Stricke links
Craig Fullen war ein großer Mann. Im College war er imposant und muskulös gewesen, ein junger Mann wie ein Ochse mit breiten Schultern. Doch nun, da seine Studentenjahre weit zurücklagen, war seine Masse nicht mehr ganz so fest. Er hatte gepflegtes schwarzes Haar und ein attraktives Gesicht mit einer wohlproportionierten Nase. Man behielt ihn in Erinnerung. Nicht etwa, weil er originelle Dinge sagte oder aus der Menge herausstach, sondern weil er gerade genug von allem war: attraktiv genug, witzig genug, arrogant genug und freundlich genug – nur genug und niemals zu viel. Zumindest war das der Eindruck, den die Leute von ihm hatten.
Nun stand er im Garten der Strickerei, brüllte, dass sich sein gewaltiger Brustkorb hob und senkte, und hielt eine Faust in die Luft gestreckt wie ein umgekehrtes Ausrufezeichen. Bitty hatte vorgeschlagen, er solle hereinkommen, damit sie sich in Ruhe unterhalten konnten. Doch er hatte sich geweigert, denn auf dem rostigen und mit Schlaglöchern übersäten Schrottplatz, der Tappan Square war, gab es keinen Grund, seine guten Manieren an den Tag zu legen. Mit der Inbrunst und dem Bauchansatz eines Tenors donnerte er seine Frau an und verlangte, dass Bitty die Kinder mit gepackten Koffern zu ihm nach draußen schickte.
»Du hast gar keine andere Wahl!« Er hielt sein Handy in die Luft, das in der Dunkelheit wie ein Scheinwerfer leuchtete. »Wenn du die Kinder nicht sofort zu mir rausschickst, rufe ich die Polizei.«
Bitty blickte von der Veranda aus auf den Mann hinab, den sie geheiratet hatte. »Sei kein Arschloch.«
»Ich bin das Arschloch? Ich?«
»Ich sehe keinen anderen Mann mittleren Alters, der in Kälte und Dunkelheit steht und sich die Seele aus dem Leib brüllt – also, ja: du.«
»Elizabeth«, sagte Craig drohend. »Du solltest dir gut überlegen, was du sagst.«
»Wieso?«
»Wenn du auch nur daran denkst, dich von mir scheiden zu lassen, wenn es je dazu kommen sollte, hast du mir gerade einen entscheidenden Vorteil verschafft.«
»Wie kommst du darauf?«
»Hast du wirklich gedacht, ich würde zulassen, dass du mir einfach unsere Kinder wegnimmst? Dass ich nicht nach ihnen suchen würde? Was du getan hast, nennt man Kidnapping – darüber besteht kein Zweifel. Du hast unsere Kinder heimlich und ohne meine Erlaubnis fortgebracht. Du hast sie entführt. Und ich bin so kurz davor, die Polizei zu rufen.«
Bitty drehte sich der Magen um. O Gott. Hatte sie die Kinder etwa tatsächlich entführt? Als sie verschwunden war und Craig nur eine Nachricht hinterlassen hatte, hatte sie ihn vor allem ein bisschen ärgern wollen. Sie war allgemein sauer. Aber – Kidnapping? Konnte man, was sie getan hatte, auf diese Weise missverstehen? Sie begann zu zittern.
»Ich habe sie nicht entführt.«
»Verschwende deine Zeit nicht damit, mich davon zu überzeugen«, erwiderte er. »Spar dir das für die Cops.«
»Das würdest du unseren Kindern nicht antun«, sagte sie.
»Ach nein?« Er lachte. »Wollen wir wetten?«
»Ich lasse nicht zu, dass du sie bekommst«, presste sie zwischen den Zähnen hervor.
