Tool #18: Neutraler Beobachter der Gedanken sein

Angstgedanken fühlen sich deswegen bedrohlich, aufwühlend und beängstigend an, weil wir in sie eintauchen und uns von ihnen vereinnahmen lassen. Jeden Tag schwirren Tausende Gedanken an uns vorbei und die allermeisten nehmen wir nicht einmal wahr. Wenn wir einen Gedanken aus diesem Gedankenstrom auswählen, festhalten und uns mit ihm auseinandersetzen, dann bekommt er für kurze oder längere Zeit eine Wichtigkeit in unserem Leben. Er löst etwas in uns aus, kaum bemerkbar oder so, dass es uns über Tage beschäftigt.

Bei Gedanken, die sich um Ängste oder Sorgen drehen, haben wir oft das Gefühl, dass sie uns aufdringlich begleiten und wir nichts dagegen tun können. Wir kämpfen dagegen an. Wollen nicht daran denken. Und was passiert? Ganz genau. Wir denken natürlich wieder daran.

Du kennst wahrscheinlich die Aufforderung, dass du jetzt auf gar keinen Fall an einen rosaroten Elefanten denken sollst. Und? Genauso wie ich hast du wahrscheinlich gerade an einen rosaroten Elefanten gedacht. Das Bild tauchte einfach ganz automatisch vor unserem inneren Auge auf. Wir können nichts dagegen tun. Wir Menschen denken ganz viel in Bildern. Das hast du wahrscheinlich beim rosaroten Elefanten gerade erlebt. Du hast sofort ein Bild vor dir. Und wie du ja schon einige Male hier gelesen hast, reagiert dein Körper und deine Gefühlswelt auf das, was du dir vorstellst.

So auch beim Angstkreislauf. Es passiert ganz automatisch, ohne unser Zutun. Unsere körperlichen Vorgänge reagieren, wenn wir in Angstgedanken einsteigen. So wie sie es auch bei einem Horrorfilm tun. Weil wir emotional miteintauchen.

Der ganze Fokus geht auf die Angst, auf die unangenehmen Gefühle, die Horrorszenarien im Kopf. Scheinbar kann man nicht vor und nicht zurück. Es gibt oft keinen Ausweg – zumindest sehen wir keinen. Es ist wie ein Wirbelsturm, der uns mitreißt. Und da dies so automatisch passiert, haben wir oft die Idee, wir seien diesen Gefühlen ausgeliefert. Wir können nichts dagegen tun. Egal, wie sehr wir uns wehren. Egal, wie sehr wir eben nicht daran denken wollen. Wir können nichts an unserer inneren Lage ändern.

Je mehr wir uns wehren, umso aufdringlicher werden die Gedanken. Das ist wie bei den Gefühlen und ich hatte es dir auch schon zu den Panikattacken beschrieben: Je mehr wir gegen sie kämpfen, umso mehr reagiert unser Körper darauf. Umso panischer werden wir. Und das kann man auch auf die Gedanken umlegen: Je mehr Kraft wir aufwenden, um gegen bestimmte Gedanken zu sein, umso lästiger fühlen sich diese an. Umso schneller stehen sie wieder in den Startlöchern, wenn wir eine Minute nicht achtsam sind. Umso lauter klopfen sie an unsere Tür, auch wenn wir den Schrank davorgeschoben haben. Kopflos gegen diese Gedanken zu kämpfen, bringt uns also nicht zum Ziel. Was aber dann?

Die Antwort, die ich dir hier vorschlagen möchte, heißt: beobachten statt kämpfen. Du darfst lernen, deine Gedanken zu beobachten. Wertfrei. Neutral. Aus der Beobachterperspektive, die du im ersten Kapitel schon geübt hast.

Beobachten statt Kämpfen – das ist ein neuer Weg, mit Angstgedanken umzugehen.

Gedanken beobachten lernen

Steig aus dem Fluss heraus, in den du immer wieder miteinsteigst. Und beobachte die Gedanken einfach nur. Wie sie vorbeiziehen. Wie Wolken am Himmel. Du pickst dir keine besondere Wolke heraus. Lässt sie einfach weiterziehen. Sie ziehen einfach vorbei, wenn du nicht daran festhältst.

Unterbrich ihren Strom nicht. Schau sie einfach an. Aus der Ferne. Bleib ruhig dabei. Sie können dir überhaupt nichts tun. Es sind nur Gedanken. Die du ziehen lassen darfst.

