Wir kommen nun zum letzten Tool dieses Kapitels und zum letzten Tool des ganzen Buches. Du hast ja über das ganze Buch hinweg von mir Übungen, Haltungen und Denkrichtungen vorgestellt bekommen, in denen es viel darum geht, die Ängste zuzulassen, sie zu akzeptieren und dadurch zu lernen, dass sie dir nichts anhaben können. Und es ging auch darum, eine klare Haltung der Angst gegenüber einzunehmen und auch mal ein ernstes Wörtchen mit ihr zu reden. Es ging viel darum, wieder Sicherheit in sich zu finden und in kleinen Schritten das Nervensystem wieder an Situationen und Gedanken heranzuführen, die ihm Angst gemacht haben. Und dem Nervensystem und gleichzeitig sich selbst immer wieder zu zeigen, dass alles okay ist. Dass keine Gefahr besteht. Es ging darum, einen Schritt auf die Angst zuzugehen und, wenn es zu viel war, auch wieder einen Schritt zurückgehen zu können. Nichts zu überstürzen. Sondern ganz viel Sicherheit, Vertrauen und Geborgenheit im Gepäck zu haben und sich behutsam und sanft sein Leben zurückzuholen.
Und weißt du, was für mich zu Sicherheit und Vertrauen auch dazugehört? Eine klare Führung. Jemand, der weiß, wo’s langgeht. Der weiß, was der nächste Schritt ist. Der einen Plan hat. Jemand, der klare Worte und ein klares Ziel vor Augen hat. Jemand, der für die Motivation zuständig ist. Und jemand, der die richtigen Worte findet, wenn mal etwas nicht so klappt, wie man es sich wünscht.
Und weißt du, wer der einzige Mensch auf der Welt ist, der das für dich und deinen Weg übernehmen kann? Du kennst die Antwort wahrscheinlich. Dieser Jemand kannst nur du selbst sein. Du weißt, wo deine blinden Flecken sind. Du weißt, wo deine Ängste liegen. Du weißt aber auch, was du erreichen willst. Du weißt, was deine Ziele sind.
Das kann dir niemand abnehmen. Du kannst die Führung in der derzeitigen Lage auch nicht allein bei deinem Nervensystem lassen. Es würde überall Gefahr wittern. Du darfst dein Nervensystem daher in die Schulung schicken. In eine Schulung, in der du ihm neu beibringst, was wirklich gefährlich ist und was nicht. In der du ihm beibringst, wie es sich wieder entspannen kann. In der du ihm beibringst, wo es aufgeregt sein kann und wo es sich keine Sorgen zu machen braucht. Du darfst seine Ansichten und Reaktionen hinterfragen.
Was kannst du deinem Nervensystem sagen, wenn es Fehlalarme zündet?
Wenn dein Nervensystem den Angstschalter in deinem Kopf wieder einmal auf »Ein« schaltet, dann sprich auf eine liebevolle Weise zu ihm. Sprich es direkt an, sage deine Worte laut oder leise, aber immer freundlich.
Sage zum Beispiel zu ihm: „Liebes Nervensystem, danke, dass du mich gerade auf etwas hinweisen möchtest. Dir kommt gerade etwas bedrohlich vor, du glaubst, ich bin in Gefahr. Darum machst du meinen Atem schneller, spannst meine Muskeln an und lässt die Gedanken rasen. Du möchtest mich schützen. Ich habe die Lage nun aber geprüft und ich möchte dir sagen: Wir sind in Sicherheit. Hier gibt es keine Gefahr. Das war ein Fehlalarm. Ich schau mich noch mal um und kann dir versichern: Alles ist gut. Ich nehme nun ein paar ruhige Atemzüge und wir bewegen uns wieder in den Ruhemodus zurück. Komm, ich nehme dich an der Hand und wir machen das jetzt gemeinsam. Du brauchst ein paar Neueinstellungen. Denn du zündest zu viele Fehlalarme. Und das ist für mich und für dich anstrengend.«
Dein Nervensystem braucht dich und deine liebevolle Führung. Aber es geht auch darum, Klartext zu sprechen. Es muss wieder jemand sagen, wo es langgeht. Das Nervensystem braucht jemanden, der schaut, was es gerade braucht. Wo es gerade feststeckt und wo man es befreien darf. Und es braucht aber auch jemanden, der einen Plan hat, was jetzt gemacht wird, und Anweisungen dazu gibt.