»Ich lasse nicht zu, dass du sie bekommst«, gab Craig zurück. »Nicht jetzt. Und wenn du dich weiter so anstellst, niemals.«
»Wie bitte?«
»Du weißt, dass ich diese Müllhalde nicht betreten werde.« Er wies mit vor Abscheu gekräuselter Lippe auf die Strickerei. »Also schön. Du hast es geschafft, sie ein paar Tage vor mir fernzuhalten. Aber wenn du denkst, dass du die Oberhand gewinnst, indem du dich von mir scheiden lässt, dann hast du dich geschnitten! Ich werde bessere Anwälte haben als du. Viel bessere. Du bekommst irgendeinen vom Staat zugewiesenen Tölpel und einen Eintrag ins Vorstrafenregister für Kindesentführung.«
Bitty lachte, als hätte er gerade einen Witz erzählt. Doch die Angst kroch ihr vom Magen in die Brust, legte sich eng um sie und stieg ihr in den Hals hinauf, wo sie sich festsetzte. Sie suchte am Verandapfosten Halt und hoffte, die Geste wirke eher fröhlich als verzweifelt.
»Und was willst du mit unseren Kindern vierundzwanzig Stunden am Tag tun, während du im Büro oder auf einer Cocktailparty bist oder wo du sonst immer hingehst? Ich glaube nicht, dass du eine Vorstellung davon hast, wie es ist, Kinder großzuziehen. Und ich glaube nicht, dass du das überhaupt allein tun wolltest.«
»Wer sagt denn, dass ich es allein tun würde?«, fragte Craig.
Bitty musste sich vor Schmerzen fast krümmen. Ihre Fingernägel bohrten sich in das Holz. »Was willst du?«
»Dieses lächerliche Machtspielchen endet jetzt. Ich nehme die Kinder wieder mit zurück. Es sind meine Kinder. Und wenn du weißt, was gut für dich ist, dann schickst du sie jetzt sofort raus. Ich gebe dir fünf Minuten. Warum bist du noch hier? Geh!«
»Okay, ich habe dich gehört. Wie die gesamte Nachbarschaft«, erwiderte Bitty. Das Hämmern ihres Herzens dröhnte so laut in ihren Ohren, dass sie sich selbst kaum hören konnte. »Aber … warte einen Moment.« Sie drehte sich um. Die Haustür stand offen, der Flur schloss sie in seine Arme, und sie war froh, dass sie drinnen und Craig draußen im Garten war, und fühlte sich tatsächlich ein wenig erleichtert, sich hinter den Mauern der Strickerei zu befinden.
Seit ihre Erwachsenenpersönlichkeit begonnen hatte, sich herauszubilden, hatte Bitty stets versucht, die Dinge unter Kontrolle zu halten. Und sie war damit auf bewundernswerte Weise erfolgreich gewesen – ohne auf das unzuverlässige und jämmerliche Hilfsmittel der Magie zurückgreifen zu müssen. Sie hatte sich beigebracht, Männer in sie verliebt zu machen, und dann hatte sie sich Craig geangelt. Sie hatte sich mit ihm zusammengetan, weil sie wusste, dass er ihr ein stabiles, anständiges Leben bieten würde; genau wie sie strebte er ein perfekt geordnetes Dasein an. Problematisch wurde es, als Craigs Vorstellung von einem guten Leben anfing, mit Bittys Vorstellung zu kollidieren und diese sogar zu beschneiden. Und nun standen sie hier.
Sie steuerte auf die Küche zu, wo ihre Familie Zuflucht gesucht hatte. Aubrey, die über den Garten eines Nachbarn durch die Hintertür ins Haus geschlüpft war, trug immer noch, was sie für ihr unterbrochenes Date ausgewählt hatten. Neben ihr saß Meggie, ihr kleines Koboldgesicht zerknittert vor Sorge. Bittys Kinder standen so eng beieinander, dass ihre Schultern sich berührten.
»Mom?«, fragte Carson.
»Es ist alles in Ordnung«, erwiderte Bitty. Sie ging zu ihm und gab ihm einen Kuss auf den Kopf, auf sein babyweiches Haar. Sie tat dasselbe bei ihrer Tochter, die nach Erdbeershampoo roch.
