Kapitel 5

Führe die Nadel zurück

Das Problem war, wie Ruth Ten Eckye es ihrem Strick- und Lesezirkel in der Bibliothek und auch jedem anderen erklärte, dass Mr. Scott – der neue Leiter des diesjährigen Kopfloser-Reiter-Spektakels, der aus einem Collegetheater in Nyack geholt worden war – keinen Respekt vor der Tradition zeigte. In der theatralischen Lesung der »Legende von Sleepy Hollow« hatte bisher, solange man zurückdenken konnte, immer ein männliches Mitglied der Familie Ten Eckye die Rolle des Brom Bones übernommen.

Doch in diesem Jahr hatte der Bühnenemporkömmling die Frechheit gehabt, Broms Part an Tony Pignatelli zu übergeben, der, wenngleich er durchaus ein »stämmiger, wüster, poltriger Bursche« war, in dem genügend »schelmische gute Laune« steckte, doch niemals einen überzeugenden Brom abgeben würde. Der Held der ganzen Gegend musste ein Ten-Eckye-Junge sein. Kein Pignatelli. Wer hatte denn schon einmal etwas von einem holländischen Pignatelli gehört?

»Mein armer Todd hat diese Rolle verdient – und Tarrytown hat verdient, dass er sie bekommt«, erklärte Ruth Aubrey, als sie am Samstagmorgen in der Strickerei vor ihr stand. Obwohl sich der Regen vom Vortag verzogen hatte und die Sonne das Letzte aus dem Indian Summer herausholte, war Aubrey schlecht gelaunt. Sie hatte zwar schon Aufträge für die Strickerei erledigt, noch bevor sie sich die Schuhe selbst zubinden konnte, doch sie hatte nur selten in direkten Kontakt mit den Kunden treten müssen. Sie seufzte.

Ruth stützte einen Ellbogen auf die Ladentheke und verengte die Augen zu Schlitzen. »Wir Ten Eckyes sind lange genug in dieser Stadt, um zu wissen, was ihr Van Rippers so treibt.«

»Gut«, erwiderte Aubrey. »Was wünschen Sie also?«

»Was ich wünsche?«, gab Ruth zurück. Sie schüttelte verärgert den Kopf. »Was ich wünsche ist, dass Sie etwas stricken, das meinem armen Todd hilft!«

Aubrey verschränkte die Arme und dachte nach. Ruth Ten Eckye war die Ehefrau und Partnerin des verstorbenen Charles Ten Eckye vom Kunst- und Kulturzentrum Ten Eckye gewesen. Die Ten Eckyes besaßen Gebäude in ganz Tarrytown – vor allem Gewerbeimmobilien und Apartments, die die Familie von einer Immobiliengesellschaft verwalten ließ, um sich selbst nicht mit einer solch unwürdigen Aufgabe wie dem Einsammeln von Mieten die Hände schmutzig zu machen.

Ruth hatte zu allen Dingen eine strikte Position, seien es politische, soziale oder ökumenische Fragen. Und für sie schien die Tatsache, dass ein Ten-Eckye-Junge den Brom Bones darstellte, geradezu heilig zu sein; zumindest würde dadurch wieder einmal ihr weit zurückreichender Stammbaum holländischer Landbesitzer sichtbar gemacht und in seiner Überlegenheit bekräftigt. Sie hatte gute Freunde, wo es darauf ankam, und Feinde, wo es ihr passte. Aubrey hatte mitbekommen, wie Ruth den behinderten Jungen angeblafft hatte, der ihr die Einkaufstüten einräumte, und sie wusste, dass Ruth auf der Stelle das Tierheim verständigte, wenn sie eine Katze ohne Halsband fünf Meter entfernt von ihrer Garage entdeckte.

Dennoch fand Aubrey auch Dinge an ihr, die ihr gefielen. Mariah hatte sie gewarnt: Es ist falsch, für einen Menschen zu stricken, den du nicht magst. Zugegeben, Ruth war Teil des Gremiums gewesen, das die Verbannung aller Vampirromane für Jugendliche aus den Regalen der Bibliothek erzwang, doch sie leitete auch das Komitee, das sich um die Kränze auf den Veteranengräbern kümmerte. Die Tafel der Gemeinde befand sich praktisch in ihrer Hand: Die Obdachlosen von Tarrytown speisten wie die Könige. Sie besaß Rückgrat – und das bedeutete etwas. Sie beschützte ihre Familie wie eine Wölfin. Ruth hatte ihre Stärken und Schwächen, wie jeder andere Mensch auch, und das machte sie in Aubreys Augen zu einer ausreichend geeigneten Kandidatin für einen Zauber.

»Haben Sie mit Mr. Scott gesprochen und ihm mitgeteilt, was Sie von seiner Entscheidung halten?«, wollte Aubrey wissen.

»Natürlich habe ich das versucht«, erwiderte Ruth.

»Und mit jemandem an der Schule?«

»Ich habe mit jedem gesprochen. Es gibt keinen anderen Weg. Glauben Sie mir, Aubrey Van Ripper, die Strickerei ist mein letztes Mittel. Mein allerletztes.«

Das ist sie immer, dachte Aubrey.

Die meisten Menschen kamen in die Strickerei, weil sie dem schwachen Hauch eines Gerüchts folgten, der Hoffnung auf eine allerletzte Chance. Normalerweise traten die Kunden schüchtern auf und stellten befangene Fragen, die eigentlich keine Fragen waren, aber so ausgesprochen wurden: Jemand hat mir erzählt, dass Sie hier, ähm, eine einzigartige Wolle haben? Ich habe gehört, dass Sie einen Strickservice anbieten? Ich habe da dieses Problem, und mir wurde gesagt, dass ich mich an Sie wenden soll?