Wenn das Nervensystem gerade im Alarmmodus feststeckt, dann drücken wir uns vor etwas, vermeiden, trauen uns nichts. Wir bleiben in der Angstspirale hängen. Das ist der Punkt, an dem deine Person gefragt ist. Du wirst gebraucht. Du darfst wieder das Zepter in die Hand nehmen und deinem Nervensystem Anleitungen geben: »Liebes Nervensystem, heute üben wir das so. Ja, ich weiß, dass da gerade Angst ist, aber das ist ein Fehlalarm. Das fühlt sich total schlimm im Körper an. Wir sind aber in Sicherheit. Wir gehen diesen Schritt jetzt.«
Denn wenn du immer dein Nervensystem in Kombination mit deiner Angstzentrale entscheiden lässt, wirst du keinen Schritt weiterkommen. Die beiden werden hadern und zweifeln und dich zurückhalten. Logisch, es ist ja deren Job, dich vor Gefahren zu schützen. Da ist aber keine Gefahr. Um deine Ängste bewältigen zu können, braucht es jemanden, der sich auch mal über die Ideen und Ansichten der Angst hinwegsetzt und sagt: »Ich habe mir das überlegt und darum habe ich entschieden, dass wir das so üben.«
Und du darfst deiner Angst auch mal ein ganz deutliches großes Stoppschild vor die Nase halten. Du darfst dich so groß wie möglich machen, Kopf hoch, Schultern zurück, Brust raus, und der Angst ganz klar sagen: »Liebe Angst, halt doch mal die Klappe. Es reicht jetzt. Misch dich nicht ständig in meine Angelegenheiten ein. Ich bin stark und ich kann das. Basta.«
Nimm dein Leben in die Hand. Hol es dir zurück.
Wir schaffen das.
Ganz sicher.
Merk dir das
Du darfst in deinem Leben wieder die Person werden, die sagt, wo es langgeht. Dein Nervensystem reagiert oft über und produziert Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen, die Angst machen. Du darfst wieder liebevoll die Führung übernehmen und klare Ansagen machen. Jedes Mal, wenn du zusammenzuckst und der Angst zu viel Glauben schenkst, gibst du ihr recht und sie breitet sich aus. Setz du die Grenze. Sag klar: »Stopp, bis hierher und nicht weiter.« Du übernimmst die Führung. Wenn du es nicht machst, dann macht es die Angst. Willst du das?
Nimm dir diesen Gedanken mit
Probiere das aus
Es kann hilfreich sein, sich dieses Bild der »Ein«- und »Aus«-Schalter der Angstzentrale immer wieder vor Augen zu führen, wenn sich die Angst zeigt. Wenn es im Körper irgendwo zwickt und deine Gedanken gehen Richtung »Oh du meine Güte, was das schon wieder Lebensbedrohliches sein könnte«, dann halte inne. Sag dir selbst: »STOPP! Mein Angstschalter ist auf ›Ein‹. Darum interpretiere ich das gerade so. Ich schalte ihn jetzt auf »Aus« und dann interpretiere ich neu.«
Wenn du mit deinen Gedanken wieder in Zukunftsszenarien herumschwirrst, die nichts Gutes beinhalten, dann halte auch hier inne. Stopp dich selbst. Mach dir klar: Dieser Gedanke ist von der Angst eingefärbt. Dieser Gedanke gehört zur Angst und nicht zu mir. Der Schalter der Angstzentrale ist gerade auf »Ein«. Darum lautet dieser Gedanke so. Wenn ich wieder einen klaren und ruhigen Kopf habe, werde ich diesen Gedanken nicht glauben.
