Die Geschichte des Hauptkommissars Oliver Rouven Liebknecht

Entweder du hasst St. Pauli oder du liebst es. Dazwischen passt kein Blatt Papier. Ich wurde 1970 in Hamburg geboren, wuchs in der Budapester Straße, gegenüber dem Millerntor und dem Hamburger DOM, auf. Als ich klein war, arbeitete meine Mutter in einem Sex-Shop um die Ecke als Verkäuferin und mein Vater war ein gut gebuchter Elektriker in den Kiez-Etablissements. Wenn es darum ging, in einem Klub schnell Lampen anzuschließen oder eine Steckdose in einem Separee zu reparieren, war Papa zur Stelle. Zu der Zeit waren das noch Vertrauensjobs. Von der Putzfrau bis zum Barkeeper. Bevor jemand in einem der Sex-Klubs, Bordelle oder Bars im Rotlichtviertel angestellt wurde oder dort arbeiten durfte, wurde er auf Herz und Nieren überprüft. Manchmal sogar hinter seinem Rücken, ohne dass es der Betreffende erfuhr. Dann wurden Bekannte und Freunde besucht und ausgefragt. Oder manchmal verfolgte man ihn einige Tage, um zu sehen, wo und mit wem er verkehrte. Mein Vater hatte sich diese Vertrauensstellung über Jahre hinweg erarbeitet und nicht zuletzt, weil Mama Babsi im Sex-Toys-Video-Shop arbeitete, rief man ihn, wenn es irgendwo auf dem Kiez kabelmäßig brannte.

Ich war kein guter Schüler. Schlug mich so durch. Oft saß ich im kleinen Raum hinter der Theke, während Mama den Kunden Sex-Videos, Vibratoren oder teure Dessous verkaufte. Das machte mir mehr Spaß als zu lernen. Trotzdem schaffte ich irgendwie die neunte Klasse, ohne ein Schuljahr wiederholen zu müssen. Als man eines Nachts Mitte der 80er-Jahre meinen Vater auf dem Kiez dermaßen verprügelte, dass sein Leben über Tage an einem seidenen Faden hing, schwor ich mir, mein Leben für Gerechtigkeit einzusetzen. Klar, das hört sich jetzt extrem geschwollen an. Doch ich hatte über die Jahre meiner Kindheit und Jugend viel erlebt. Hatte viel Erfahrung, was den Kiez betraf. War es am Anfang noch das Abenteuer und der Kick, dort zu wohnen und in dem Umfeld von Nutten, Luden, Drogenabhängigen und besoffenen Sex-Touristen aufzuwachsen, wurde es mir nach und nach lästig. Wenn mich jemand mit fünfzehn fragte, wo ich wohne, erzählte ich freudestrahlend: „Auf dem Kiez!“ Mit sechzehn lenkte ich ab und gab eher zögernd ,St. Pauli‘ an.

Bevor ich 1986 die Hauptschule verließ, veranstaltete man dort eine Art ,Heiteres Beruferaten‘ . Es wurde vom Arbeitsamt Hamburg initiiert und sollte uns jungen Menschen die Berufsmöglichkeiten aufzeigen, die sich mit einem Hauptschulabschluss boten. Alle möglichen Handwerker kamen, stellten sich vor. Auch die Polizei war präsent. Ich hatte auf St. Pauli oft genug mit den Beamten der Davidwache zu tun gehabt, aber an diesen Tag war mein Berufswunsch klar: Ich wollte Polizist werden. Papa war nach dem Angriff und seiner Entlassung aus dem Krankenhaus dauerhaft arbeitsunfähig. Da die Täter nie gefasst wurden und man somit niemanden zur Rechenschaft ziehen konnte, bekam er nur eine kleine Invalidenrente. Ich nahm mir vor, später nach denjenigen zu suchen, die unserer Familie das angetan hatten.

Mit nur knapp 17 Jahren wurde ich noch als einer der letzten Polizeibeamten im mittleren Dienst eingestellt, bevor sich nach der Polizeireform die Einstellungsvoraussetzungen stark veränderten.