Die Leute kamen in die Strickerei, weil ihnen keine andere Wahl mehr blieb, als ihre Vernunft und Würde aufzugeben, um etwas vollkommen Unwahrscheinliches auszuprobieren. Ruth kam Aubrey in ihrer Verzweiflung wie jemand vor, der einen Zahn unter den Kissen versteckte, um seine Rechnungen bezahlen zu können.

Sie zog ihre Strickjacke enger um sich. Das Licht fiel schräg an den Mittelpfosten des Fensters vorbei und warf silbern leuchtende Vierecke auf den Holzfußboden. Die Möbel – zwei Holzschemel, die Ladentheke, ein niedriger Weidentisch – waren staubgrau, und all die Wollknäuel in den Körben und die dicken Wollstränge, die von Haken an der Wand hingen, waren von einem feinen Film bedeckt. Ruth sah aus, als ob sie die Minuten zählte, bis sie die Strickerei endlich verlassen und sich abduschen könnte, als würde sie hier irgendwie vergiftet oder infiziert. Aubrey hatte gewiss jeden Grund, Ruth hinauszuwerfen, ihr – vielleicht mit einer Dosis ihrer eigenen herrischen Art – entgegenzuschleudern: Wie können Sie es wagen, dieses Haus zu betreten, während wir trauern? Mariah war noch keine drei Tage tot. Die Todesanzeige war erst am Morgen veröffentlicht worden – hätte Ruth von Mariahs Tod gewusst, wäre sie wahrscheinlich selbst entsetzt über ihren störenden Besuch gewesen. Aubrey bräuchte nicht viel zu sagen, um sie loszuwerden.

Doch dann hörte sie Bitty in der Küche in den Schränken herumsuchen, um ein Mittagessen für ihre Kinder zusammenzukratzen, und laut fragen, in was für einem Haushalt denn noch nicht einmal Ketchup zu finden sei, und ihr wurde bewusst, dass es nicht schaden konnte, an ein wenig zusätzliches Geld zu kommen.

»Ich werde es tun«, sagte Aubrey. »Was haben Sie für mich?«

»Was ich für Sie habe?«

»Was können Sie mir für den Zauber geben?«

Ruth lachte. »Sie meinen, Sie haben keine Preisliste?«

»Leider nein.«

»Was wäre denn üblich?«, fragte Ruth.

»Es ist üblich, dass Sie etwas anbieten.«

»Sie machen es kompliziert, nicht wahr?« Ruth rückte die Handtasche an ihrem Arm zurecht. »Zweihundert. Bar.«

Aubrey lachte. »Sie sollten vielleicht lieber Mr. Scott bestechen.«

Ruth biss sich gekränkt auf die Lippen, und Aubrey musste gegen das Schuldgefühl ankämpfen, das sie nun durchströmte. Diesen Teil hatte sie immer gehasst – das Verhandeln. Angebot und Nachfrage. Sosehr sich Aubrey beim Stricken hervortat, so schwach war sie immer in der Rolle der Verhandlungsführerin gewesen. Es war eine schwierige Rolle, die sie in einem schlechten Licht dastehen ließ. Ein wenig Aggressivität war für das Gelingen eines Zaubers erforderlich, doch Aubrey war noch nie gut darin gewesen, ihre Zähne zu zeigen. Nicht so, wie Mariah es gewesen war.

»Zweihundert Dollar«, wiederholte Aubrey. »Wie Sie wollen. Was noch?«

»Zweihundert Dollar sind viel Geld.«

»Verzeihen Sie, aber ich vermute, dass es für Sie nicht viel Geld ist«, erwiderte Aubrey, da sie wusste, dass Ruth Ten Eckye das Vermögen ihrer Familie seit dem Tag hamsterte, an dem sie hineingeboren wurde. »Was noch?«

Ruth erbleichte. »Fünfhundert?«

Ja, bitte, dachte Aubrey. Mit fünfhundert Dollar könnte sie die ganze Familie ins Tarrytown House zum Abendessen einladen. Sie könnte den Kindern eine iPad-Führung über den Old-Dutch-Friedhof spendieren. Sie könnte die Hausbar auffüllen. Aber was sie für zweihundert oder auch fünfhundert Dollar nicht garantieren konnte, war, dass Todd Ten Eckye dieses Jahr an Halloween in kurzen Hosen und mit einem Dreispitz durch Sleepy Hollow stolzieren würde. Um sicherzugehen, dass der Zauber wirkte, würde sie etwas Wichtigeres benötigen als Ruths Geld.

Die Leute müssen etwas aufgeben, das ihnen wirklich wichtig ist, hatte Mariah immer gesagt. Sie werden denken, dass Magie keinen Wert hat, wenn sie nicht ein bisschen dafür leiden müssen. Und wenn sie sie für wertlos halten, dann glauben sie nicht daran, und wenn sie nicht daran glauben, wird der Zauber einfach verfaulen.

Aubrey musterte ihre Kundin – Ruths eingedrehte Locken, ihre goldene Brillenkette, ihre winzigen Perlenohrringe – alles sehr teuer und doch veraltet, als käme sie direkt aus dem Jahr 1952. An ihren langen Mantel war eine Zinnbrosche in Form eines verzerrt grinsenden Halloweenkürbisses geheftet.

