schulkamerad von seiner Bewerbung für einen Studienplatz im Polizeivollzugsdienst. Mir gefiel der Gedanke, in Uniform für das Gute in der Welt zu kämpfen. Ich wurde mit Kusshand angenommen. Nach sechs Semestern Vollstudium besaß ich den Bachelor of Arts. Die erfolgreiche Bachelor-Prüfung galt zugleich als bestandene Laufbahnprüfung für die Laufbahngruppe 2 der Fachrichtung Polizei, und ich wurde bald Polizeikommissarin. Ab 2014 tat ich Dienst in einer Einsatzhundertschaft bei der Bremer „Direktion Einsatz“ . Demonstrationen und Fußballspiele wurden meine Leidenschaft. Aber eher verbunden mit dem Wort Leiden. Hin und wieder war ich bei Suchaktionen nach vermissten Personen dabei. Das bedeutete eine Abwechslung.

Bremen wurde mir bald zu eng. Dieses andauernde Wechselspiel zwischen Demonstrationen und Schlachten mit Ultras beim Weserstadion. Wie würde es weitergehen? Später die Veränderung in ein Bremer Polizeikommissariat? Oder in ein Fachkommissariat zur Bekämpfung des Wohnungseinbruchsdiebstahls? Sollte ich dafür das Einser-Abitur geschrieben haben? Nein! Mir wurde bewusst, ich musste hinaus in die Welt. Zumindest ein wenig. Ende 2016 schaffte ich es, nach Hamburg zu gehen. War dort bis Anfang Juli 2017 bei der Bundespolizei am Hauptbahnhof tätig. Ja, Hamburg hat mir kein Glück gebracht. Sicher wäre ich heute in Bremen zwar unglücklich, könnte jedoch noch auf meinen beiden Beinen zum Dienst laufen.

Entschuldigung, ich bin abgeschweift. Die Personalabteilung sagte mir zu, zum Landeskriminalamt Hamburg wechseln zu können. Ja, dann kam der G-20-Gipfel am 7. und 8. Juli 2017 in der Hansestadt. Ich war erfahren mit Demos und aggressiven Teilnehmern. Machte mir keinen Kopf. Wir waren 15.000 Polizisten, die dort eingesetzt wurden. Aus allen Bundesländern abgezogen und während des Gipfels überwiegend in Hotels untergebracht. Für uns Hamburger Bereitschaftskräfte blieb nur die leer stehende Flüchtlingsunterkunft im LevoPark in Bad Segeberg. Nach unserer Beschwerde schickte der damalige Erste Bürgermeister, Olaf Scholz, einen Tag vor dem Gipfel einen Senator in das Containerdorf. Er entschuldigte sich, versprach eine Umstellung der Unterkunft. Man briefte uns, bemaß der Demo jedoch kein großes Gewaltpotenzial zu. Es ist anders gekommen. Wir haben die Bilder noch in Erinnerung. Dann ging es zum Einsatz: Ich war erst einen Tag und eine Nacht bei der Elbphilharmonie im Einsatz. Anschließend brachten sie uns in irgendein Hamburger Dienstgebäude. Wir schliefen auf dem Flurboden, gingen anschließend dort duschen, wechselten die Unterwäsche. Dann ein weiterer Einsatz. Für mich waren es insgesamt 54 Stunden, bis ich ...!

Spät am Abend ging es ins Schanzenviertel. Der „Schwarze Block“ hatte sich dort gruppiert. Es war wie im Krieg. So etwas habe ich noch nie gesehen und hoffe, es auch nie wieder sehen zu müssen. Brennende Barrikaden, Hunderte Autos in Flammen, zerbrochene Scheiben, Plünderungen. Solche Bilder kannte ich nur aus dem Fernsehen. Aus Berichten über den Gazastreifen. Von Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern. Aber das Ganze hier in Hamburg, mitten in der Stadt? Es war unfassbar schlimm.

Meine Hundertschaft stand beim Gerüst des Hochhauses, über das so viel berichtet wurde. Ich musste einfach funktionieren. Ich klammerte mich an den Gedanken: Wer soll es machen, wenn nicht wir, die Polizei? Irgendwann hatten wir das Areal zurückerobert. Wie sich das anhört? Zurückerobert! Die Kollegen in den Wasserwerfern konnten Aktionen weiterer Vermummter und deren Angriffe verhindern. Die Temperatur an diesem Sommertag war extrem, auch noch in der Nacht. Dazu die schwere Ausrüstung; knapp 18 Kilo.

Wir waren alle der Meinung, den „Schwarzen Block“ zerschlagen zu haben. Plötzlich wurden hoch über uns Stimmen laut. Oben auf den Häuserdächern des Schulterblattes beschimpften sie uns. Brüllten: Bullenschweine und Schlimmeres.

Als Kollegen nach oben kletterten, wurden sie beworfen. Mit allem, was die Randalierer greifen konnten. Erst waren es nur kleinere Steine. Dann kamen die Dachziegel. Ich hatte zusammen mit drei Kollegen eine Gruppe Linker eingekesselt. Die Maskierten schlugen mit Fäusten und Baseballschlägern nach uns. Einen kräftigen Typen, etwas übergewichtig, bekam ich zu packen. Ich drückte ihn zu Boden, wollte den Kabel­binder über seine Hände legen, als sozusagen der Einschlag erfolgte. Manchmal glaube ich, die Annäherung des Dachziegels gehört zu haben. Da war zwischen Rufen und Schreien, zwischen prasselnden Flammen und dem Zerspringen von Glas so ein seltsames Pfeifen. Wie ein Indianerpfeil! Ob ich mir das einbildete? Ich weiß es nicht. Ich habe meinen Körper, das glaube ich zumindest, in dieser Sekunde noch etwas gedreht. Vielleicht hat das mein Leben gerettet? Ein Aufschlag im Genick wäre schlimmer gewesen. Es handelte sich um einen einfachen Dachziegel. So um die drei, vier Kilogramm. Sicher hat er auf seiner Flugbahn nach unten noch einiges an Geschwindigkeit zugelegt. Er schlug hinten flach auf meiner Schutzweste auf. Mir blieb sofort die Luft weg. So als drücke mir jemand den Hals zu. Dabei landete der dämliche Ziegel auf meinem Rücken. Seltsam, nicht? Die Kameraden haben reagiert. Mich weggebracht. Zum Glück war schnell eine Notärztin zur Stelle. Sie war erfahren. Im Notarztwagen ging es in die Schön-Klinik nach Eilbek. Ja, und dann das Übliche: Operation, Hoffnung, Beten. Positive Worte vom Chefarzt, Besuch der Kollegen, des Hundertschaft-Leiters und, und, und.

Wie hat Goethe gedichtet: Da steh’ ich nun, ich armer Tor, Und bin so klug als wie zuvor! Sein Protagonist hat zumindest noch gestanden!