Als Hauptschulabsolvent war meine Ausbildungszeit auf drei Jahre festgelegt. Im ersten Halbjahr habe ich den Realschulabschluss nachgeholt. Die anschließende einjährige Grundausbildung verbrachte ich kaserniert auf der Polizeischule in einer Mehrbett-Stube. Das verlangte einiges von mir ab. Als Einzelkind war ich solch eine Gemeinschaft nicht gewohnt. Doch 1990 war die Ausbildung abgeschlossen und ich wurde in Hamburg als vereidigter Polizeibeamter eingesetzt. Zunächst beim Airport, später im Polizeikommissariat 38 in der Scharbeutzer Straße. Mein Ziel war es, irgendwann einmal bei der Hamburger Kriminalpolizei ermitteln zu dürfen, und ich machte in Abendkursen das Abitur nach. 1992 gelang mir der Laufbahnwechsel in den gehobenen Dienst.

Meine ersten Gehversuche als Ermittler führten mich schon bald zum Kriminalfall des Hamburger Säuremörders. Der gelernte Kürschner aus Hamburg-Rahl­stedt tötete 1986 und 1988 zwei Frauen auf bestialische Weise. Er löste sie in Salzsäure auf. Seine Taten blieben jahrelang unentdeckt. Sogar noch, als er eine dritte Frau 1991 nach furchtbaren Misshandlungen freiließ und danach in Haft kam. Erst ab 1992 wurde das ganze Ausmaß dieses grausamen Kriminalfalls bekannt. In seinem Garten hatte der Mörder einen unterirdischen Bunker angelegt, in dem ich damals, zusammen mit Kollegen der KTU, ermittelte.

2001 ließ ich mich nach Altona versetzen. 2007 war es endlich so weit, ich wechselte zum legendären Polizeirevier Davidwache und wurde dort im Dienstgrad eines Oberkommissars als Zivilfahnder und auch im Funkstreifendienst eingesetzt.

Ich war zurückgekehrt nach St. Pauli, dorthin, wo ich geboren und aufgewachsen war. Ein Traum war in Erfüllung gegangen. Leider starb Papa ein Jahr zuvor. Er konnte seinen Jungen in der Uniform vor der Davidwache nicht mehr erleben.

Es war wie eine Berufung. Wie, wenn der im Dschungel geborene Mowgli später dort den Beruf des Wildhüters ausübt. Ich wurde zum Wildhüter vom Kiez. Das brachte mir viele Sympathien, allerdings auch Missgunst ein. Ich war bekannt, wusste viel. So gerieten einige der Kiez­größen in Angst, als ich dort meinen Polizeidienst antrat. Doch nach und nach, so glaubte ich, spürten alle, der Liebknecht ist einer von uns. ABER ER SCHAUT NICHT WEG, SONDERN HIN. IST IMMER BEMÜHT, ES ALLEN RECHT ZU MACHEN.

In einer Nacht auf der Reeperbahn habe ich auch Sabrina, eine Touristin, kennengelernt, sie geheiratet und davon überzeugt, aus dem Ruhrgebiet nach Hamburg zu ziehen. Sabrina arbeitete nach ihrem Umzug in den Norden als OP-Schwester in der Stadtteilklinik Hamburg in der Oskar-Schlemmer-Straße. Unser Kinderwunsch blieb unerfüllt. Die Ärzte erklärten uns beide für gesund und spekulierten, es läge wohl an meinem stressigen Job auf der Davidwache. Als Sabrina, drei Jahre nach unserer Hochzeit, plötzlich doch schwanger wurde, beichtete sie mir unter Tränen, das Kind stamme vom Chefarzt der Chirurgie. Unsere Liebe zueinander war nicht stabil und ich verließ sie. Seither habe ich sie nie wieder gesehen. Ich weiß nur, sie ist zurück in ihre Heimat gezogen. Wahrscheinlich ohne den Chefarzt.

