Was ist die Angst vor der Angst? Es ist die Angst davor, dass die Angst wieder auftaucht. Man nennt es auch Erwartungsangst und es ist für viele Betroffene schlimmer als die Angstsituation selbst. Das Doofe an der Erwartungsangst ist nämlich, dass wir dadurch ständig in Alarmbereitschaft sind. So wie ein Feuerwehrmann oder eine Feuerwehrfrau, die wissen, dass es heute Nacht viele Einsätze geben dürfte, und die nur darauf warten, wann es endlich losgeht. Das Nervensystem fährt dann gar nicht mehr in den Entspannungsmodus herunter, weil man ja allzeit bereit sein soll. Und noch mal: Das Nervensystem will uns eigentlich unterstützen und produziert Stresshormone am laufenden Band, da wir ja darauf warten, dass etwas Aufwühlendes passiert. Diese Stresshormone sollen uns dabei helfen, dass wir dann schnell kämpfen oder flüchten können. Doof nur, dass diese Stresshormone uns auch unruhig und nervös machen – ein Teufelskreis! Wenn dies länger andauert, wird man immer unsicherer und verliert irgendwann das Vertrauen in sich und in das Leben.
Vielleicht kennst du das selbst, dass du dir jetzt schon Sorgen machst, wie irgendeine Situation morgen ablaufen wird. Wie es dir gehen wird. Ob du dem Ganzen gewachsen sein wirst. Ob die Angst wieder auftaucht. Speziell Menschen, die unter Panikattacken leiden, haben sehr viel Angst davor, dass sie in einer bestimmten Situation wieder diesen schlimmen Gefühlen ausgeliefert sind. Dass sie nicht rechtzeitig weg, also flüchten können. Dass es peinlich für sie wird. Dass sie die Kontrolle über sich verlieren. Dass sie nicht schnell genug Hilfe bekommen. Bis ins kleinste Detail malen sie sich bildlich aus, wie diese Situation im allerschlimmsten Fall ablaufen wird. Und steigern sich dadurch manchmal schon davor so intensiv in das Worst-Case-Szenario hinein, dass sie schon eine Panikattacke bekommen – obwohl sie noch nicht einmal in der Situation sind!
Hier sieht man, wozu wir mit unserer Vorstellungskraft fähig sind. Und was wir in uns auslösen können. Denn diese Horrorszenarien in unserem Kopf fühlen sich für uns so an, als ob wir die Situation tatsächlich erleben. Und wir lösen allein durch unsere Vorstellung im Kopf in unserem Körper nahezu dieselben Angstreaktionen aus, als wenn wir in der Situation wären.
Bei Menschen mit aufdringlichen Angstgedanken ist das ähnlich. Sie schwirren mit ihren Gedanken meist in der Zukunft herum und malen sich aus, was ihnen oder ihren Liebsten passieren könnte. Dadurch haben sie in der jetzigen Situation bereits Angst und steigern sich durch ihre Angstgedanken immer weiter in die Angstgefühle hinein. Der Körper reagiert dann so, als ob er in einer Angstsituation wäre. Obwohl jetzt alle gesund und in Sicherheit sind.
Das Gehirn nimmt alles für bare Münze
Warum reagiert unser Körper so stark, wenn wir uns eine Situation der Zukunft nur vorstellen? Unser Gehirn kann nicht unterscheiden, ob wir uns eine Situation nur vorstellen oder ob wir tatsächlich in dieser Situation sind. Darum reagiert unser Körper darauf, egal ob etwas nur in unseren Gedanken oder real passiert. In unserem Gehirn werden dieselben Netzwerke aktiv.