Aubrey zeigte darauf. »Was ist das?«

Ruth griff danach. »Was? Dieses alberne Ding?«

Aubrey beugte sich vor. Es war eine billige Brosche, ein krasser Gegensatz zu Ruths teuren Perlen und Pavé-Diamant-Ringen. Ruth würde so etwas Geschmackloses sicher nicht tragen, wenn es keine persönliche Bedeutung für sie hätte. »Woher haben Sie das?«

Ruths Blick wurde sanft, die schlaffe weiße Haut ihrer Lider senkte sich noch tiefer über ihre Augen. »Das war ein Geschenk meines verstorbenen Mannes. Er hat es mir eine Woche vor seinem Tod auf einem Straßenmarkt gekauft. An Allerheiligen vor einem Jahr.« Ruths Augen wurden feucht, und einen Moment lang befand sie sich nicht länger in der Strickerei – das konnte Aubrey erkennen. Sie stand an einem warmen Oktobertag auf dem Bürgersteig neben ihrem noch lebenden Gatten, der dem Mann hinter dem Klapptisch das Geld überreichte und die Brosche mit einem Lächeln an Ruths Revers befestigte.

Die Regeln darüber, was geopfert werden konnte und was nicht, waren in mancherlei Hinsicht verwirrend. Andenken hatten einen emotionalen Wert, und es war generell akzeptiert, dass bedeutungsvolle Objekte dieser Art als wirkliche Opfer galten und im Turm der Strickerei zu bleiben hatten, solange es diese gab. Geld wurde nur in den seltensten Fällen als bedeutsames Opfer angesehen, denn es konnte immer ersetzt werden. Die Hüterin durfte ihren Kunden nicht vorschlagen, für einen Zauber mit Geld zu bezahlen, doch sie konnte es annehmen, wenn es ihr als persönliches – nicht als magisches – Geschenk angeboten wurde. Diese Gebt-dem-Kaiser-Sichtweise auf Opfergaben tauchte in den Dreißigern zum ersten Mal im »Großen Buch« auf, als die Hüterinnen offensichtlich ein wenig Bargeld für ihren Lebensunterhalt benötigten und herausfanden, dass ihre Zauber nicht darunter litten, wenn sie die Scheine ihrer Kunden behielten – solange auch ein wirkliches Opfer erbracht worden war.

Aubrey nahm all ihren Mut zusammen. »Okay. Zweihundert Dollar.«

Ruth kramte in ihrer Handtasche.

»Und ich … herrje. Ich werde auch die Brosche benötigen.«

Ruth lachte ungläubig. Sie blickte sich um, als erwartete sie, dass sie beobachtet würden. »Was? Wirklich?«

Aubrey nickte.

»Das kann nicht Ihr Ernst sein.«

»Tut mir leid, aber so ist es.«

»Aber … aber sie war ein Geschenk. Für mich. Von meinem Mann. Er hat dafür höchstens zwanzig Dollar bezahlt!«

»Trotzdem.« Aubrey blieb hart. »Wenn Sie wollen, dass der Zauber wirkt …«

Ruth runzelte nun mit panischem Blick die Stirn. Ihre behandschuhten Finger verkrampften sich um den Henkel ihrer Lederhandtasche. »Tausend Dollar. Das ist mein letztes Angebot. Und die Brosche behalte ich.«

Aubrey wünschte, sie könnte ja sagen. Sie brauchte das Geld dringender als Ruths billige Brosche. Dennoch begann sie, sich von ihr abzuwenden.

»Warten Sie!«

Sie blieb stehen.

Ruth hielt ihrem Blick kurz stand, was unangenehm sein musste. Dann entfernte sie langsam, mit zitternden Fingern die Brosche von ihrem Revers. Sie streckte sie weit genug vor sich, um sie ohne die Brille betrachten zu können, die ihr um den Hals hing, und strich mit dem Daumen über die Vorderseite. Aubrey konnte die Fragen in Ruths Kopf geradezu spüren: War der Platz ihrer Familie in der Gemeinde dieses Opfer wert? Würde ihr Mann wütend sein, wenn er irgendwie in seinem Grab davon erführe? Konnte sie den Verlust der Brosche ertragen – die wahrscheinlich das letzte Geschenk war, das er ihr vor seinem Tod gemacht hatte?

Aubrey empfand Mitleid mit ihr. Sie selbst kannte nur zu gut den Wert und den Schmerz von Traditionen. Von einem Platz in der Gemeinde, der persönliche Wünsche übertrumpfte.

»Ich schätze, wenn es keine andere Möglichkeit gibt …« Ruth legte die Brosche behutsam auf die Ladentheke. Einen Augenblick später zählte Aubrey bereits Fünfzigdollarnoten.

»George würde es gutheißen«, murmelte Ruth vor sich hin. »Es ist eine Familientradition. Jede Familie hat ihre Traditionen.«

»Unsere ganz bestimmt«, sagte Meggie.

Aubrey zuckte zusammen – erschrocken von dem Gefühl, dass sie dabei beobachtet worden war, wie sie etwas Falsches getan hatte. Sie blickte von den Geldscheinen auf. Ihre Schwester stand in einer blaugrünen Pyjamahose gegen den Türrahmen gelehnt, hatte die Arme verschränkt und eine Schulter hochgezogen. Aubrey hatte keine Ahnung, wie lange Meggie schon zugesehen hatte.

»Oh, wie nett«, sagte Ruth ausdruckslos. »Margaret. Sie sind wieder da.«

»Ganz wie in den guten alten Zeiten«, erwiderte Meggie.