Diese Liebeserfahrung brachte mich gesundheitlich in arge Bedrängnis. Der Job auf der Reeperbahn war hart. Vor allem die Nachtschichten. Am Morgen ohne einen Menschen aufzuwachen, der einen herunterholt und auffängt, war anfangs sehr schwer. Ich trank außerhalb der Dienstzeit viel, rauchte bis zu vierzig Zigaretten pro Schicht. Auch den Sport vernachlässigte ich. Ich war mir sicher, die Lauferei in der Nacht über den Kiez ersetze jeglichen Fitness-Klub und Ausgleichssport.

Der Tag, der mein Leben veränderte, war der 25. Mai 2017, der Vatertag. Das war für uns auf der Wache immer ein besonderer Tag. Nicht im Sinne des Feierns. Eher im Sinne der Überwachung und der Polizeipräsenz auf dem Kiez. Wie gerne hätte ich auch mitgefeiert, als ich gegen 18 Uhr meinen Dienst antrat. Überall johlende Touristen, Gruppen von jungen Frauen in sonderbarer Kleidung, Männer, die den Junggesellen­abschied feierten oder sich einfach nur am Vatertag volllaufen ließen. Wir hatten die letzten Reserven aufgeboten, um Herr der Lage zu werden. Der Tag lief, wie erwartet, chaotisch ab. Die Arrestzellen waren ausgebucht und wir mussten schon auf die Nachbarkommissariate ausweichen, um die volltrunkenen Randalierer unterzubringen. Erst nach drei Uhr am Morgen wurde es ruhiger. Nur noch handverlesene Etablissements hatten geöffnet. Die anderen Klubs hatten gutes Geld eingenommen und rechtzeitig, bevor der Ärger mit Betrunkenen zu groß wurde, ihre Türen geschlossen.

Um 03.17 Uhr erhielten wir einen Anruf aus dem Strip-Klub Bizarre . Das Etablissement war bekannt für seine Öffnungszeiten rund um die Uhr. Aber auch dafür, dass Prügeleien auf der Tages- bzw. Nachtordnung standen. Man meldete uns eine Gruppe Männer, die ihre Zeche nicht bezahlen wollten. Es habe sich eine handgreifliche Auseinandersetzung zwischen den Männern, dem Inhaber und den Türstehern entwickelt. Blut sei auch geflossen, teilte man uns mit. Solche Anrufe trieben meinen Blutdruck schon lange nicht mehr hoch.

Mich begleitete Kommissar Ben Steher, ein 29-Jähriger aus „Meckpom“, der schon zwei Jahre hier auf der Davidwache Dienst tat. Ben war einer derjenigen Kollegen, die wenig sprachen. Genau das mochte ich an ihm. Schwätzer waren mir zuwider. Auf der Nachtstreife über den Kiez quatschte uns eh jeder an. Da war es gut, einen Kollegen an der Seite zu haben, der den Mund hielt. Schnell hatten wir unsere Ausrüstung angelegt und waren innerhalb weniger Minuten beim Klub Bizarre angekommen.

Die Schlägerei hatte sich inzwischen nach draußen verlagert. Diverse Zuschauer auf der Straße und aus anderen Kneipen waren dazugeeilt, um daran teilzuhaben.

