Tool #11: Alles, was da ist, da sein lassen

Wir Menschen haben die Angewohnheit, dass wir Unangenehmes »weg« haben wollen. Ist ja auch logisch. Wer hat schon gern Kopfweh? Wer hat gern Beziehungsprobleme? Oder einen stressigen Tag? Wer hat gern Angst? Wohl die wenigsten.

Wenn wir etwas »weg« haben wollen, dann wehren wir uns dagegen. Mit Händen und Füßen. Wir kämpfen dagegen an. Mit all unserer Kraft. Wir stemmen uns dagegen, wenn die Angst an die Tür klopft, und schieben noch den Kleiderschrank davor und die Kühltruhe und den Stuhl und das Bücherregal, die Topfpflanze, Wäschetonne, das Töpfeset und die Sockenkiste. Genauso machen es eigentlich die meisten.

Und dann tun wir so, als würde niemand vor der Tür stehen. Obwohl die Angst immer lauter und immer bedrohlicher gegen die Tür hämmert. Und das Bücherregal und die Wäschetonne schon bedrohlich wackeln. Je lauter die Angst wird, umso mehr Möbelstücke schieben wir vor die Tür und umso mehr verhalten wir uns so, als wäre niemand da draußen. Wir lenken uns ab. Denken an etwas anderes.

Warum verhalten wir uns so? Wahrscheinlich haben viele schon erlebt, wie es ist, die Tür unvorbereitet zu öffnen. Und kaum mit dem Angsttornado fertigzuwerden, der über sie hinweggefegt ist. Und wenn er dann doch weitergezogen ist, war da nur Verwüstung in uns. Erschöpfung. Und die wahnsinnige Angst davor, dass dies noch mal passiert. Und darum verriegeln wir die Tür zehnfach, stellen alles Mögliche davor und machen es uns zur Lebensaufgabe, darauf zu achten, dass die Angst auf keinen Fall mehr durch diese Tür kommt. Genau das macht die Angst aber größer. Je mehr wir uns gegen etwas wehren, umso mehr Adrenalin wird in unserem Körper produziert. Denn der stellt sich schon wieder auf Kampf oder Flucht ein. Dies bedeutet, dass wir eben nicht zur Ruhe kommen und dadurch in diesem Angstgefühl stecken bleiben. Indem wir die Angst vor der Tür stehen lassen, verdrängen wir sie. Dadurch verschwindet sie aber nicht. Sondern huscht bei der nächstmöglichen Gelegenheit herein, wenn wir unachtsam sind und die Tür einmal kurz nicht im Blick haben.

Mal was ganz anderes machen

Hast du dir überlegt, was passiert, wenn du die Tür sperrangelweit aufmachst? Wenn du dich dann in aller Ruhe auf das Sofa setzt und der Angst sagst: »Komm herein! Ich habe keine Angst mehr vor dir!«

Ich weiß jetzt genau, was du zu dieser Idee sagst. Wahrscheinlich so was in der Art wie: »Ich bin doch nicht verrückt und lasse dieses Gefühl freiwillig herein! Ich bin doch nicht lebensmüde! Schon beim Lesen wurde mir angst und bange!«

Tatsächlich sagen das die meisten, die zum ersten Mal von dieser Idee hören. Und ich würde auch niemandem mit sehr starken Ängsten raten, sofort die Tür aufzureißen, wenn man noch nicht einmal weiß, mit welcher Haltung das passieren soll. Aber denken wir den Gedanken erst mal zu Ende.

Was passiert, wenn wir die Angst einladen? Sie wird alles vereinnahmen. Deine Gedanken, deine Gefühle, deinen Körper. Sie wird sich ausbreiten, sich bei dir einnisten und alles an sich reißen, was dir wichtig ist. Und was ist dein Part? Du tust einfach nichts. Du beobachtest einfach nur. Völlig neutral und wertfrei. Mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass Angst nur ein Gefühl ist. Sie wird dir Horrorgedanken an und in den Kopf werfen. Und du reagierst einfach nicht darauf. Sie wird dir furchteinflößende Gefühle präsentieren. Und du reagierst einfach nicht darauf. Sie wird dir fiese Körpersignale bescheren. Und du reagierst einfach nicht darauf. Du akzeptierst alles, was kommt.

Lass das einmal kurz sacken.

Atme ein und atme aus.

Hast du gerade gemerkt, wie sich dein Körper entspannt? Oder befindest du dich noch in der Schockstarre, dass ich dir so eine Idee vorschlage? Lass dir Zeit. Wenn eine Idee ganz neu ist, darfst du dir Zeit geben, sie einmal fertig zu denken. Du musst nichts tun. Du sollst sogar einfach nichts tun.

Die Angst hat nur so viel Macht in deinem Leben bekommen, weil du diese Gedanken geglaubt hast. Weil du diese Gefühle für wahr gehalten hast. Weil du die Körpersignale für bedrohliche Symptome gehalten hast.

Ab heute akzeptierst du alles, was kommt. Wenn die Angst kommt, dann mach ihr die Tür auf und sei die Ruhe selbst.