Die Gedanken sind jetzt gerade so, wie sie sind. Du willst nichts daran verändern. Da sind Gedanken, die sich nicht so gut anfühlen. Nimm einfach wahr, dass es so ist. Wie ein Beobachter. Ohne dass du einsteigst. Mit der Haltung: Aha. So ist das jetzt einfach. Da sind sie also. Diese Gedanken. Ziehen vorbei wie ein Strom. Einer nach dem anderen.

Du atmest weiter ruhig. Und du bleibst einfach ruhig. Egal, welche Gedanken und Bilder an dir vorbeiziehen. Wenn du nicht darauf reagierst, entziehst du ihnen jegliche Macht.

Wenn du bemerkst, dass du emotional in den Gedankenfluss miteinsteigst, dann darfst du dich sanft daran erinnern, wieder herauszusteigen. Langsam in deine Beobachterrolle zurückzukommen. Sei nicht hart zu dir, wenn es dir anfangs noch nicht so gut gelingt. Dies braucht wirklich viel Übung. Es ist völlig normal, dass du zu Beginn immer wieder in den Angststrudel einsteigst und deine Gedanken kreisen. Es ist okay. Sobald es dir auffällt, hol dich ganz sanft und in Ruhe wieder auf deinen Beobachterposten zurück.

Du bist nicht deine Gedanken. Du kannst sie mit Abstand betrachten. Sie können dir nichts tun. Lass sie da sein. Lass sie fließen. Du musst nichts tun. Lass los.

Bei dieser Übung darfst du geduldig mit dir sein – so wie bei allen Angeboten aus diesem Buch. Wenn du schon oft panisch auf Gedanken reagiert hast, die dir dein Gehirn vorschlägt, wird dir dein Körper vielleicht auch hier wieder Panik zeigen. Wenn du normalerweise bei bestimmten Gedanken nervös oder innerlich unruhig wirst, dann kann sich diese Nervosität oder innere Unruhe auch hier zeigen. Das passiert automatisch. Und auch bei diesen Gefühlen geht es darum, wie du es ja schon gelernt hast: Du nimmst wahr, dass sie da sind. Und lässt sie einfach weiterfließen. Atmest ruhig weiter. Versuchst, so gut es geht, in eine entspannte Haltung zu gehen. Beobachtest neutral. Reagierst, so gut es geht, gelassen darauf. Bewertest sie nicht.

Meditation – auch für Nichtmeditierer

Vielleicht kennst du so eine oder eine ähnliche Methode aus dem Bereich der Meditation. In vielen Meditationen geht es auch darum, nicht wertend im Hier und Jetzt dessen gewahr zu sein, was ist. Ohne an Gedanken, Gefühlen oder Körperempfindungen zu haften. Von Betroffenen höre ich aber immer wieder, dass Meditationen ihnen gar nicht helfen. Und dazu möchte ich sagen: Du musst überhaupt kein Fan von Meditationen sein, um diese Übung zu machen.

Am besten wendest du sie im Alltag an. Wenn du noch gar nicht in der Angstspirale mitdrehst. Im Büro. Beim Fensterputzen. In der U-Bahn. Du übst dich einfach darin, eine Beobachterposition einzunehmen. Eine passive, entspannte Haltung. Ohne zu werten. Du lässt die Gedanken einfach ziehen. Egal, welche Gedanken es sind. Egal, wie schlimm oder gut, wie bedrohlich oder lustig du diese Gedanken normalerweise bewertest. Du lässt sie einfach da sein … und lässt sie dadurch frei. Sie können weiterziehen.

Du fragst dich vielleicht, warum ich bei diesem Tool immer wieder davon schreibe, diese Gedanken (und auch die Bilder im Kopf, die sie auslösen) nicht zu bewerten oder generell dabei nicht wertend zu sein. Dies ist ein wichtiger Punkt. Gedanken lösen ja erst dann ein Gefühl in uns aus, wenn wir sie in irgendeiner Form bewerten – nämlich in unserem Fall als bedrohlich für unser Leben, als unangenehm, als schlecht, als angsteinflößend. Wenn wir ein neutraler Beobachter dieser Gedanken werden wollen, geht es auch darum, keine Bewertung der Gedanken vorzunehmen. Und ich weiß, das ist gar nicht so leicht.

Als kleine Hilfe kannst du dir beim Üben vielleicht einen Satz wie »Aha, das ist ja spannend« oder »Aha, interessante Ansicht« mitnehmen. Das schafft eine Distanz zum Gedanken.

