Angst ist überlebenswichtig. Da dieses Gefühl unser Überleben sichern will, ist es viel schneller als unser rationaler Verstand. Die Angstzentrale in unserem Kopf bereitet uns blitzschnell auf eine schwierige Situation vor, ohne vorher Rücksprache mit der Vernunftzentrale in unserem Kopf gehalten zu haben. Die Vernunftzentrale ist definitiv langsamer in ihrer Arbeit. Dies hat wiederum ganz logische Gründe: Wenn ein Tiger vor dir steht, muss zuerst die Angstzentrale »Alarm!« schreien und alle notwendigen Schritte einleiten. Du wirst auf Kampf oder Flucht vorbereitet, alles muss ganz schnell gehen, denn: Du willst ja überleben.
Wenn zuerst die Vernunftzentrale befragt wird und du erst mal überlegst: Wie groß ist der Tiger eigentlich? Habe ich das passende Schuhwerk zum Weglaufen an? Warum habe ich heute morgen nicht die Laufschuhe angezogen? Sind Tiger eigentlich Fleischfresser? Was hat meine Biologielehrerin erzählt? Sieht der Tiger so aus, als ob er schon gegessen hat? … Dann wirst du wahrscheinlich nicht überleben.
Es ist wichtig zu wissen, dass Angst ein enorm »schnelles« Gefühl ist.
Wenn uns etwas gefährlich oder bedrohlich vorkommt, ist die Angst sofort zur Stelle und leitet im Körper alle erforderlichen Maßnahmen ein. Ohne, dass das auf der Vernunftebene Sinn ergeben muss und überprüft wird. Die Vernunft wird erst später dazu befragt. Und das ist prinzipiell gut so und sichert unser Überleben.
Wie ist das aber für Menschen mit starken Ängsten? Für sie ist dies ein schwieriger Punkt. Wenn wir gerade starke Angst haben, kann unser Gehirn weniger auf die anderen Areale, wie zum Beispiel den Bereich für das rationale Denken, zugreifen. Die Areale, die für Angst und das Überleben wichtig sind, sind aktiv. Angst hat Vorrang. Weil sie ja das Überleben sichert. Darum beschreiben viele, dass es während einer Panikattacke oder tief in Angstgedanken versunken einfach nicht möglich ist, eine rationale Außensicht dazu zu bekommen.
Warum so viel Angst? Es ist doch unlogisch!
Vielleicht kennst du das von dir auch, dass du dir in einem ruhigen Moment denkst, wie es denn überhaupt dazu kommen kann, dass du so panisch wirst, wenn doch gar keine Gefahr droht. Wenn es uns gerade gut geht, können wir manchmal gar nicht nachvollziehen, warum wir uns »so anstellen« oder so »hineinsteigern«. Wenn unser rationales Denken aktiv ist, ist es für uns völlig logisch, dass wir in Sicherheit sind, dass alles gut ist und wir nicht sofort an einem Herzinfarkt sterben werden. Eine Stunde später, wenn uns die nächste Panikattacke überfallen hat, ist das logische Denken wie weggeblasen und unsere Ängste so real, dass wir glauben, im selben Moment zu sterben oder verrückt zu werden.
Mach dir also klar, dass du nicht zu schwach oder zu doof bist, weil du nicht gegen die Angst ankommst. Nein, definitiv nicht. Es ist der Job der Angst, dass sie ganz schnell und ganz intensiv ist. Denn sie will dich ja warnen und zum Handeln verleiten – und das megaschnell.
Darum können wir uns noch so fest und oft vornehmen, dass wir beim nächsten Mal etwas ruhiger und gelassener bleiben, die Angst reißt uns wieder mit in ihren Bann. Und wenn der Angsttornado dann vorübergezogen ist, sitzen wir wieder fassungslos und bedrückt da und fragen uns, wie wir es so weit kommen lassen konnten. Wenn wir uns doch vorgenommen hatten, dass wir es diesmal anders machen.
Jedes Mal dasselbe Spiel. Es ist nicht deine Schuld.
Lies den letzten Satz noch mal … Genau darum werden wir uns in diesem Kapitel Übungen ansehen, mit denen wir Schritt für Schritt wieder in das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zurückfinden. Und wie wir die Areale in unserem Gehirn, die für das logische Denken zuständig sind, wieder aktivieren können. Aber vorerst noch etwas zu dem Thema, warum wir immer schneller in Ängste einsteigen, je länger sie uns begleiten.
Was passiert, wenn wir oft Angst haben?