Lass mich dir das anhand eines Beispiels erklären: Du machst dir mit Freunden aus, dass ihr einen Film im Kino ansehen wollt. Mit einer Ladung Popcorn und einer Limo machst du es dir im Kinosessel gemütlich. Deine Freunde wollten irgendeinen Actionfilm ansehen, du hast dich gar nicht genauer damit beschäftigt. Das Licht geht aus, der Film beginnt. Je mehr Szenen über die Leinwand flimmern, umso schauriger werden die Bilder. Dein Puls geht hinauf. Du zuckst zusammen, als es immer spannender wird. Es gibt Szenen, in denen du richtig Angst hast. Offenbar ein Horrorfilm. Gar nicht so dein Genre, aber egal. Die Szenen werden so nervenaufreibend und gruselig, dass sich deine Finger in die Armlehnen des Kinositzes krallen und sich dein Oberkörper fest gegen die Lehne drückt. Die Hintergrundmusik des Films tut ihr Übriges. Einmal schreit der Kinosaal sogar auf, als es kaum mehr aushaltbar war …
STOPP!
Was passiert hier gerade?
Das ist nur ein Film. Auf einer Leinwand. Völlig harmlos. Es sind Schauspieler. Die werden dafür bezahlt.
Aaaaaaaber: Dein Gehirn kann das nicht unterscheiden. Klar kannst du immer wieder dein rationales Denken dazuschalten und das wird die Sache etwas abkühlen. Wenn du nicht grundsätzlich unter starken Ängsten oder Panikzuständen leidest, ist das leichter möglich. Aber: Dein Körper produziert die völlig gleichen Reaktionen, wie wenn du tatsächlich Angst hast, wie wenn du in Gefahr bist. Faszinierend, oder? Du schwimmst also mit dem Gefühl mit, auch wenn es sich hier lediglich um Bilder auf einer Leinwand handelt – völlig harmlos! Und dein Körper reagiert auch darauf. Du kannst dich dem kaum entziehen.
Du kannst allein durch deine Vorstellungskraft Angst in dir auslösen.
Oder nehmen wir das Beispiel einer Zitrone: Stell dir vor, vor dir liegt eine wunderschöne, saftige, gelbe Zitrone. Du nimmst sie in die Hand und riechst daran. Wenn du die Zitrone zwischen deinen Händen reibst, bemerkst du schon das typisch Säuerliche. Nun schneidest du die Zitrone in zwei Hälften. Du siehst schon, wie der Saft herausquillt. Nimm eine Hälfte der Zitrone in die Hand und drück sie leicht zusammen. Der Saft läuft dir über die Finger. Nun riechst du den Saft schon ganz deutlich. Und nun beißt du in die Zitrone hinein.
Wenn du diese Übung mitgemacht hast und dir jeden Schritt in deiner Vorstellung bildhaft ausgemalt hast, sollten zwei Dinge passiert sein: Dein Mund hat vermehrt Speichel produziert und du hast dein Gesicht verzogen. Was zeigt uns das? Deine Gedanken haben die enorme Kraft, deinen Körper zu einer Reaktion zu bringen. Dein Körper hat bei diesem Experiment so reagiert, als ob du tatsächlich in eine Zitrone gebissen hättest, obwohl du dir das nur vorgestellt hast. Es ist eine Tatsache: Dein Gehirn kümmert sich nicht darum, ob etwas Einbildung ist oder Realität. Es verarbeitet die Informationen wie ein Computer und behandelt jede so, als ob sie real sei.
So faszinierend das ist, umso doofer ist das für Menschen mit starken Ängsten und Panik. Denn auch hier kann das Gehirn nicht unterscheiden, ob wir uns eine Sache nur vorstellen oder ob wir tatsächlich in dieser Situation sind. Darum beschreiben so viele Menschen, dass sie eine innere Unruhe, starke Ängste oder eine Panikattacke bekommen, wenn sie nur an eine Sache denken. Wenn sie zum Beispiel daran denken, beim Arzt im Warteraum zu sitzen, werden sie Tage vorher schon nervös. Wenn sie daran denken, dass sie im Sommer in ein Flugzeug steigen »müssen«, sind sie im Februar schon unruhig. Wenn sie daran denken, auf die Autobahn aufzufahren, bricht schon der Schweiß aus. Wenn sie daran denken, dass sie eine bedrohliche Krankheit haben könnten, die nicht heilbar sein könnte, haben sie jetzt schon unheimliche Angst davor.