Glaub mir, anfangs wird sie dich rütteln und schütteln, um irgendeine Reaktion von dir zu bekommen. Und du machst einfach nichts. Du lässt sie zu. Du lässt sie da sein. Akzeptierst sie. Atmest einfach ruhig weiter. Hörst auf zu kämpfen, auch wenn du den Impuls dazu in dir spüren würdest. Sie kann dir nichts tun. Es ist total unangenehm. Du wirst sie spüren. Vielleicht sogar richtig intensiv. Aber es kann dir nichts passieren.

Angst ist nur ein Gefühl. Lass sie durch dich hindurchfließen. Vertrau deinem Körper. Er kann in den Ruhemodus zurückkehren. Wenn du dich ihm nicht in den Weg stellst. Wenn du nicht gegen etwas kämpfst. Wenn ein Angstgedanke kommt – nimm ihn wahr und lass ihn einfach ziehen. Wenn ein intensives Gefühl kommt – nimm es kurz wahr und lass es ziehen. Wenn eine Körperempfindung kommt – nimm sie kurz wahr und lass sie ziehen. Du bleibst in der Haltung der völligen Akzeptanz. Egal, was kommt, lass es da sein. Alles, was kommt, kommt. Je weniger wir uns dagegen wehren, umso leichter fließt alles wieder ab. Umso leichter zieht alles vorbei.

Und noch mal zum Verständnis: Das bedeutet nicht, dass die Angst gleich weg ist, wenn du diese Übung das erste, zweite, … zehnte Mal anwendest. Da wird Angst sein. Da wird Panik sein. Es wird unangenehm sein. Akzeptiere auch das. Akzeptiere die Angst. Akzeptiere die unangenehmen Gefühle. Akzeptiere die Panik. Sie können dir nichts anhaben, wenn du Ja zu ihnen sagst. Sie können dich nur so lange quälen, solange du Nein zu ihnen sagst und sie von dir weghältst. Dann werden sie immer lauter. Sag also Ja zu ihnen und entspanne vollkommen. Lass alles da sein. Lass alles zu. Und atme ruhig.

Das dauert einige Zeit. Hier sollte man nicht ungeduldig werden und nach wenigen Minuten abbrechen. Es ist wirklich wichtig, über diesen Punkt hinauszukommen, wo die Reaktionen des Nervensystems wieder umkehren, langsam abebben und zur Ruhe kommen. Dann lernt dein Nervensystem.

Und was bleibt dann? Ruhe. Gelassenheit. Vielleicht auch Erschöpfung. Und eine Zufriedenheit. Es geschafft zu haben, nicht auf den Zug der Angst aufgesprungen zu sein. Es geschafft zu haben, in Ruhe ihre Vorgehensweise zu beobachten. Und dann zu spüren, wie man innerlich ruhiger und ruhiger wird, bis die Angst ganz weg ist. Ich wünsche dir von Herzen, dass du diesen Zustand immer öfter erreichen kannst.

Und noch was: Überfordere dich nicht. Angstbewältigung geschieht nicht über Nacht. Es geht nicht darum, jede hier dargestellte Übung sofort durchzuführen, wenn du sie gelesen hast. Es geht vielmehr darum, dich mit diesen Überlegungen vertraut zu machen. Sie dir in deinem Leben immer wieder vor Augen zu führen. Und sie dann zum passenden Zeitpunkt einzusetzen, wenn du bereit dazu bist.

Merk dir das

Sich gegen die Angst zu wehren, macht sie stärker. Ein Teufelskreis. Auch wenn die Angst kurzfristig kleiner wird, kommt sie oft mit einer noch größeren Wucht zurück. Die Angst zuzulassen ist für viele Menschen die größte Überwindung. Weil sie denken, sie sind ihr dann ausgeliefert. Aber das Gegenteil passiert. Wir lassen sie zu und gleichzeitig nehmen wir alles an, was kommt. Mit Gelassenheit. Wir drehen uns nicht in der Angstspirale mit, bleiben selbst völlig ruhig. Lassen uns nicht mehr von ihr mitreißen. Dies bedeutet Freiheit. Denn wir haben keine Angst mehr vor der Angst. Und sie hat keine Macht mehr über uns.

Nimm dir diese Gedanken mit

Probiere das aus

Wenn du das nächste Mal bemerkst, dass Angst auftaucht und du in den Widerstand gehst, halte kurz inne. Nimm wahr, dass du die Angst gerade abwehren möchtest. Ein ganz natürlicher Reflex. Und nun wechsle mit einer Portion Selbstvertrauen in die Ja-Haltung. Atme dabei ruhig. Die Angst darf da sein. Vertraue darauf, dass dein Körper mit allem umgehen kann, was auf ihn zukommt. Du kannst mit jedem Gefühl umgehen. Gib die Kontrolle auf. Du kannst das. Du musst dazu gar nichts tun. Akzeptiere gelassen alles, was kommt und was sich zeigt. Du sagst Ja dazu. Bleib in dieser gelassenen Ja-Haltung, bis du bemerkst, dass sich dein Nervensystem wieder in Richtung Ruhe bewegt.