Aubrey berührte Ruth am Arm. Sie musste ihre Aufmerksamkeit von Meggie ablenken, die vor vielen Jahren einmal ihren nackten Hintern gegen das Fenster eines Innenstadtcafés gepresst hatte, in dem Ruth und ihr Ehemann saßen. »Mrs. Ten Eckye …«, sagte Aubrey laut. »Ich denke, was Sie brauchen, ist ein hübsches Paar fingerlose Handschuhe. Ein Geschenk für Mr. Scott, das er an kühlen Herbsttagen tragen kann. Ich habe da genau das Richtige.«

Sie trat an ein altes, mit Wolle gefülltes Mehlfass, nahm sich ein Knäuel von ganz oben – einen weichen blauschwarzen Strang Wolle – und bürstete den Staub ab. Die Wolle war in all den Jahren ausgebleicht und auf einer Seite schiefergrau geworden. Aubrey hielt sie Ruth hin.

»Muss ich sie stricken?«, fragte Ruth. »Das kann ich nämlich, wissen Sie.«

»Kommen Sie Mittwochmorgen vorbei. Bis dahin sind die Handschuhe fertig. Und natürlich dürfen Sie niemandem etwas davon erzählen, sonst könnte der Zauber aufgehoben werden.«

Ruth nickte, und Aubrey versuchte, ebenso würdevoll und erhaben zu wirken, wie Mariah es getan hatte, wenn sie Aubrey und ihre Schwestern ermahnte, nicht mit den Sachen im Turm zu spielen oder so zu tun, als wäre der Korb für die Wäsche der eines Schlangenbeschwörers. Sie hoffte, dass sie bedrohlich genug aussah.

»Als ob ich das vor irgendjemandem zugeben würde«, erwiderte Ruth.

Was Ruth nicht wusste, was sie nicht wissen konnte, war, dass Mariah die Gefahr, der Zauber würde unwirksam, wenn man darüber sprach, frei erfunden hatte. Keine Öffentlichkeitsarbeit, hatte sie es kommentiert. Wer uns finden soll, wird uns finden. Der Rest ist auf sich allein gestellt.

Meggie äußerte sich vom Türrahmen aus. »Hast du sie auch wegen der anderen Sache gewarnt?«

»Was für eine andere Sache?«

»Du weißt schon, die andere Sache!«

Aubrey blinzelte. Sie war nie gut im Umgang mit Menschen gewesen. Man konnte sie viel zu leicht aus der Fassung bringen. Sie hatte gedacht, sie hätte großartige Arbeit geleistet – bis jetzt, bis ihre Schwester sich eingemischt hatte. »Oh, natürlich. Dazu wollte ich gerade kommen.«

»Wozu?«, fragte Ruth.

Aubrey räusperte sich. »Der Zauber … Es könnte sein, dass er nicht funktioniert.«

»Wofür habe ich Sie denn dann gerade bezahlt?«

»Der Kunde entscheidet selbst, was er opfern möchte – manchmal natürlich mit ein wenig, nun ja, Ermunterung von mir. Aber wenn man den Preis zu niedrig für sich selbst ansetzt …, also … dann geschieht gar nichts.«

Ruth lachte. »Ich hätte also hier hereinmarschieren und Ihnen zehn Dollar anbieten können, und Sie hätten die verfluchten Dinger ebenso gestrickt?«

»Ich habe schon für weniger gestrickt«, gab Aubrey zu und dachte an all die Male, die sie für wertlosen Plunder gestrickt hatte – für einen Plastikschlüsselanhänger, für ein verblichenes Foto –, und wie der Gedanke daran, wie viel Wert in den kleinen Dingen steckte, ihr das Herz gebrochen hatte. Ruth machte ein finsteres Gesicht und verzog den Mund dabei so sehr, dass Aubrey sich fragte, ob sie und ihr böse grinsender Kürbis wohl gemeinsame Vorfahren hatten. »Ich schätze doch, ich erhalte eine Rückerstattung, wenn Todd die Rolle nicht bekommt.«

»Dass Sie sich da mal nicht verschätzen«, meinte Meggie.

Aubrey sah ihre Schwester streng an. »Nein. Tut mir leid. Keine Rückerstattungen. Wenn Sie wüssten, dass Sie Ihr Geld zurückbekommen, würden Sie kein emotionales Risiko eingehen – und das Risiko ist eine der Voraussetzungen dafür, dass ein Zauber wirkt. Bei Magie geht es darum, Vertrauen zu haben.«

»Ohne Vertrauen gibt’s keine Magie«, warf Meggie ein, wobei Aubrey auffiel, dass Mariah immer genau dasselbe gesagt hatte.

Ruth stieß mit ihrem knotigen Zeigefinger in die Luft. »Ihr Mädchen seid unheimlich. Ihr alle. Es ist ein Wunder, dass man eure gesamte Familie noch nicht aus der Stadt geworfen hat.« Sie zog sich das nun nackte Revers ihres Mantels enger um den Hals, bedachte Aubrey mit einem letzten zornigen Blick und verließ dann den Laden. Die Tür der Strickerei sauste auf und ließ eine Bö süßer Herbstluft herein. Dann war Aubrey mit ihrer Schwester allein. Das Zimmer, das ihr zuvor schon klein vorgekommen war, schien noch weiter zu schrumpfen.

»Du weißt schon, dass sie überall herumerzählen wird, dass du eine Hexe bist?«, fragte Meggie.