Was haben all diese Szenarien gemeinsam? Sie sind noch gar nicht eingetreten oder werden vielleicht auch nie eintreten. Diese Dinge sind irgendwann in der Zukunft oder treten vielleicht nie ein. Und diese Menschen haben jetzt schon ein Unwohlsein deswegen? Eigentlich doof, wenn man sich die Gegenwart »vermiest« mit (noch) gar nicht existierenden Dingen.
Du kannst dir zum Beispiel dein ganzes Leben lang Sorgen machen, dass du diese eine Krankheit bekommst. Hörst dein ganzes Leben in dich hinein. Kannst kaum etwas genießen. Bist schlecht gelaunt. Und mit 92 Jahren darfst du dann ein Resümee ziehen: Diese Sorge ist niemals eingetreten. Es ist nie wahr geworden. Doch wie kann man nun damit umgehen?
Schritt 1: Stopp!
Sei dir im Klaren, dass dein Gehirn die Gedanken, mit denen du es fütterst, für wahr hält. Dein Gehirn kann das nicht unterscheiden. Es reagiert einfach auf deine Vorstellung. Achte also darauf, was du den ganzen Tag denkst und dir vorstellst. Wenn sich deine Gedanken in Richtung Angst oder Horrorszenario bewegen, mach einen Gedankenstopp. Hier kann es hilfreich sein, zu sich selbst ganz klar »STOPP« zu sagen. Und dann hol dich ins Hier und Jetzt zurück. Du bist jetzt in der Gegenwart. Du bist jetzt in Sicherheit. Jetzt geht es dir gut. Auf das Morgen hast du nicht viel Einfluss. Du darfst dir vertrauen.
Das kann vielleicht so aussehen:
Schritt 2: Vielfalt an Möglichkeiten
Mach dir klar, dass es unendlich viele Möglichkeiten gibt, wie eine Situation ausgehen kann. Die Angst erzählt dir natürlich die Schauermärchen und wählt die allerschlimmste Möglichkeit aus – das ist ihr Job. Sie will dich ja bestmöglich beschützen, darum will sie dich auf die schwierigste Variante vorbereiten. Es gibt aber auch Möglichkeiten, dass es gut ausgeht. Wichtig ist es deshalb, nicht in Angstgedanken stecken zu bleiben, sondern weiterzudenken.
Vielleicht so: Auch wenn ich diese Krankheit bekommen würde, was wäre dann? Wie würde ich damit umgehen? Wo würde ich mir Hilfe holen? Wer würde mich unterstützen? Welche Ressourcen habe ich? Wie geht es dann weiter?
Die Angst lässt uns oft im Schreck verharren. Wir sind wie gelähmt. Haben nur mehr dieses Bild der Krankheit im Kopf. Verlieren komplett die rationale Sicht dazu. Es geht aber nach jeder Krankheit, nach jedem Schicksalsschlag, nach jedem schwierigen Erlebnis weiter. Und damit will ich nichts beschönigen. Klar sind Schicksalsschläge hart. Sie können zermürbend sein. Und es gibt Menschen, die daran »zerbrechen«. Aber es gibt unzählige Menschen, die ihre Krisen überwinden. Die dadurch stärker wurden. Die sich wieder aufgerappelt haben. Die gesund wurden. Die wundervolle Unterstützung erfahren haben.