Wir schauen uns den Gedanken erst mal an, vielleicht neugierig, vielleicht distanziert, vielleicht hinterfragend, und entscheiden erst dann, ob wir uns näher damit befassen. Wenn du sofort in die Bewertung springst, bist du gleich mit all deinen Emotionen dabei. »Ist das gut? Schlecht? Macht mir das Angst? Fürchte ich mich davor? Oh, du meine Güte, schon wieder fangen diese Gedanken an. Das letzte Mal hatte ich dabei eine Panikattacke …« Und so weiter und so fort. Mit deiner Bewertung bist du sofort im Gefühlsstrudel.

STOPP! Steig da aus. Betrachte die Gedanken von außen. Neutral. Mit dem Satz: »Aha, das ist ja spannend.«

Was ist das Ziel dieser Übung?

Wenn du einen Gedanken, den du üblicherweise zu 100 Prozent als Bedrohung einstufst, wertfrei und gelassen ansehen kannst, hast du das Ziel erreicht. Und ich weiß: Wenn man gerade intensiv mit Ängsten und Panik zu kämpfen hat, kann man kaum glauben, dass das überhaupt jemals möglich ist. Aber glaub mir, man kann das lernen. Es ist möglich. Doch für den Beginn muss das gar nicht das Ziel sein. Wie du weißt, gehen wir immer Schritt für Schritt vor. Wenn man sich das Ziel zu ehrgeizig setzt und sich überfordert, hört man meist wieder zu üben auf, wenn es nicht gleich klappt.

Für den Anfang reicht es, wenn du dir diese Vorgänge einfach einmal bewusst machst: Gedanken lösen etwas in dir aus. Gedanken müssen aber nicht Tatsachen benennen. Gedanken neutral aus einer Beobachterperspektive anzuschauen, hilft uns, dass wir eine Distanz dazu bekommen.

Dies ist ein wichtiger Punkt bei der Bewältigung von Ängsten: Die nötige Distanz zu den eigenen Gedanken zu bekommen. Sie sind dann nicht mehr so bedrohlich, nicht mehr so real, weil sie nicht mehr so nahe sind.

Steig nicht mehr sofort emotional auf jeden Gedankenvorschlag ein. Beobachte erst mal. Aus der Ferne. Mit einem Fernglas. Aus einer guten Distanz.

Du hast darauf Einfluss, wie nahe du die Gedanken an dich heranlässt. Dies braucht etwas Übung. Übe es vorerst einfach einmal im Alltag. Dass du Gedanken ziehen lässt wie Wolken am Himmel. Du kannst dir die Gedanken auch wie Blätter in einem Fluss vorstellen, die das Wasser fortträgt. Lass sie fließen. Halte nicht daran fest. Es sind nur Gedanken.

Bei dieser Übung kann es hilfreich sein, auch gleichzeitig den Körper zu entspannen oder bewusst ruhig zu atmen, wie ich es dir am Anfang des Buches gezeigt habe. Wenn mehrere Methoden aktiv ineinandergreifen, lässt sich die Angstspirale sehr viel leichter auflösen.

Merk dir das

Ein Gedanke wird nur so mächtig, weil du ihn aus dem Gedankenstrom auswählst, dich damit beschäftigst, ihn bewertest und gegen ihn kämpfst. Übe dich darin, deine Gedanken einfach zu beobachten. Ohne sie zu bewerten.

Nimm dir diese Gedanken mit

Probiere das aus

Frage dich: »Was wäre dieser Gedanke ohne meine Bewertung? Was wäre dieser Gedanke ohne die emotionale Aufladung, die er durch mich bekommt?« Mach dir bewusst, dass sich deine Gedanken nur deswegen so real anfühlen, weil dein Gehirn Bilder vor deinem inneren Auge dazu »erfindet«. Und auf diese inneren Bilder reagiert deine Gefühlswelt. So entsteht Angst. Im Grunde kannst du über jeden Gedanken ohne Emotion nachdenken. Es kann der schlimmste und tragischste Gedanke überhaupt sein – wenn du keine Emotion dabei hast, wirkt er sich nicht auf deinen Körper und auf deine Stimmung aus. Hört sich vielleicht etwas komisch an, ist aber tatsächlich so.

Teste diese Überlegung anhand eines Angstgedankens, den du von einer anderen Person kennst und der dich aber nicht im Geringsten berührt. Erinnere dich an eine Erzählung, in der sie dir berichtet hat, wovor sie Angst hat. Und nun mach dir klar, dass du davor überhaupt keine Angst hast. Es berührt dich nicht. Du kannst die Gedanken daran völlig emotionslos denken. Weißt du, was das bedeutet? Man kann auch ohne Emotion über etwas nachdenken, das Angst machen kann. Es ist die eigene Bewertung, die man dem Gedanken gibt.