»Als hätten das nicht schon längst alle gehört.«

»Na komm.« Meggie lächelte und wies mit der Schulter in Richtung Küche. »Auch Hexen brauchen Frühstück.«

Aubrey wies nicht darauf hin, dass es bereits Zeit zum Mittagessen war. Sie ging einfach mit.

* * *

Auszug aus den Nachrufen in den Tarrytown News:

Mariah Van Ripper aus Tappan Square ist diesen Mittwoch überraschend verstorben. Bekannt als laute Stimme gegen den Entwurf für die Horseman Woods Commons, stand sie der Gruppe Tappan Watch vor, die in jüngster Zeit versucht hat, mit einer Kampagne die Neubelebung von Tarrytowns am übelsten heruntergekommenem Stadtteil zu verhindern. Außerdem war sie für ihre Liebe zum Stricken bekannt. Van Ripper hinterlässt drei rechtmäßig adoptierte Nichten sowie eine Großnichte und einen -neffen. Eine formelle Bestattung ist nicht geplant. Anwohner sind jedoch eingeladen, sich am Montag um 16 Uhr im Kingsland Point Park in Tarrytown zu versammeln, um bei einem Picknick Mariah Van Rippers Beitrag zur Gemeinde zu gedenken. Die Polizei wird vor Ort sein.

* * *

Der Abend brach an, und Nessa war unruhig. Carson hatte sie allein gelassen, um in seinem Insektenbuch herumzublättern (er wollte es auswendig lernen, um damit seine blöden Freunde zu beeindrucken, und war schon bis zu Latrodectus mactans gekommen – wobei Nessa nicht verstand, weshalb er nicht einfach wie jeder andere Schwarze Witwe dazu sagen konnte). Aubrey hatte sich zum Stricken in ihr Zimmer zurückgezogen. Meggie war nach draußen gegangen, und als Nessa durchs Wohnzimmerfenster gespäht hatte, sah sie, wie ihre Tante – die so aussah, als könnte sie noch mit Leuten von der Highschool herumhängen – mit irgendeinem Typen redete. Ihre Mutter sprach am Telefon im Flur mit ihrem Vater, und Nessa hatte genug gehört, um zu wissen, dass sie für den Rest des Abends so gutgelaunt sein würde wie ein hungriger Alligator. Es hatte in etwa so geklungen: Natürlich wollte ich, dass du zur Beerdigung kommst. Warum sollte ich nicht gewollt haben, dass du zur Beerdigung kommst? … Schön – na schön. Dann komm eben nicht.

Also war Nessa allein. Sie fühlte sich wie eine in eine Burg gesperrte Prinzessin, nur dass niemand zu bemerken oder sich dafür zu interessieren schien, was sie tat, und wenn sie morgen ausbräche, würde es sicher drei Tage dauern, bis den anderen ihr Verschwinden auffiele. Sie lag auf Mariahs Bett, und ihr Herz war so schwer wie ein Stein auf dem Grund eines kalten Sees. So fühlte es sich also an, auf dem Bett einer Toten zu liegen.

Sie betrachtete das Bild in dem mit Früchten, Ornamenten und kitschigen Girlanden verzierten Goldrahmen, das sie auf Mariahs Frisierkommode gefunden hatte. Das Foto war vor langer Zeit aufgenommen worden, das erkannte Nessa an dem lustig bunten Neunzigerjahre-Blouson, den ihre Mutter darauf trug. Die drei Mädchen standen mit Mariah auf riesigen flachen Steinen am Ufer des Flusses, der an dieser Stelle so breit war, dass er eher wie eine Bucht oder ein See aussah. Das Bild war in die Sonne hinein fotografiert und so überbelichtet, dass die Gesichter mit einem unnatürlichen Leuchten hervorstachen. Alle schienen glücklich zu sein: Aubrey zeigte lächelnd ihre Zahnspange und hatte die Arme um ihre Schwestern gelegt, wobei ihre Schultern so mager waren, dass ihre Brust sich nach innen zu wölben schien. Meggie war ein kleines Kind in rosa Rüschen und neigte den Kopf mit einem fast schon lächerlichen Grinsen zur Seite. Bitty, die etwa fünfzehn sein musste, war dem Anschein nach die Einzige, die auf ihre Pose und ein hübsches Lächeln achtete, um glücklich auszusehen statt einfach nur glücklich zu sein. Und Mariah – das musste Mariah sein – war eine korpulente Frau mit einem breiten, freundlichen Gesicht, die einen Schlapphut trug und eine Art Wollknäuel in der Hand hielt.

Nessa legte das Bild frustriert fort, da es ihr auch keine Antworten lieferte. Nie bekam sie Antworten. Warum waren sich ihre Mutter und ihre Schwestern so lange aus dem Weg gegangen? Soweit Nessa es beurteilen konnte, gehörte man entweder zu einer Familie oder eben nicht. Halb dazugehören war geschwindelt, was die Situation für alle Beteiligten nur schlimmer machte. So gehörte ihr Vater schon seit Jahren nur halb zu ihrer Mutter.

Sie stand auf und drehte eine Runde im Zimmer. Ihre Freunde aus der Schule – mit denen sie im Baumhaus gespielt und die sie die Rutsche hinaufgejagt hatte – waren dabei, sich zu verändern. Ihre Freundin Rachelle hatte letzte Woche eine Zigarette geraucht. Ihre Freunde Eric und Tammy hatten rumgemacht und alle dabei zugucken lassen. Mit Marcus McKerrick hatte sie zwar nichts zu tun, aber sie hatte gehört, dass er für das Klauen einer Zeitschrift Ärger bekommen hatte.

