Beginne mit dem Kreuzanschlag
Mariah Van Ripper war im Leben stets ihrem eigenen Zeitplan gefolgt und machte auch beim Sterben keine Ausnahme. An Mariahs letztem Tag auf Erden hatte ihre Nichte Aubrey, mit den Maschen eines Spitzenschals aus Mohair zwischen den Fingern, in der Strickstube ihres gemeinsamen Hauses in Tarrytown gesessen. Sie hatte nicht gemerkt, dass sie eingenickt war und ihr Geist auf träumerischen Nebenwegen wandelte, während ihre Nadeln weiter durch die Maschen tanzten, bis Mariah im Türrahmen aufgetaucht war.
»Oh, gut. Aubrey, ich wollte dir noch etwas sagen.«
Aubrey sah von ihrem Strickzeug auf. Zwischen den Türpfosten neigte sich Mariah zur Seite, wie eine breite Fahne, die in einer sanften Brise weht. Sie trug ein langes, unförmiges Baumwollkleid, das so frisch und weiß war, dass es beinahe leuchtete.
»Wieso bist du schon zurück?«, fragte Aubrey. »Ich dachte, du hast einen Termin bei Gemeinderat Halpern. Hast du irgendetwas vergessen?«
»Ja … Ich glaube, das habe ich.«
»Ganz gleich, was es auch war, ich hätte es dir doch gebracht, wenn du mich angerufen hättest«, sagte Aubrey leicht tadelnd. »Was brauchst du?«
Mariah antwortete nicht. Ihre Augen waren weit geöffnet, ihr Blick war verwirrt wie der eines schläfrigen Kindes. Sie murmelte etwas mit halbgeöffneten Lippen.
»Mariah?« Aubrey unterbrach ihr Stricken am Ende einer Reihe und ließ die Hände sinken. Der Schal lag, von der Sonne beschienen, zerknittert und gelb wie Herbstlaub, auf ihrem Schoß. »Was ist los? Was fehlt dir?«
»Da ist etwas, das ich dir sagen wollte …«
»Na, dann schieß los.«
»Etwas …«
»Hey. Alles in Ordnung?«
Aubrey sah, wie die Pupillen ihrer Tante zu kleinen schwarzen Punkten zusammenschrumpften. Ihre Augen schienen sich auf etwas zu richten, das Aubrey nicht sehen konnte, vielleicht auf ein in der Luft wirbelndes Staubkorn oder irgendeinen geheimen Gedanken, der so tief in Mariahs grauen Zellen verankert war, dass ihr leerer Blick abdriftete wie ein Boot von seinem Ankerplatz. Mariah war von mittlerer Größe, hatte dabei einen beachtlichen Körperumfang, und ihr langes, dünnes Haar umfloss ihre Schultern in taubengrauen Wellen. Sie war schon in ihrer Jugend keine Schönheit gewesen, hatte jedoch freundlich blickende Augen und ein wohlwollendes Lächeln, das von ausgeprägten, aber einnehmenden Falten begleitet wurde. Die von hinten auf sie fallende Sonne überzog ihr Haar und den weißen Saum ihres Kleides mit Silberglanz.
»Ach, nun ja. Ich schätze, du wirst es selbst herausfinden müssen.« Mariah seufzte leicht und trat dann aus der Strickstube und außer Sichtweite.
Aubrey legte ihr Strickzeug beiseite und lief über die breiten Holzdielen zur Zimmertür. Ihr war schwindlig, als würden all ihre Sorgen sie auf einmal überschwemmen. Mariahs gesundheitlicher Zustand hatte sich in den letzten Jahren verschlechtert, und Aubrey fürchtete, ihre Tante könnte einen Schlaganfall erlitten haben. Die Ärzte hatten sie davor gewarnt. Aubrey spähte hinter den Türpfosten, doch Mariah war verschwunden, und kein einziges Geräusch verriet die Richtung, in die sie gegangen war.
Das gibt’s doch gar nicht, dachte Aubrey.
Trotzdem rief sie die Treppe hinauf: »Mariah?« Sie rief den Flur hinunter: »Hey, Mari?«
Beim Klingeln des Telefons zuckte sie zusammen. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Langsam nahm sie den Hörer ab. »Ja?«
»Aubrey Van Ripper?«, fragte sie eine fremde Stimme.
In diesem Augenblick wusste Aubrey, noch bevor man es ihr gesagt hatte, dass ihre Tante nicht in die Strickerei zurückgekehrt war, weil sie etwas vergessen hatte. Tatsächlich war sie überhaupt nicht in der Strickerei. Und Aubrey kam der Gedanke, wie geschmacklos es doch eigentlich sei, dass etwas so Intimes und Privates wie die Nachricht eines Todes von Fremden überbracht wurde.
