Ich habe dir in diesem Kapitel schon von zwei Haltungen erzählt, wie du der Angst gegenübertreten kannst: die der Akzeptanz und die der Wurschtigkeit. Und es gibt noch eine Haltung, die ich wichtig finde. Damit du jetzt nicht verwirrt bist, warum es so viele Haltungen gibt: Es gibt unterschiedliche Ängste und unterschiedliche Tagesverfassungen von dir. Und es passt vielleicht nicht jede Haltung zu jeder Angst. Und es passt nicht jede Haltung an jedem Tag. Außerdem fließen die Haltungen ja auch irgendwie ineinander. Hol dir für dich das Wertvollste aus den Haltungen heraus und bastle deine eigene Haltung zusammen. Möglich ist auch die Draufgänger-Haltung.
Ein Draufgänger ist eine Person, die »auf etwas losgeht«, sich nicht abhalten lässt und die sich ohne zu zögern auch gefährlichen Aufgaben stellt. Draufgänger sind Menschen, die sich spontan schwierigen Herausforderungen stellen. Sie haben ein Ziel vor Augen und denken wenig an die Gefahren, die dabei lauern können. Ein Draufgänger hat keine Angst. Ein Draufgänger »macht einfach«.
Sind ängstliche Menschen Draufgänger? Nein, definitiv nicht. Menschen mit Ängsten und Panikzuständen machen eigentlich genau das Gegenteil von dem, was ein Draufgänger tun würde: Sie gehen meistens sehr vorsichtig durchs Leben. Sie tun nichts, wobei man in Gefahr kommt. Sie tun möglichst nichts, das zu einer Panikattacke führen kann. Sie sprechen über nichts, was die Ängste schürt. Sie vermeiden Situationen, die ihnen gefährlich werden könnten. Sie vermeiden Situationen, vor denen sie Angst haben. Am liebsten würden sie sich selbst und alle ihre Liebsten in Watte packen und in einen vollständig abgesicherten Bereich sperren, in dem niemals etwas passieren kann.
Doch du weißt, was dann passiert: Die Ängste werden noch größer. Es werden noch mehr Horrorszenarien in ihrem Kopf auftauchen und sie werden das Gefühl haben, dass sie sich noch mehr schützen müssen. Weil es immer irgendetwas gibt, vor dem sie Angst haben können. Und wenn die eine Gefahr beiseitegeschafft ist, taucht in den Köpfen von ängstlichen Menschen schon die nächste auf. Der Fantasie sind da keine Grenzen gesetzt.
Warum ist das so? Wenn wir alles vermeiden, werden wir nie die Erfahrung machen, dass wir stark genug sind, uns unseren Ängsten stellen zu können. Wir werden nie die Erfahrung machen, dass Dinge gut ausgehen können. Richtig gut sogar. Wir bekommen kein Selbstvertrauen, dass wir etwas schaffen können. Wir werden nie erfahren, dass wir Schwierigkeiten überwinden können. Wir werden nicht erleben, dass wir an den Herausforderungen gewachsen sind.
Wir werden nie die Erfahrung machen, dass die Angst nicht recht hatte mit ihren Horrorgeschichten.
Vermeidung von Angstsituationen und Angstgedanken führt also nicht dazu, dass wir uns sicherer fühlen. Ganz im Gegenteil. Meist werden wir noch unsicherer. Und das schürt wiederum unsere Ängste. Weil wir dadurch der Angst immer wieder recht geben. Indem wir vieles vermeiden, sagen wir der Angst indirekt immer wieder: »Ja, stimmt, ich tue das lieber nicht, da könnte etwas Schlimmes passieren.« Das heißt, wir bestätigen die Ansichten der Angst immer und immer wieder. Und deswegen bleibt sie.
Neue Haltung – neue Erfahrung
Wenn du schon länger mit einer ängstlichen Haltung durchs Leben gehst, dann wird sich das Folgende anfangs noch ungewöhnlich anfühlen. Aber vielleicht kannst du dich für den Moment einfach einmal gedanklich darauf einlassen.