Der normale Vorgang bei solchen Auseinandersetzungen war, dass einer der Polizeibeamten sich um die Männer kümmerte und der zweite den Kollegen sicherte. Bei Bedarf waren wir per Funk ausgerüstet. Wir konnten in wenigen Minuten Unterstützung rufen. Als ich in die Menge trat, blendete ich die Zwischenrufe wie ,Achtung, die Bullen kommen‘ gänzlich aus. Ich packte zwei der Streithähne, zog sie auseinander, schrie sie an aufzuhören. Normalerweise reichte das, um die Aufmerksamkeit der benebelten Männer auf mich zu richten, sie zu trennen. Doch hier war so viel Wut. Auch Alkohol war im Spiel, sodass ich sofort spürte, mit der Alltagsprozedur komme ich heute Nacht nicht weiter. Ich schrie Ben zu, die Bereitschaft zu aktivieren, glaubte, seine Funkanweisungen mit einem Ohr hören zu können. Wie auf Kommando lösten sich die Streithähne. Auch die Menge trat etwas zurück. Erst jetzt sah ich, dass es sich bei der Besuchergruppe um verkleidete Männer handelte. Sofort schossen mir Bilder der alten Winnetou-Filme durch den Kopf, denn zwei trugen Federschmuck. Weitere hatten Cowboyhüte auf und dazu Westen mit Sheriffsternen. Es war plötzlich ruhig geworden und ich sah mich einem Typen mit riesigem Cowboyhut gegenüber, der leicht schwankend wenige Meter vor mir stand. Die Menge begann zu toben. Ich verstand nicht, wartete angespannt auf Verstärkung. Plötzlich zog mein Gegenüber einen Revolver aus einem Holster und hob ihn langsam bis in Höhe meines Gesichts an. Die Menge grölte laut: „Schieß den Bullen ab!“ Ich entschloss mich, zur Sicherheit meine Waffe zu ziehen. Die P99 Q war entsichert, durchgeladen und somit schussbereit. Ich war mir nicht ganz bewusst, wie ich die Situation beurteilen sollte, schaute mehrfach nach hinten, wo ich weitere Kollegen der Wache erwartete. Der Gaffer-Trupp war hinter mir zusammengerückt. Noch während ich den Angreifer anwies, seine Waffe fallen zu lassen, spürte ich einen Tritt im Kniegelenk. Ich knickte mit dem Bein ein, strauchelte, dabei zog ich wohl unbeabsichtigt den Abzug der Waffe, es fiel plötzlich ein Schuss. Es war mir, als bliebe die Zeit stehen. In all den Jahren bei der Polizei und den zahlreichen Dienststunden mit der Waffe gab es nie einen Zwischenfall. Heute, an diesem Vatertag, löste sich ungewollt ein Schuss. Ich sprang auf die Beine und blickte in die schweigende Menge. Erst schien alles in Ordnung zu sein. Der Typ stand noch immer vor mir – nur kreidebleich. Doch er sah nicht zu mir, nein, alle schauten ... auf eine Frau, die sich seitlich am Boden krümmte.

ICH HATTE IN DIESER NACHT EINE 27-JÄHRIGE BARFRAU ERSCHOSSEN.

Doch es kam noch schlimmer. Als der Schock abklang, der Krankenwagen und die Kollegen eintrafen und man mich zur Seite brachte, erlitt ich einen doppelwandigen Herzinfarkt. Der hohe Stress in der Nacht, die innere Anspannung sowie das Erlebte selbst waren zu viel für mein Herz. Es machte im wahrsten Sinne des Wortes schlapp. Mein Glück war der Notarztwagen, der zugegen war. Dem Notarzt war sofort klar, der jungen Frau war nicht mehr zu helfen. Aber mir, dem Beamten. Sie leiteten alles Notwendige ein, schafften es, mein Herz zu stabilisieren.

Ich wurde später vom Totschlag im Dienst freigesprochen. Mein Kollege Ben Steher konnte bestätigen, dass mich eine fremde Person von hinten angegriffen und zu Fall gebracht hatte.

Nach Reha und Kur besuchte ich ein Jahr später die Familie des toten Mädchens in Polen. Sie machten mir zum Glück keinerlei Vorwürfe.

Das Erlebnis ist nun fünf Jahre her. Ich hatte mir vorgenommen, nie wieder eine Waffe zu tragen. Das hört sich seltsam an für einen Polizeibeamten. Auch die Vorgesetzten sahen das voller Skepsis. Doch der Polizeipsychologe unterstützte meinen Wunsch bis hin zur höchsten Instanz. So kam ich über diverse und langweilige Bürojobs zur Arbeitsgruppe UKF (Ungeklärte Kriminalfälle). Ich hörte davon und habe mich sofort angeboten. Ja, und es hat geklappt.