Zum ersten Mal in ihrem Leben war Aubrey allein, vollkommen und endgültig und unerwartet, allein in diesem Augenblick und für immer, während ihre Nadeln auf einem Tisch in der Strickstube ruhten, ihr Ohr vom Druck des Telefonhörers heiß wurde und die Worte einer Fremden von irgendwoher auf sie eindrangen und ihr erklärten, was sich am anderen Ende der Stadt ereignet hatte.
* * *
In seinem privaten Büro in der Nähe des Gemeindezentrums von Tarrytown, verborgen hinter neokolonialistischen Säulen und flämischem Mauerwerk, schenkte sich Gemeinderat Steve Halpern aus dem kleinen Flachmann, den er für Notfälle in der untersten Schreibtischschublade aufbewahrte, ein Glas ein. Der Krankenwagen war gerade erst abgefahren, nachdem die Sanitäter Mariah Van Rippers Körper aus seinem Büro getragen hatten. Er lehnte sich in seinem zigarrenbraunen Stuhl zurück, der unter seinem Gewicht aufjaulte.
»Weißt du, kein Mensch will, dass so etwas geschieht«, sagte er.
Jackie Halpern, die sich um seine Wahlkampagnen, seine Buchhaltung, seine Sockenschublade und seine Blutdruckmedikamente kümmerte, lächelte. »Natürlich nicht.«
»Aber wenn es nun einmal passieren musste …«
»Sag es nicht«, bat sie ihn. »Ich weiß.«
* * *
Langsam, wie ein schwacher Dunst, der sich gemächlich durch Tarrytowns freundliche Vorstadtstraßen schlängelte, verbreiteten sich Gerüchte über Mariah Van Rippers Tod unter den Menschen, die sie kannten, und unter denen, die sie nicht kannten, bis daraus ein undurchdringlicher Nebel schlechter Neuigkeiten, so dicht wie Rohwolle, geworden war, der zum Fluss hinunterwaberte, hinein in das marode Viertel, das Mariahs Heimat gewesen war. Die Hunde in Tappan Square, räudige Rottweiler und Pitbulls, die sonst durch die geschlossenen Fenster bellten, verstummten plötzlich und gaben keinen Laut von sich, wenn jemand an ihrem Haus vorbeikam. Der verrostete alte Wetterhahn auf dem Turm der Strickerei drehte sich dreimal gegen den Uhrzeigersinn um sich selbst, bis er, nach Osten weisend, zum Stehen kam, und wenn einer der Bewohner von Tappan Square es gesehen hätte, wäre ihm sofort klar gewesen, dass dies kein gutes Zeichen war.
Tappan Square war alles andere als Tarrytowns bestgehütetes Geheimnis. Der Stadtteil war nicht Teil der weitverbreiteten, allgemein anerkannten Sagen dieser Gegend. Wenn Besucher sich von ihren Navigationsgeräten nach Tarrytown und in die Nachbarstadt Sleepy Hollow führen ließen, übergingen sie Tappan Square stets. Stattdessen strömten sie nach Sunnyside, zu dem unter Efeu erstickenden Cottage, in dem Washington Irving einst lebte und starb und vom Galoppierenden Reiter und von Ichabod Crane träumte. Sie strichen fröhlich um den Fuß der zinnenbewehrten gotischen Burg Lyndhurst, die düster und gebieterisch über den Hudson River hinwegblickte, und zeigten sich gegenseitig Wahrzeichen aus Vampirhorrorfilmen in ihren dämmrigen, feierlichen Hallen. Sie stapften zwischen den mit Flechten überzogenen Statuen der Old Dutch Church entlang und wanderten, mit Kameras und festem Schuhwerk versehen, vorbei an Grabsteinen mit Familiennamen wie Beekman, Carnegie, Rockefeller und Sloat. Sie waren auf der Suche nach dem, was jeder an den Ufern des Hudson River suchte: Verzauberung. Ein Fünkchen der guten, alten Magie. Und dennoch machten sich Fremde selten auf den Weg in die Nachbarschaft von Tappan Square, wo aus den Fenstern rostiger Schrottkarren laute Salsabeats dröhnten, wo illegale Kabeldrähte von Fenster zu Fenster gespannt waren und wo in jenem Haus, das seit Ewigkeiten von der Van-Ripper-Familie bewohnt wurde, eben diese Magie oder zumindest ein Anflug davon beheimatet war.