»Lass mich raten«, meinte Nessa. Sie ahmte die Stimme ihrer Mutter nach: »Das ist etwas zwischen mir und eurem Vater.«
»Das hilft uns jetzt auch nicht«, erklärte Bitty. In der Strickerei war es plötzlich fürchterlich heiß, und sie schwitzte. »Ich möchte, dass du deinen Bruder sofort nach oben bringst.«
Nessa seufzte. »O Mann. Komm, Carson.«
Sie führte ihren Bruder an der Hand davon. Die Küche veränderte sich bei ihrem Weggang, als wäre ein Teil der Luft mit ihnen verschwunden. Bitty sah ihre Schwestern an, die wiederum sie ansahen. Sie war mit den Nerven zu sehr am Ende, um sich dafür zu schämen, dass die Wahrheit über ihr Leben, diese stillose, vulgäre Geschmacklosigkeit, ans Licht gekommen war. Sie war, wer sie war, wer sie tief in ihrem Herzen immer geblieben war – Bitty, die die Strickerei niemals verlassen hatte. Und ihre Schwestern wussten es.
»Ist er betrunken?«, fragte Meggie. »Ist er ein Trinker?«
»Nein«, erwiderte Bitty. Sie spürte die Feuchtigkeit an ihrem Haaransatz. »Er bekommt nur manchmal Wutanfälle. Er unterdrückt Dinge so lange, bis er mit einem lauten Knall explodiert. Aber das hier … das ist unglaublich.«
»Was sollen wir tun?«, fragte Meggie.
Bitty seufzte und sprach dann aus, was seit dem Tag in ihrem Kopf herumgeisterte, an dem sie verstanden hatte, dass ihr Mann sie nicht mehr liebte, sie aber auch nicht gehen lassen wollte. »Was kann ich tun?«
Ihre Schwestern antworteten nicht. Sie schienen begriffen zu haben, dass man zu Craig nicht einfach nein sagen konnte; er würde die Strickerei nicht ohne seine Kinder verlassen. Selbst wenn Bitty ihm logische Argumente lieferte, waren die Kinder zu einer Frage des Stolzes geworden.
Bitty presste Daumen und Zeigefinger gegen den Nasenrücken und kniff die Augen zusammen. »Ich schicke die Kinder nicht mit ihm nach Hause«, sagte sie. »Es wäre nicht sicher. In seinem Zustand sollte er überhaupt nicht fahren, und schon gar nicht mit den Kindern.«
»Gut«, sagte Meggie.
»Also werde ich sie selbst fahren.«
»Bitty!« Aubreys Ausruf war so scharf, dass Bitty zusammenzuckte. »Nein!«
»Ich muss es tun. Er hat recht. Es sind auch seine Kinder. Und ich habe sie einfach … mitgenommen.«
»Zu einer Beerdigung«, betonte Meggie. »Du hast sie zu einer Beerdigung mitgenommen, bei der er auch hätte erscheinen sollen, wenn er denn nur ein halber Mann wäre.« Bitty konnte ihre Empörung über diese Bemerkung nicht verstecken, und Meggie streckte die Hände nach ihr aus. »Ach Gott, Bit. Ich kritisiere dich doch gar nicht. Der Typ hat sich als totaler Scheißkerl herausgestellt. Das ist nicht deine Schuld.«
»Er ist kein … Scheißkerl. Er arbeitet wirklich viel. Er verdient in einem Jahr mehr Geld, als manche Menschen in ihrem ganzen Leben jemals zu Gesicht bekommen. Und egal, wie er mir gegenüber empfinden mag, er liebt die Kinder.« Bitty drückte sich von der Wand ab. Als sie erneut das Wort ergriff, wusste sie, dass sie ihre Entschlossenheit festigen und sich selbst davon überzeugen wollte, dass sie das Richtige tat. »Okay. Es ist alles in Ordnung. Ich dachte mir, dass wir vielleicht ohnehin gehen müssen … mit Nessa und dem Stricken und so bin ich mir nicht sicher, ob wir länger hierbleiben sollten.«
»Aber was, wenn es eine Möglichkeit gäbe?«, fragte Aubrey. »Wenn du noch eine Weile in der Strickerei bleiben könntest, würdest du es dann wollen?«
In der Küche wurde es still. Auch das Haus war vollkommen still, und Bitty fand, dass es so schien, als würde die Strickerei auf eine Antwort von ihr warten. Aubrey hatte die Frage gestellt, die Bitty sich selbst nicht stellen wollte. Sie sah Meggie an – ihre alberne Frisur, ihre samtige Kinderhaut. Sie sah Aubrey an, deren Make-up unter den Augen verschmiert und deren Mund von Sorgenfalten umgeben war. Vielleicht wollte Bitty nicht für immer in der Strickerei bleiben. Aber noch war sie nicht bereit, zu gehen. Sie erkannte, dass ihre Schwestern für sie kämpfen und alles tun würden, was nötig wäre. Und ihre Loyalität und Hingabe rührten sie. Sie hatte vergessen, wie es war, ihre Schwestern zu lieben, wenn diese Liebe direkt vor ihr stand und nicht aus der Ferne projiziert wurde.
