Tool #22: Steig nicht immer wieder ins Angstnetzwerk ein

Du kannst dich wahrscheinlich an eine Situation in deinem Leben erinnern, als du total wütend auf jemanden warst. So richtig wütend. Weil dich jemand enttäuscht, hintergangen, belogen, betrogen oder dir jemand bewusst Schaden zugefügt hat. Deine Gedanken haben sich nur mehr um dieses Thema gedreht. Deine Gefühle sind von Wut zu Zorn, vielleicht sogar Hass, von Enttäuschung zu Ratlosigkeit gewechselt. Dein Körper hat sich angespannt, vielleicht hast du die Hände zu Fäusten geballt. Du warst mittendrin im Wutnetzwerk. Deine Gedanken, deine Gefühle und dein Körper steckten mit drin. Alle drei Bereiche schaukelten sich gegenseitig auf.

Wahrscheinlich hat es in einem Bereich begonnen. Du bist zuerst in die Gedanken eingestiegen, dass es überhaupt nicht okay von dieser Person war, dich so zu verletzen. Dann sind deine Gefühle aufgewallt: Du bist sauer geworden, wütend, aufbrausend. Dein Körper hat darauf reagiert und es fühlte sich so an, als ob du einen Stein im Magen hättest. Du bist ins Wutnetzwerk eingestiegen und Kopf und Körper stellten alle Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen bereit, die zu diesem Netzwerk gehören. Wäre ja auch komisch, wenn du gerade darüber nachdenkst, warum dich diese Person so hintergangen hat, und dein Gefühl dazu wäre Lebensfreude.

Was in so einem Moment auch oft passiert, ist, dass die Wut auf andere Bereiche, andere Menschen, andere Dinge überschwappt, die gar nichts mit der ursprünglichen Situation zu tun haben. Wir haben also so was wie eine Wutbrille auf und wenn dann eine andere völlig unbeteiligte Person etwas von uns braucht, bekommt auch sie etwas von unserer Wut ab. Wenn jetzt jemand einen wichtigen Termin absagt, sind wir doppelt so wütend, als wir es sonst wären. Wenn wir den Kaffee über unsere Unterlagen schütten, könnten wir aus der Haut fahren. Und wenn uns der Zug vor der Nase wegfährt, schreien wir vielleicht wie wild um uns. Weil wir gerade im Wutnetzwerk sind. Wegen dieser einen Person, die uns enttäuscht hat.

Dies lässt sich auch auf Freude umlegen: Stell dir vor, du gehst gerade ganz beschwingt an deinem letzten Arbeitstag vor dem Urlaub aus dem Büro und in Gedanken malst du dir aus, wie du deine freie Zeit verbringen wirst. Du winkst deinen Kollegen noch zu, spürst Leichtigkeit auf der Gefühlsebene und dein Körper fühlt sich leicht und beschwingt an. Wenn du in so einer Situation Kaffee verschüttest, wirst du dich vielleicht kurz ärgern, ihn aber schnell wegmachen und dich nicht weiter darum kümmern. Wenn dir der Zug vor der Nase wegfährt, wirst du die dadurch gewonnene Zeit dazu nutzen, dir ein Sandwich zu kaufen, und es in der Sonne genießen. Weil du die Freudebrille aufhast. Dein Netzwerk von Freude ist aktiviert.

Das Netzwerk der Angst

Kennst du dein Angstnetzwerk? Du stehst in der Supermarktschlange und denkst: »Oh nein, jetzt fängt das schon wieder an. Das passt mir aber gar nicht. Jetzt auf keinen Fall eine Panikattacke bekommen!« Dein Körper spannt sich an, du beginnst zu schwitzen, dein Puls geht hoch. Du fühlst dich ängstlich. Es fühlt sich ausweglos an. Die drei Bereiche schaukeln sich gegenseitig auf. Meist beginnt es in einem Bereich und schwappt dann auf die anderen beiden über. Bei vielen startet so ein Angstzustand in den Gedanken. Bei anderen fängt der Körper an, sich zu melden. Und wiederum bei anderen zeigt sich immer das Gefühl als Erstes und dann folgen die anderen. Es kann also unterschiedlich sein, in welchem Bereich man meistens in das Angstnetzwerk einsteigt.

Wenn wir einmal drin sind, ist es gar nicht so leicht, aus diesem Netzwerk wieder auszusteigen. Aber keine Sorge, wir kommen immer wieder heraus. Auch wenn es manchmal etwas dauert. Nehmen wir noch mal das Beispiel mit dem Wutnetzwerk. Hat dir, während du völlig wütend auf jemanden warst, schon mal jemand gesagt, dass es nicht so schlimm ist, du dich nicht so anstellen und jetzt endlich beruhigen sollst? Oder hast du vielleicht selbst schon mal versucht, dich ganz schnell zu beruhigen und nicht mehr wütend auf diese Person zu sein? Vielleicht musst du so wie ich jetzt auch gerade schmunzeln: Das geht nicht mit einem Fingerschnippen. Es braucht etwas Zeit, bis sich unser ganzes System wieder heruntergefahren hat. Weil eben alle drei Bereiche involviert sind. Und sich alle drei Bereiche wieder regulieren dürfen. Aber es geht. Glaub mir.