Stell dir einmal vor, du würdest einer kleineren Angst von dir mit einer Draufgänger-Haltung begegnen. Du musst ja nicht gleich mit der allergrößten Angst beginnen. Also: komplett lässig. Kopf hoch, Schultern zurück, Brust raus. Voller Selbstvertrauen. Du bist hier der Boss. Vielleicht schiebst du dir noch einen Weizenhalm zwischen die Zähne, ziehst dir die Krempe deines Cowboyhuts etwas tiefer ins Gesicht und strotzt nur so vor Selbstbewusstsein (muss ja niemand wissen, dass dir die Knie schlackern).
Es geht darum, dass du diese Stärke in dir förmlich spürst. Diese Lockerheit. Die Lässigkeit. Eine Selbstverständlichkeit, mit der du an Dinge herangehst. Als wenn du es nie anders gemacht hättest. Eine Verspieltheit. Und eine Power, die du im ganzen Körper spüren kannst. Und auch, wenn du dir diese neue Haltung selbst noch nicht ganz abnimmst – tu einfach mal so, als hättest du sie schon. Leg ein Selbstbewusstsein und eine Klarheit gegenüber deinen Ängsten an den Tag, wie es deine Ängste noch nie erlebt haben. Du wirst sehen, die werden mit den Ohren schlackern.
Und überprüfe für dich: Wie verändert sich deine Stimmlage? Wahrscheinlich würdest du jetzt laut und klar und deutlich sprechen. Wie verändert sich dein Gang? Du würdest fest am Boden stehen oder zielstrebig gehen. Wie verändert sich deine Einstellung? Du würdest fest davon überzeugt sein, dass du das schaffst. Dass du die Dinge anpackst. Da gibt es kein Hadern und kein Zweifeln.
Und wie stehst du zur Angst? Du wärst felsenfest davon überzeugt, dass es auch eine andere Meinung gibt als die, die dir die Angst vorgaukelt. Du weißt, dass es glückliche Momente ohne Angst gibt, dass du voller Zuversicht sein kannst und eine unerschütterliche Stärke in dir fühlst.
Und wenn du dich in diese Draufgänger- oder Powerhaltung schon etwas einfühlen konntest, dann hol jetzt mal die Angst dazu und tritt ihr mit dieser Stärke und mit dieser Kraft gegenüber. Spüre die Klarheit in dir. Spüre deine Power.
Wie fühlt sich das an?
Merkst du einen kleinen Unterschied? Bemerkst du, dass du dich nicht mehr so klein fühlst, wenn du ihr gegenüberstehst? Bemerkst du, wie dich das plötzlich stark werden lässt? Kannst du sehen, dass sich die Angst plötzlich ein bisschen verändert? Dass sie sich vielleicht nicht mehr ganz so groß und unüberwindbar anfühlt. Vielleicht ist sie sogar einen kleinen Schritt zurückgewichen. Und das kennst du vielleicht gar nicht von deiner Angst, die immer so dominant aufgetreten ist und keine Widerworte zugelassen hat. Und weißt du, warum sie sich gerade verändert? Weil du dich verändert hast.
Verändere du deine Haltung und die Angst wird sich verändern
Die Angst hat immer nur so viel Macht, wie du ihr gibst. Und vielleicht ist es für den Anfang nur ein kleiner Funken, den du gerade gespürt hast. Ein kleiner Ansatz davon, dass du bemerkt hast, dass das alles doch nicht ganz so ist, wie die Angst immer sagt. Aber an diesem Funken kann man ansetzen. Denn ich weiß, wenn man schon jahrelang an Ängsten leidet, verschwinden die nicht über Nacht. Aber es geht darum, sich Schritt für Schritt sein Leben zurückzuholen. Irgendwo müssen wir ja anfangen. Und die Haltung der Angst gegenüber kann ein enorm wichtiger Punkt sein. Denn die Draufgänger-Haltung bedeutet auch, der Angst zu vermitteln: Ich glaube dir nicht mehr alles, was du sagst. Ich tue nicht mehr alles, was du sagst. Und: Ich bin ab sofort wieder der Boss. Ich bin wieder der Chef, die Chefin in meinem Kopf und ich bestimme, wo es langgeht. Ich nehme mein Leben wieder in die Hand. Ich möchte wieder die Dinge machen und unternehmen, die ich gern machen möchte. Ich möchte wieder locker und ausgelassen sein. Ich möchte mich wieder freuen können. Ich lasse mir nicht mehr von dir diktieren, wo es in meinem Leben langgeht.