Nessa dagegen war ein braves Kind – vielleicht nicht ganz so brav wie ihr Bruder, aber immer noch brav genug. Ihre Noten waren ganz ordentlich. Sie gab ihren Lehrern keine frechen Antworten, außer diese hatten es wirklich verdient. Wenn ihre Mutter ihr einen bestimmten Film verbot, dann sah sie ihn sich zwar trotzdem an, hielt sich aber bei Gewalt- oder Sexszenen die Augen zu. Manchmal wünschte sie sich, etwas richtig Schlimmes zu tun – obwohl sie keine genaue Vorstellung davon hatte, was für schlimme Dinge sie tun konnte. Und obwohl ihr gleichzeitig klar war, dass sie diese niemals tatsächlich tun würde. Sie hatte die ganze Zeit, ob ihre Mutter nun da war oder nicht, das Gefühl, in einer Zwangsjacke zu stecken.

In Mariahs Zimmer besserte sich ihre Laune kurzfristig. Es war so seltsam: halb Schlafzimmer, halb Museum. In Mariahs Bücherregal standen Gedichtbände neben riesigen Wälzern mit Bildern von Monet und van Gogh und vergilbten Liebesromanen. Sie fuhr mit den Fingern über die alten, merkwürdigen Bücher und wünschte sich, sie hätte ihre Großtante besser gekannt.

Die Langeweile und das Gefühl von Rastlosigkeit kehrten zurück, und sie schloss seufzend Mariahs Schlafzimmertür hinter sich. Sie blickte aus dem Fenster im Flur in die Dunkelheit hinaus. Statt der Fassade des Nachbarhauses mit den fest zugezogenen Vorhängen wäre ihr ein idyllischer, mondbeschienener Abhang mit einem Fluss in der Ferne passender erschienen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie wohl gerade aussehen mochte – wie eine hinter Burgmauern gefangene Jungfer? –, als sie ein Geräusch vernahm. Ein seltsames, gespenstisches Geräusch, ein Zischen und Knallen, ein andauerndes Dampfen. Es war so leise, dass sie es kaum hören konnte, aber es war definitiv da. Ihr Hirn suchte nach Erklärungen: Jemand hatte einen Fernseher angelassen, das Kabel hatte sich gelöst, und nur noch das Rauschen war zu vernehmen. Oder jemand hatte einen Topf auf dem Herd stehengelassen, und nun hörte man das blecherne Klirren vom letzten Rest des kochenden Wassers. Es schien aus der Ferne zu kommen und war eine Mischung aus einem dämonischen Flüstern und dem Knistern und Rascheln einer Schüssel Cornflakes. Kein irdisches Ding machte so ein Geräusch. Nichts Menschliches.

Ihr wurde eiskalt ums Herz, und ihr stellten sich die Nackenhaare auf. Sie war vor Angst wie gelähmt. Was es auch sein mochte, es befand sich im Erdgeschoss. Nessa musste eine Entscheidung treffen: Wohin sollte sie gehen? Dem Geräusch entgegen? Oder davon weg?

Sie schluckte. Ihre Hände kribbelten. Langsam, so langsam sie konnte, trat sie auf die erste Stufe der langen Treppe. Sie verlagerte ihr Gewicht Stück für Stück nach vorn, um das Knarren der Treppe abzuschwächen. Wenn es ein Geist war, wollte sie ihn nicht verschrecken. Sie wollte unbedingt mit ihrem Handy ein Bild von ihm machen, das sie ihren Freunden zeigen konnte. Schritt für Schritt bewegte sie sich die Treppe hinunter. Die Nachtluft war eigenartig – ungewöhnlich feucht für den Herbst. Draußen war es stockfinster, wie sie durch die quadratischen Fenster neben der holzverkleideten Tür sehen konnte. Nebel hatte sich über die Stadt gelegt, der so scheußlich dicht war, dass es schien, als drückte er seine Nase an den Fenstern platt, um hineinzuschauen.

Ihr Fuß fand das Ende der Treppe. Das Geräusch kam aus der Strickstube. Das Flüstern war nun lauter, wie das Knistern eines matten Feuers. Sie zückte ihr Handy in seiner strassbesetzten rosa Hülle und drückte die Taste für eine Videoaufnahme. Dann trat sie mit demselben Ansturm von Heldenmut, der ihr letzten Sommer dabei geholfen hatte, zum ersten Mal vom höchsten Brett im Freibad zu springen, so weit vor, bis sie in die Strickstube spähen konnte, die von Dunkelheit und Geflüster erfüllt war. Schrecklichem Geflüster. Dem Geflüster der Toten. Sie konnte im Dunkeln nichts erkennen, bis sie über die Türschwelle getreten war. Dann brauchten ihre Augen einen Moment, um es wahrzunehmen, und ihr Hirn noch einen Moment länger, um es zu begreifen.

Der Nebel befand sich im Haus, hatte sich auf die Wolle in den Körben und Fässern und Kisten gelegt wie ein Dämon, der mit sehnigen Armen über seinen Schatz wachte. Und das Geflüster – die Wolle selbst schien zu flüstern. Kleine Konsonanten, Ts, Ks, Ps, knallten leise. Nessa streckte eine Hand aus, um sich am Türrahmen festzuhalten, verfehlte ihn jedoch und kippte beinahe um.

Ein Geräusch hinter ihr ließ sie aufschreien.

»Was tust du hier?«, fragte ihre Mutter.