Die Strickerei, wie sie von ihren Nachbarn und irgendwann auch von ihren Bewohnern genannt wurde, hatte schon immer den Van Rippers gehört. Für die Anwohner war sie ein Kuriosum wie der Augapfel eines Wals in einem Einweckglas mit Formaldehyd, ein ausgestopftes Fohlen mit staubbedeckten Wachsaugen – ein Ding, dem man hätte erlauben sollen, zu zerfallen, nachdem das Leben aus ihm entwichen war, das jedoch künstlich bewahrt wurde. Das Haus mit seinem über die Jahrhunderte zusammengeschusterten architektonischen Mischmasch – seinem zurückhaltenden georgianischen Kern, seinem feurigen Mansardendach, seinem mit Fischschuppenziegeln bedeckten Turm, gekrönt von einem Hexenhutdach – wirkte nicht gerade einladend. Die jüngste Generation der Van Rippers, zuletzt angeführt von Mariah, hielt nichts von Renovierungen. Sie überstrichen nicht die Tapete mit dem scheußlichen Kohlrosenmuster im Wohnzimmer, reparierten das verschnörkelte schwarze Tor vor dem Haus nicht, das seit dem großen Schneesturm von 1888 windschief in den Angeln hing, und tauschten auch nicht das Schild mit der Aufschrift STRICKEREI am Hauseingang aus, obwohl es kaum noch zu entziffern war. Tatsächlich protestierten sie heftig gegen solche Veränderungen und »unnötigen« Verbesserungen, die sie als Beleidigung der Geschichte ansahen. Mariah Van Ripper soll buchstäblich geweint haben, als das Innenleben einer der großen alten Toiletten der Strickerei entkernt werden musste und sich keine baugleichen Ersatzteile für das alte Verdauungssystem finden ließen.
Und weil Mariah zu viel Respekt vor ihren Ahnen zeigte, als dass sie einen lächerlichen Fensterladen repariert oder einen Geländerpfosten befestigt hätte, wurde die Strickerei mit der Zeit erst altmodisch, dann unansehnlich, bis sie schließlich der Schandfleck einer Nachbarschaft war, die ohnehin schon das Auge beleidigte. Wie Schneeflocken legte sich die Vergangenheit über alles, und Mariah hatte es stets zugelassen, so wie man zuließ, dass die Sonne morgens auf- und abends unterging. Natürlich passte ihre Philosophie bestens zu ihrer Abneigung gegenüber Hausarbeit und ihrem Widerwillen, das wenige Geld, das die Van Rippers verdienten, für etwas so Frivoles wie eine neue Türklingel auszugeben. Doch was auch immer die Motivation sein mochte, das Ergebnis war, dass die Strickerei – von einigen als Herz von Tappan Square angesehen, von anderen als dessen Tumor – hässlich, verwahrlost und verfallen war.
Als die Neuigkeit von Mariahs Tod ihre Tentakel in die Nachbarschaft ausgestreckt hatte, versammelten sich nach und nach ein paar der Bewohner Tarrytowns, die das Schicksal aus allen Ecken der Welt hierher verschlagen hatte, vor der Strickerei. Die Gläubigen unter ihnen bekreuzigten sich und beteten, nicht ganz uneigennützig, Mariahs Seele möge emporgehoben und rasch an ihrem endgültigen Landeplatz deponiert werden, damit sie bloß nicht gemeinsam mit den höflicheren Geistern von Sleepy Hollow und Tarrytown auf der Erde umherstreifte. Frauen, die der Familie Van Ripper freundlich gesinnt waren, stellten bunte Kerzen in hohen Gläsern auf den Bürgersteig und steckten Nelken in das verbogene Tor des Gebäudes. Sie brauchten keine gemeinsame Sprache, um dieselbe Sorge zu teilen: Was würde mit der Strickerei geschehen? Und schlimmer noch: Was würde nach Mariahs Tod mit ihnen allen geschehen?
Die Van Rippers waren in den Augen der einen Scharlatane, in denen der anderen waren sie Retter. Gauner oder Engel. Heilige oder Diebe. Doch selbst wenn an all dem Gerede über die Strickerei nichts dran war, wenn das einzig Merkwürdige an der Strickerei das war, was man sich über sie erzählte, hatte auch dies die vielen Generationen von Frauen in Tarrytown nicht davon abgehalten, sich in ihrer Verzweiflung zur Türschwelle der Van Rippers zu schleppen und um Hilfe zu bitten. Mach mir einen Pullover, mach mir Fäustlinge, mach mein Baby gesund, mach, dass mein Mann mich wieder liebt.
Es hieß, die Magie der Van Rippers liege im Stricken.
Sofern es überhaupt Magie war.