Hinterfrage mal all die kleinen Glaubenssätze, die dir die Angst eingepflanzt hat. Hinterfrage mal alles, das du wegen der Angst vermeidest. Hinterfrage alle Dinge, die du wegen der Angst nicht machst. Willst du wirklich so leben? Willst du der Angst weiterhin jeden Blödsinn glauben? Willst du weiterhin die Angst bestimmen lassen, was du in deinem Leben machen darfst und was nicht?
Hol dir dein Leben zurück. Hol dir deinen Mut, deine Kraft und deinen Tatendrang zurück!
Dafür kann die Draufgänger-Haltung enorm hilfreich sein. Diese Haltung sagt auch: Ich habe nichts zu verlieren. Ich gehe jetzt einfach drauflos, ohne Rücksicht auf Verluste. Ich mache das jetzt einfach und schaue, was passiert.
Denn seien wir mal ehrlich: Es ist nur Angst. Nichts weiter. Sorry, aber du lässt von einem lächerlichen Gefühl dein Leben bestimmen? Echt jetzt? Wie lange willst du das noch machen?
Und nicht, dass du mich jetzt falsch verstehst – ich weiß genau, wie überzeugend die Angst sein kann. Und wie real sie sich anfühlt. Aber ich weiß auch, wie viele Lebensjahre man verlieren kann, die man voll Angst verbringt. Und darum sollen diese Zeilen keine Anklage sein, sondern ein Aufrütteln, ein Wachrütteln. Du hast es so was von verdient, dass du ein entspanntes und glückliches Leben ohne Angst und Panik führst. Und darum packen wir das jetzt an. Sei ein Draufgänger, eine Draufgängerin!
Und hol dir eine Selbstverständlichkeit in dein Leben zurück. Und mit Selbstverständlichkeit meine ich, dass du auf eine angsteinflößende Situation zugehst, als wenn da nie Angst gewesen wäre. Denn die Angst gaukelt dir etwas vor. Und versteh mich bitte nicht falsch: Angst hat ihre Berechtigung, das hast du von mir schon einige Male gelesen. Aber bei Ängsten, die zu Erkrankungen ausarten, hat die Angst keine Schutzfunktion mehr. Denn wenn du zum Beispiel Panikattacken im Supermarkt bekommst, wovor genau will dich die Angst da schützen? Ist das eine sinnvolle Angst? Die dich von etwas Gefährlichem zurückhält? Definitiv nicht! Sie hat ein Eigenleben entwickelt. Hat sich automatisiert. Und da kann es wichtig sein, sich eine Powerhaltung zuzulegen, wie ein Draufgänger, der keine Angst kennt. Der mit einer Selbstverständlichkeit an die Sache herangeht. Da es im Supermarkt EINFACH KEINE GEFAHR GIBT. PUNKT. AUS. BASTA. ENDE.
Merk dir das
Die Angst lebt davon, dass wir Angst vor ihr haben. Dass wir uns klein machen. Dass wir ihr glauben. Dadurch wird sie mächtiger und größer. Tritt deiner Angst mit einer anderen Haltung gegenüber. Auch wenn dir die Knie schlottern: Schau sie an und schwelle deine Brust. Zeig ihr ab heute nicht mehr, dass du Angst vor ihr hast. Du zeigst ihr ab heute, dass du stärker bist. Dass du dir dein Leben zurückholst. Mach dir klar, dass sich die Angst verändert, wenn du dich veränderst. Schultern zurück und Brust raus. Los geht’s. Wir schaffen das.
Nimm dir diese Gedanken mit
Probiere das aus
Experimentiere mal ein bisschen mit deiner Körperhaltung. Wie fühlt sich eine Draufgänger-Powerhaltung körperlich an? Mit welcher Körperhaltung fühlst du dich besonders stark? Wenn wir ängstlich sind, sind wir oft geduckt, der Blick geht eher nach unten, wir verlieren den Weitblick, wir sacken zusammen. Streck deine Arme so weit wie möglich aus und nimm dir deinen Raum. Zu den Seiten und auch nach oben. Steh mit beiden Beinen stabil auf dem Boden. Achte dabei auf einen festen Stand. Lass deinen Blick rund um dich kreisen – schau so weit in die Ferne, wie es geht. Beanspruche wieder deinen Raum für dich. Lass dich von der Angst nicht klein machen. Mach dich groß und weit. Du bist größer als die Angst.