Angst ist ein ziemlich mühsamer Weggefährte. Sie drängelt sich vor, mischt sich ein, will überall mitreden, ohne dass sie gefragt wird. Wahrscheinlich kennst du das. Und sie erzählt ja leider keine schönen Geschichten, die gut ausgehen. Im Gegenteil. Sie führt uns die schlimmsten Konsequenzen, die schrecklichsten Ausgänge und die bittersten Resultate vor Augen. Und in den meisten Fällen lässt sie sich nicht durch logische Argumente besänftigen.
Und um das noch mal klarzustellen: Das ist prinzipiell der Job der Angst. Sie soll uns auf Gefahren hinweisen, sie soll uns zeigen, dass etwas nicht gut ausgehen kann, sie soll laut »Alarm« schreien, wenn wir in Lebensgefahr kommen könnten. Und das ist gut so. Danke, Angst.
Wenn aber durch gewisse Lebensumstände oder bestimmte Auslöser der Schalter der Angst in unserem Kopf dauerhaft auf »Ein« ist, dann wird das Leben richtig anstrengend. Dann sehen wir alles durch die Brille der Angst. Wir beschäftigen uns dauernd mit schlechten Auswirkungen, desaströsen Ereignissen und dramatischen Lebenswendungen. Das wirkt sich auf unsere Gefühle aus, die schwer und kräftezehrend werden. Und auf unseren Körper, der ständig nervös und unruhig ist. Das Leben wird dadurch richtig mühsam.
Wenn wir Ängste und Panikgefühle bewältigen wollen, geht es darum, unseren Kopf nicht allein entscheiden zu lassen, womit er sich beschäftigt. Wenn du die Abläufe und Gedanken »da oben« ändern willst, musst du konkret daran arbeiten. Es geht darum, Angstgedanken zu hinterfragen und der Angst nicht mehr ungefiltert alles zu glauben. Denn dann hast du bereits verloren. Es geht darum, immer wieder einen Schritt aus dem Gedankenstrudel herauszusteigen und die Gedanken neutraler zu beobachten. Von einem neutralen Standpunkt aus kannst du sie leichter prüfen. Wenn du mittendrin bist, lässt sich schwer eine rationale Sichtweise einnehmen.
Es geht darum, dir zu überlegen, mit welchen Dingen du dich beschäftigen willst. Du darfst deinen Kopf mit bestimmten Gedanken füttern und ihm bestimmte Gedanken anbieten. Er selbst wird immer den Trampelpfad gehen, der am meisten ausgetreten ist. Und wenn du dich monate- oder jahrelang mit Angstthemen beschäftigt hast, welchen Trampelpfad wird dein Gehirn dann wählen? Den der Angst.
Es geht darum, so weit Frieden mit deiner Angst zu schließen, dass du radikal alles akzeptieren kannst, was sie dir vor die Füße wirft. Die radikale Akzeptanz ist eines der wirkungsvollsten Tools, die man bei Ängsten anwenden kann. Und eines der herausforderndsten. Wenn man jahrelang gegen die Angst »gekämpft« hat, sperrt sich alles im Inneren, widerstandslos zu akzeptieren, was die Angst sagt und mit uns macht. Ich kann dir nur den Tipp geben, es auszuprobieren. Es kann ein großer Befreiungsschlag für dich sein.
Denn genau darum geht es: Die Angst hat uns eingesperrt, hat uns Dinge vorgegeben, die wir tun und lassen sollen, hat uns vorgegeben, wie wir uns fühlen dürfen. Bei der Bewältigung von Ängsten geht es darum, sich seine Freiheit zurückzuholen.
Wieder selbst zu entscheiden.
Sich sein Leben zurückzuholen.
Und das geht, glaub mir.
Wir schaffen das.