Wahrscheinlich ist dir diese Möglichkeit nicht so bewusst, weil Wut einfach wieder verfliegt und wir es nicht so klar vor Augen haben, dass wir aus dem Netzwerk ausgestiegen sind. Wir wechseln untertags auch einfach mal von einem Netzwerk ins andere, ohne dass uns das bewusst ist. Mal sind wir genervt, mal verärgert, mal gestresst, mal eher neutral, mal gut drauf, mal traurig. Manchmal sind die Übergänge fließend. Wir schwimmen sozusagen von einem Gefühlsnetzwerk ins andere. Wie aber können wir lernen, aktiv zu wechseln? Wie können wir das eben beschriebene Wissen konkret nutzen?

Schritt 1: Bewusstmachung

Wenn du bemerkst, dass du mit einem der drei Bereiche (Gedanken, Gefühle oder Körper) wieder in das Angstnetzwerk einsteigst, mach dir das bewusst. Sag dir zum Beispiel: »Ich steige mit meinen Gedanken gerade wieder in das Angstnetzwerk ein.« Wenn du es dir bewusst machst, steigst du schon einen Schritt aus dem Netzwerk heraus. Als würdest du dich von außen beobachten. Du bekommst Distanz und kehrst zum rationalen Denken zurück, was bei Ängsten sehr wichtig ist.

Schritt 2: Klarheit darüber, dass du dein System herunterregulieren kannst

Mach dir bewusst, dass sich diese drei Bereiche in der Angst aufschaukeln können. Aber: dass sie sich auch wieder beruhigen können. Oder warst du schon mal ewig wütend auf jemanden? Ich denke nicht. Gefühle verblassen. Wir »vergessen« Gedanken wieder. Andere Dinge werden wichtiger.

Vielleicht kennst du auch Situationen in deinem Leben, in denen du sehr rasch aus einem Gefühlsnetzwerk ausgestiegen bist, weil du zufällig in ein anderes eingetaucht bist. Weil zum Beispiel etwas sehr Schönes passiert ist, dich etwas sehr überrascht hat oder du einfach abgelenkt wurdest. Plötzlich war die Wut oder Angst wie verflogen, weil dein Fokus unerwartet auf etwas anderes gelenkt wurde.

Und warum sollen wir uns diese Fähigkeit nicht zunutze machen? Sei dir bewusst, dass wir in Netzwerke ein- und aussteigen können. Es muss nicht zufällig etwas Unerwartetes passieren, das uns in ein anderes Netzwerk katapultiert. Wir dürfen selbst aktiv werden. Wie das genau geht, schauen wir uns im dritten Schritt genauer an.

Schritt 3: Bewusst umsteigen

Wenn du merkst, dass sich dein Körper irgendwo ängstlich anspannt, dann entspanne diesen Körperbereich bewusst. Es braucht etwas Übung, das zu erkennen, da wir erst lernen dürfen, unseren Körper zu beobachten und zu erkennen, was dieser bei Angst eigentlich so macht. Meiner Erfahrung nach spannen sehr viele Menschen den Schulter- oder Rückenbereich an. Oder verkrampfen den Bauch. Oder atmen flacher. Wenn du Entspannung in genau diesen Körperbereich bringst, setzt du ein klares Signal: »In diesem Bereich ist Entspannung, auch ihr anderen zwei Bereiche dürft euch entspannen.« Lehn dich zurück, lockere deine Beine und Arme, atme ruhig. Damit sagst du deinem Nervensystem: Hier ist keine Gefahr.

Wenn deine Gedanken in das Angstnetzwerk einsteigen, dann darfst du auch hier beruhigen. Überleg dir, welche Gedanken sich für dich beruhigend anfühlen, und speichere sie dir auf dem Handy, damit du immer Zugriff darauf hast. Oder schreib sie dir zu Hause in ein Notizbuch.

Frag dich für die Gefühlsebene, wobei du dich sicher und geborgen fühlst. Was löst in dir ein tiefes Gefühl von Sicherheit und Wohlbefinden aus. Welches Gefühl kannst du deinem Nervensystem anbieten, damit es aus dem Angstnetzwerk aussteigen kann? Hilft es dir vielleicht, eine Hand auf deinen Bauch zu legen und dich mit dem Vertrauen in deinen Körper zu verbinden? Dir zu sagen, dass ihr bis jetzt alles geschafft habt und auch das hier überwinden werdet?