»O Gott!« Nessa wirbelte herum. Ihre Mutter stand im Flur, ins grelle Licht der nackten Glühbirnen an der Decke getaucht. Sie trug einen schwarzen Trainingsanzug mit zwei weißen Streifen, die ununterbrochen von den Fußknöcheln bis zu den Achseln verliefen. »Mom! Mom! Hör doch!« Nessas Flüstern war hysterisch.

Bitty betrat das Strickzimmer.

»Hörst du das?«, fragte Nessa. Das Blut in ihren Adern war gefroren. Der Nebel um sie herum atmete.

Bitty stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete die knisternde Wolle und den Nebel mit nicht mehr Angst, als ein Landvermesser zeigen würde, der seine Aufgabe für den kommenden Tag in Augenschein nahm. Nessa ärgerte sich darüber, dass ihre Mutter so gleichgültig war. Doch plötzlich erfüllte sie eine ganz andere Sorge. Was, wenn ihre Mutter die Wolle gar nicht knistern hören und den scheußlichen Nebel gar nicht sehen konnte? Was, wenn nur Nessa dazu in der Lage war? Was, wenn sie wie eines dieser unschuldigen Kinder aus den Filmen war, die immer von wütenden Geistern Ermordeter verfolgt wurden?

Dann öffnete ihre Mutter endlich den Mund: »Ja. Verstörend, nicht?«

Und der ganze furchtbare, wundervolle, schreckliche, aufregende Spuk war vorüber.

»Das ist eine komische Sache, die da passiert«, sagte ihre Mutter. Sie hätte genauso gut über Algebra oder irgendetwas, das sie im Fernsehen gesehen hatte, sprechen können. »Wenn die Luftverhältnisse genau richtig sind. Die Temperatur und die Feuchtigkeit und so. Dann kondensiert der Nebel in der Wolle.«

»Aber woher kommen die Geräusche?«, fragte Nessa.

»Das weiß ich nicht genau. Wolle ist ja eine Naturfaser. Und die nimmt irgendwie die Feuchtigkeit auf, wie die Erde. Oder so. Und dann biegen und strecken sich die Fasern, und das macht dann diese leisen Geräusche. Ich weiß nicht, ob ich das ganz richtig erkläre. Jedenfalls ist es etwas Wissenschaftliches.«

Nessa wurde das Herz schwer. Sie hatte nicht gedacht, dass sie so enttäuscht sein würde. »Ich dachte, es wäre ein Geist.«

»Nee.« Bitty nahm eine Strähne von Nessas rotem Haar und schob sie ihr ohne ersichtlichen Grund hinter die Schulter. »In diesem Haus gibt es keine Geister.«

»Bist du dir sicher?«

»Absolut«, erwiderte ihre Mutter. Und ihre Überzeugung war so stark, so unerschütterlich, dass Nessa sich auf der Stelle sicherer fühlte. Aber auch ein bisschen traurig.

»Hol mal deinen Bruder«, schlug Bitty vor. »Der findet das bestimmt toll.«

»Okay«, sagte Nessa. Und sie trat zum Fuß der Treppe, öffnete den Mund und brüllte nach ihrem Bruder, schrie sich die Lunge aus dem Leib, schrie und schrie, bis ihre Mutter sagte, sie solle damit aufhören, doch sie konnte nicht, nicht einmal, als Carson zerzaust und verwirrt oben an der Treppe erschien. In ein paar Minuten würde sich der Nebel verzogen haben.

* * *

Aubrey brach irgendwann während der wirren, vergessenen Stunden zwischen Mitternacht und Morgendämmerung vollkommen erschöpft und ausgelaugt auf dem Stuhl in ihrem Schlafzimmer zusammen. Ihre Muskeln hatten sich verkrampft, sie hatte Kopfschmerzen, und ihre Augäpfel taten so weh, als hätten sich zwei Hände darum geschlossen, die nun kräftig zudrückten. Es war wie jedes Mal. Auf ihrem Schoß lagen zwei fingerlose Handschuhe. Fertig.

Das Bild von Ruth Ten Eckyes Handschuhen hatte sich in ihrem Kopf geformt, lange bevor sie mit dem Stricken begonnen hatte: gerippte Bündchen, das Innenfutter hoch aufragend wie ein Burgturm, Masche für Masche, Stein für Stein; der Zwickel für den Daumen – entstanden aus einer fensterartigen Öffnung – zweigte nahtlos nach außen ab, die röhrenförmigen Zinnen entfalteten sich, wo die Finger herausragen würden, um ihre Arbeit zu verrichten – sie hatte all das vor sich gesehen, so dass das Muster bereits fest in ihrem Unterbewussten verankert war, als sie den Zopfmusteranschlag vorbereitet und vierundvierzig kleine Maschen gleichmäßig auf einem Nadelspiel verteilt hatte und sich nur noch selbst aus dem Weg treten und ihre Finger fliegen lassen musste, um ihm zu folgen.

Aubrey strickte leidenschaftlich gern. Wenn sie um des Strickens willen strickte und nicht, um einen Zauber zu wirken, genoss sie es. Es war angenehm, befriedigend und beruhigend. Aubrey gefiel es, ihren Projekten Zentimeter um Zentimeter beim Wachsen zuzusehen, bis sie auf das zurückblicken konnte, was sie geleistet hatte, und abmessen, wie weit sie schon gekommen war. Auch wenn sie keinen Zauber strickte, bemühte sie sich bei der Arbeit stets um eine positive Einstellung und fügte gern zumindest ein paar Maschen ihre wärmsten Wünsche und Segnungen hinzu.