Schritt 3: Was die Angst sagt, sagt nur die Angst
Wenn dir die Angst wieder einmal ihre Horrorfantasien auftischt, dann bezeichne diese für dich auch ganz genauso. Sag beispielsweise zu dir selbst:
Dann mach dir klar, dass es auch andere Meinungen dazu gibt. Was würde die Hoffnung dazu sagen? Der Mut? Die Zuversicht? Die Lebensfreude? Und dann lass diese konkret zu Wort kommen. Auch, wenn du dir diese anderen Meinungen dazu nicht ganz glaubst, formuliere sie konkret aus. Sag dir zum Beispiel:
Schritt 4: Fokus aufs Positive
Befass dich mit positiven Dingen und such dir eine sinnvolle Beschäftigung. Und nein, ich sage dir jetzt auf keinen Fall »Denk einfach nur positiv«, denn jeder, der schon mal in so einer Lebenssituation steckte und von Ängsten und Panik überrollt wurde, weiß, dass das einfach nicht geht. Aber unser Gehirn ruft Inhalte leichter ab, mit denen wir uns oft beschäftigen. Das bedeutet, dass es dir diese Inhalte auch öfter präsentieren wird. Du kannst dich sicher noch erinnern, dass ich dir weiter oben von den Trampelpfaden in unserem Gehirn erzählt habe. Dies ist natürlich nur eine Metapher, aber es soll bedeuten, dass unser Gehirn leichter und schneller die altbekannten Trampelpfade geht. Das heißt, es tut sich leichter mit Dingen, die es schon kennt. Und in diesen Kreisen dreht es sich immer wieder.
Daher geht es nun um die Frage, womit du dein Gehirn »fütterst«? Steigst du immer in die alten Trampelpfade ein und drehst dich im Kreis? Oder gibst du deinem Gehirn einen Weg vor, den du gern haben möchtest?
An was möchtest du gern denken? Womit möchtest du dich befassen? Worüber möchtest du dir Gedanken machen? Wie möchtest du deinen Tag gestalten? Worauf richtest du deine Aufmerksamkeit? Was möchtest du tun?
Denn eine Sache darfst du dir bewusst machen: Dein Körper reagiert nicht nur, wenn du an etwas denkst, das dir Angst macht, sondern das geht auch mit allen anderen Gefühlen. Das heißt, wenn du dir schöne Erinnerungen hereinholst, wenn du an etwas denkst, das dir Freude macht, wenn du voller Hoffnung in die Zukunft schaust, dann reagiert dein Körper auch darauf.
Lass dein Köpfchen da oben also nicht allein entscheiden, in welche Trampelpfade es sich schon wieder hineinschleicht, sondern entscheide du es. Mach dir klar, dass du deinen Gedanken nicht ausgeliefert bist.
Übernimm wieder du die Führung. Die Angst hat sich lange genug ans Ruder gesetzt, jetzt machst das wieder du. Denn du weißt, wie es geht. Du kannst das.
Merk dir das
Unser Gehirn kann nicht unterscheiden, ob wir uns etwas nur gedanklich vorstellen oder ob wir tatsächlich in dieser Situation sind. Darum bekommen wir bei einem Horrorfilm Angst, obwohl wir im gemütlichen Kinosessel sitzen. Unser Gehirn aktiviert genau dieselben Areale, als ob wir in dieser Situation wären. Darum haben viele Menschen schon vor einer bestimmten Situation Angst, obwohl sie noch gar nicht dort sind. Um mit dieser Angst vor der Angst besser umgehen zu können, dürfen wir uns immer wieder ins Hier und Jetzt zurückholen. Denn wir schwirren mit unseren Gedanken zu viel in der Zukunft herum und produzieren Horrorszenarien, die so vielleicht nie eintreten.
Nimm dir diese Gedanken mit
Probiere das aus
Wenn es dir schwerfällt, deine herumschwirrenden Gedanken und Gefühle »einzufangen« und dich auf den Boden zurückzuholen, setze einen körperlichen Reiz. Das holt uns oft leichter aus dem Kopf ins Hier und Jetzt. Lass eiskaltes Wasser über deine Hände und Arme laufen. Leg dir ein Coolpack oder ein kaltes Tuch in den Nacken. Roll mit einem Igelball über deine Haut. Öffne das Fenster und lass kalte Luft herein. Zieh Schuhe und Socken aus, lauf ein Stück in einer Wiese und spür die Grashalme unter deinen Fußsohlen. Oder mach etwas ganz anderes, das dich aus deinem Muster herausholt. Probiere aus, was sich für den Moment richtig anfühlt.