Ich weiß, dass viele dieses Vertrauen in sich verloren haben, wenn sie schon lange an Ängsten leiden, aber sei dir bewusst, du kannst dir dieses Vertrauen Stück für Stück wieder aufbauen. In ganz kleinen Schritten. Anfangs muss das nur ein klitzekleiner Hoffnungsschimmer sein. Vielleicht eine Erinnerung daran, dass dieses Angstgefühl das letzte Mal auch irgendwie vorbeigegangen ist. Dass wieder Ruhe eingekehrt ist. So wie dein Nervensystem immer wieder in den Ruhemodus zurückfindet. Kannst du deinem Körper einen kleinen Vertrauensvorschuss geben, dass er selbstständig in diese Ruhe zurückfindet? Verbinde dich jetzt im Moment mit diesem Gefühl. Kannst du einen klitzekleinen Schimmer davon wahrnehmen? Und kannst du auch dir selbst diesen Vertrauensvorschuss geben? Dich daran erinnern, was du bis jetzt alles gemeistert hast? Was dir alles gelungen ist? Und dass du immer noch hier bist? Auch wenn es manchmal richtig schwer war. Kannst du dich für einen Moment dafür anerkennen? Dir selbst Danke sagen? Und nun bleib ein bisschen in diesem Gefühl.

Und jetzt hol mal das Wissen dazu, dass dein Gehirn ein Leben lang neu lernen kann. Dass es Dinge wieder verlernen kann. Dass du es dabei unterstützen kannst, weil es das nicht allein kann. Es braucht deine Führung dazu.

Und jetzt hol deinen Tatendrang dazu. Deinen Wunsch, dir dein Leben zurückzuholen. Den Glauben daran, dass du das schaffen kannst. Auch wenn diese Gefühle vielleicht ziemlich verschüttet sind unter Angst und Panik. Diese Gefühle gibt es noch. Du kannst sie wieder hervorholen. Glaub mir. Und wenn es für heute nur eine klitzekleine Ahnung davon ist, wie sich das anfühlt. Daran darfst du dich festhalten. Und an dich glauben. Du bist zu viel mehr fähig, als du dir jetzt zutraust. Menschen, die unter Angst und Panik leiden und das bis jetzt durchgestanden und durchgehalten haben, sind meiner Meinung nach sehr starke Menschen. Denn: Solche Gefühle muss man erst mal aushalten. Ich hoffe, du bist dir dessen bewusst. Deiner Stärke. Deiner Kraft. Deines Durchhaltevermögens. Deiner Kompetenz. Deiner Willenskraft. Deiner Ausdauer. Deiner Widerstandskraft. Deiner Belastbarkeit. Deines Mutes.

Und nun packst du dir all deine Eigenschaften zusammen und wenn du das nächste Mal mit einem Zeh in das Angstnetzwerk einsteigst, dann verbindest du dich innerlich mit dem Gefühl von Vertrauen in dich und in das Leben und sagst dir: »Ich bin viel stärker als das. Jedes Gefühl geht vorbei. Jeder Gedanke geht vorbei. Jede Körperempfindung geht vorbei. Aber ich bleibe. Denn ich bin viel stärker als das.«

Merk dir das

Wenn wir in ein Netzwerk einsteigen, dann schaukeln sich die drei Bereiche Gedanken, Gefühle und Körper gegenseitig auf. Um wieder auszusteigen, dürfen wir beruhigend auf diese drei Bereiche einwirken. Denn eins ist klar: Wenn man in ein Netzwerk durch bestimmte Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen einsteigen kann, kann man auch wieder aussteigen und durch andere Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen in ein anderes Netzwerk hineingehen.

Nimm dir diesen Gedanken mit

Probiere das aus

Kannst du in einem guten Moment mal versuchen, in das Netzwerk Lebensfreude einzusteigen? Hol dir den allerbesten Moment in deinem Leben in deinen Kopf, lass dich gefühlsmäßig völlig darauf ein. Flute deinen Körper mit Glücksgefühlen. Tauche ein mit all deinen Gedanken, mit all deinen Gefühlen und mit deinem kompletten Körper. Fühle dieses Gefühl in jeder Zelle. Hüpfe schwungvoll auf und ab oder tanze beschwingt durch deine Küche. Am besten drehst du noch einen Song auf, der genau zu diesem Moment passt. Spürst du es? Dieses Gefühl? Falls nein, dann tanze weiter. Hol dir Bilder in den Kopf, die dich schmunzeln lassen. Die dir Freude machen.

Und? Spürst du, zumindest ein bisschen, Lebensfreude? Falls ja, dann mach dir genau jetzt eines bewusst: Du hast gerade selbstständig und aktiv deinen Kopf und deinen Körper in einen anderen Zustand gebracht. Du selbst! Du bist aktiv in ein anderes Netzwerk eingestiegen. Und nein, das ist nicht irgendwie automatisch passiert, und nein, das Lesen allein hat das nicht ausgelöst. Du hast das ausgelöst. Du kannst das!