Doch wenn sie einen Zauber strickte, einen bewussten, zielgerichteten Zauber, dann war das etwas anderes. Sie brachte im Geiste das größtmögliche Maß an Fokussierung und Konzentration auf; sie schüttete sich selbst aus und wrang sich geradezu aus. Es war nicht so, dass sie diesen Prozess auf einer gewissen Ebene nicht auch genießen konnte. Ihr gefiel die Intensität daran, das Gefühl, als würde sie von einem wild gewordenen Kutscher vorangetrieben, der seine Pferde – schneller, schneller! – in eine teuflische Raserei peitschte. Doch am Ende der Hatz, wenn sie fertiggestrickt hatte und sich so leer fühlte, dass sie das Geräusch der aneinanderprallenden Luftpartikel hören konnte, dann blieb ihr nichts anderes als der todmüde Optimismus, der Zauber möge so »hängenbleiben«, wie sie es geplant hatte.

Nun waren die fingerlosen Handschuhe fertig. Und mit etwas Glück, mit der Macht von Ruths Opfer und Aubreys Wünschen würden sie wirken.

Sie stand vorsichtig auf, wobei ihre Knie knirschten wie sprödes Leder, und trat an die Kommode am Fenster, auf der der massive Wälzer mit Stoffeinband lag, den ihre Familie seit 1867 zur Buchführung verwendete. Das »Große Buch im Flur« befand sich nicht mehr an seinem ursprünglichen Platz, doch der Name war geblieben – auch, weil es nicht ganz so eindrucksvoll geklungen hätte, es das »Große Buch im Gästezimmer« oder das »Große Buch auf Aubreys Kommode« zu nennen. Wie einst die alten Bibeln in den holländischen Bauernhäusern wanderte das heilige Buch der Strickerei im Laufe der Jahrhunderte von Raum zu Raum, doch es bekam stets einen Platz in Fensternähe. Wenn jemals ein Feuer das alte Fachwerkhaus plündern und zerstören sollte, dann konnte das »Große Buch im Flur« schnell hinausgeworfen werden, in Sicherheit.

Nachdem sie Ruths Namen, eine Beschreibung ihrer Opfergaben und ihre Adresse – nach der Aubrey nicht hatte fragen müssen, da in Tarrytown einfach jeder wusste, wo Ruth Ten Eckye lebte – eingetragen hatte, nahm sie Ruths Anstecker vom Tisch neben sich und trug ihn ehrfürchtig in der hohlen Hand wie ein Glühwürmchen die gewundene Turmtreppe hinauf. Mit Mariahs Tod war Aubrey zur offiziellen Hüterin der Strickerei geworden. Nun war alles ihres: ihre Last, ihre Verantwortung, ihre Freude. Sie konnte nur hoffen.

Sie legte Ruths Kürbisbrosche zu all den anderen Reliquien und verließ den Turm sofort wieder. Dann ging sie die Treppe hinunter und warf sich bäuchlings aufs Bett, zu erschöpft, um sich auszuziehen.

* * *

»Glaubst du, dass sie glücklich ist?«, fragte Meggie. Sie lagen nebeneinander auf Meggies alter Steppdecke und ließen die Füße vom Bettrand baumeln. Es war spät in der Nacht, doch Meggie war nicht müde. Sie machte sich Sorgen um Aubrey. Einiges an ihrer Lebensweise, was Meggie noch nicht wahrgenommen hatte, als sie die Strickerei vor vier Jahren verließ, erschien ihr nun bedenklich.

»Kann ich mir nicht vorstellen«, meinte Bitty. »Sie führt das reinste Eremitendasein.«

»Sie hat eine Freundin. Jeanette scheint cool zu sein.«

»Sie kennt vielleicht ein paar Leute, aber sie hat kein Sozialleben«, entgegnete Bitty. »Bloß ihren Job in der Bibliothek, die Strickerei und den Igel. Sie sitzt die ganze Zeit zu Hause. Und jetzt, wo Mariah tot ist, wird es noch schlimmer werden.«

»Und was denkst du, was sie will?«

»Keine Ahnung.« Bitty zog sich das lange Ende ihres Pferdeschwanzes vors Gesicht und betrachtete die Spitzen mit zusammengekniffenen Augen. »Vielleicht glaubt sie, dass es nicht darauf ankommt, was sie will.«

»Ich schätze, das Gefühl kenne ich«, meinte Meggie. Sie schwieg, doch ihre Schwester hing ihren eigenen Gedanken nach und fragte sie nicht, was sie damit sagen wollte.

»Wenn sie hierbleibt …«

»Ich weiß«, erwiderte Bitty. »Es ist gefährlich.«

Sie schwiegen. Meggie wusste, dass sie beide an ihre Mutter dachten.

»Wir müssen ihre Entscheidung akzeptieren«, schloss Bitty. »Wir können sie nicht retten, wenn sie es nicht will.«

»Aber wir müssen es zumindest versuchen.«

Aus dem Großen Buch im Flur

Woher kommt der Drang, etwas zu erschaffen? Kinder kritzeln Smileys auf die Schuhe ihrer Freunde. Mütter flechten ihren Töchtern das Haar. Väter zeigen ihren Söhnen, wie man Laubsäge, Pinsel oder Zange verwendet. Der Impuls, etwas zu schaffen, ist ein Geschenk und ein Segen. Doch man muss achtgeben, dass er nicht verdorben wird. Es verläuft eine Grenze zwischen Leidenschaft und Obsession, zwischen Sehen und dem Glauben, man könne sehen.