Das Doofe an der Angst ist auch, dass sie immer schneller wird, immer noch öfter »Alarm« schreit und ihr Programm startet. Man könnte sagen, je länger man an Ängsten leidet, umso pflichtbewusster ist unsere Angstzentrale im Kopf, der innere Bodyguard. Je öfter dich dein innerer Wächter vor Gefahren schützen musste, umso sensibler wird er in seiner Arbeit – manchmal viel zu sensibel. Wenn er die kleinste Kleinigkeit wahrnimmt, die in irgendeiner Form auf eine Bedrohung hinweisen könnte, wirft er sich auf dich und reißt dich nieder, damit du keine Zielscheibe für andere werden kannst. Er bewertet aber ganz viele Situationen als Gefahr, die überhaupt nicht gefährlich sind. Nur weil ihm irgendetwas komisch vorkommt oder an eine andere Gefahrensituation erinnert. Man könnte also sagen, er ist zu pflichtbewusst und nimmt seinen Job zu ernst. Bald kannst du nichts mehr genießen, weil dein Bodyguard überall Bedrohung wittert. Dann reicht schon eine Geschichte über einen Todesfall aus den Nachrichten, die Erzählung eines Nachbarn über eine Krankheit oder die Erinnerung an ein schwieriges Erlebnis aus deiner Vergangenheit und dein Bodyguard beginnt pflichtbewusst seine Arbeit. Oder er bemerkt eine körperliche Empfindung wie Hitze oder ein Unwohlsein im Magen, das er von einer früheren Angstsituation kennt, und schon startet er sein Programm. Und du steigst schneller und schneller in diesen Angstkreislauf ein.
Wenn wir oft Angst haben, wird dieses Gefühl leider immer mächtiger und manchmal haben wir den Eindruck, unser Tag besteht nur mehr aus der Angst und Panik. Unser Alltag wird dadurch richtig mühsam. Vielleicht kennst du auch das Gefühl, ständig in der Lauerstellung zu sein, ob denn wieder die Angst auftaucht. Und so doof sich das jetzt anhören mag, aber wir können uns Angst auch »antrainieren«. Das soll jetzt nicht heißen, dass wir das freiwillig oder bewusst machen, auf keinen Fall. Aber Gefühle, die wir oft fühlen, tauchen öfter auf.
Du kannst dir unser Gehirn und die Nervenbahnen, auf denen Informationen hin- und hergeschickt werden, wie Trampelpfade vorstellen. Und gehen wir jetzt mal davon aus, dass du gerade in einem Wald spazieren gehst, den du nicht kennst. Vor dir, hinter dir, links von dir und rechts von dir nur Bäume. Welchen Weg würdest du gehen? Irgendwo blindlings hinein in den Wald ohne Orientierung? Auf einem unwegsamen Gelände mit Dornen und Matsch und Hindernissen? Oder würdest du den ausgetrampelten Pfad gehen, auf dem wahrscheinlich schon viele Menschen vor dir gegangen sind? Der so ausgetrampelt ist, dass sich dir ein Weg zeigt, auf dem man super laufen kann, und der wahrscheinlich aus dem Wald hinausführt? Nun, du kennst die Antwort selbst.
Und unser Gehirn arbeitet ganz genauso. Es möchte den einfachsten Weg gehen. Den ausgetretenen Trampelpfad. Das ist der einfachste, der schnellste, den es schon kennt. Und so fällt es unserem Gehirn immer leichter, diesen Angstweg einzuschlagen. Denn unser Gehirn überlegt nicht, ob das jetzt gerade gut für uns ist, sondern die Frage ist: Was kenne ich schon? Was geht schnell? Es kann also immer schneller in diese Angstnetzwerke einsteigen. Deshalb wird es in diesem Kapitel auch darum gehen, wie man neue Wege einschlagen kann.
Was ist auf der Gefühlsebene zu tun?
Hier ist es einerseits wichtig zu lernen, wie wir ruhiger und gelassener damit umgehen können, wenn Angst und Panikzustände auftreten. Wenn also unser innerer Bodyguard wieder lossprintet, weil er eine Bedrohung wittert. Wir dürfen daran arbeiten, mit welcher Haltung wir der Angst und den damit verbundenen Zuständen begegnen. Begegnen wir der Angst unterwürfig und ehrfürchtig, hat sie leichtes Spiel. Denn die Angst lebt davon, dass jemand Angst vor ihr hat. Und dass wir ihr glauben. Das macht sie stark. Und dies gilt es zu ändern.
Andererseits ist es essenziell, wieder andere Gefühle in uns zu etablieren, nämlich Sicherheit, Geborgenheit, Leichtigkeit und innere Ruhe. Denn natürlich kann es wichtig sein zu wissen, welches Gefühl wir nicht mehr in unserem Leben haben wollen. Aber weitaus wichtiger ist es, sich mit den Gefühlen zu beschäftigen, die sich gut anfühlen und von denen wir mehr haben wollen. Wir wissen ja: Alles, worauf wir unseren Fokus richten, wird stärker – das gilt auch für die positiven Dinge. Wir dürfen also neue Pfade gehen und die alten Trampelwege der Angst verlassen. All das schauen wir uns gemeinsam in den kommenden acht Kapiteln an. Legen wir los!