»Ja. Ich möchte bleiben«, sagte sie.
»Dann ist es schon erledigt«, stellte Aubrey fest und klatschte in die Hände. Das Blau ihrer Augen blitzte schimmernd auf wie eine vorüberschwirrende Libelle. »Was kannst du als Opfer anbieten?«
»O nein, warte«, erwiderte Bitty. Ihre Hoffnung schwand – sie hätte es wissen müssen. »Ich wusste nicht, dass wir hier über Zauberei sprechen.«
»Einen Versuch ist es wert«, meinte Aubrey.
»Liebe Güte.« Bitty schüttelte den Kopf und lachte bitter vor Enttäuschung. »Zauberei. Ich dachte, du hättest vielleicht einen richtigen Plan. Das ist doch lächerlich.«
Meggie fasste sie am Arm. »Was lächerlich ist, ist, dass du eventuell die Möglichkeit hast, die Kinder bei dir in der Strickerei zu behalten, so dass du erst zu ihm zurückzukehren brauchst, wenn es dir passt, du aber stattdessen lieber rausgehen, dich auf den Rücken rollen und sagen willst: ›Okay, du hast gewonnen.‹ Das ist lächerlich.«
Bitty brachte keinen Ton hervor.
Meggie ließ sie los. Ihr Haar ragte in dicken, steifen, dornenartigen Stacheln auf. »Außerdem, was gibst du den Kindern denn für ein Beispiel, wenn du sie jetzt packst und nach Hause gehst? Nessa ist ein kleines Mädchen, das von dir lernen muss, stark zu sein. Ich weiß nicht, was mit Craig los ist, aber ich würde nicht wollen, dass meine Tochter eine solche Lektion lernt.«
Bitty schwieg. Sie hatte das Gefühl, für ihre Fehler zu büßen, und hasste es, das zuzugeben. Vor allem, da ihre Schwestern nicht einmal die Hälfte der Geschichte kannten. Sie war kein gutes Vorbild: Manchmal war sie hartnäckig, dann wieder ein Fußabtreter. Sie hatte gehofft, der zeitweilige Rückzug in die Strickerei würde ihr geistige Stärke oder zumindest Klarheit verschaffen.
»Aber … ein Zauber?«, brachte sie lahm hervor.
»Sieh es doch mal so: Es kann nicht schaden«, meinte Meggie.
Bitty verschränkte die Arme und richtete den Blick an die mit Wasserflecken übersäte Decke. »Wenn du es versuchen möchtest, werde ich wohl nicht nein sagen.«
»Prima.« Aubreys Tonfall war ungewöhnlich autoritär. »Weiß Craig über die Magie und das Stricken Bescheid?«
»Wenn, dann nicht von mir. Er hätte mich für verrückt erklärt.«
»Das sollte die Sache einfacher machen«, meinte Aubrey. »Und nun, Bit – dies ist nicht der richtige Zeitpunkt für rationale Analysen, okay? Schnell, was wäre es dir wert, mit deinen Kindern noch ein paar Tage hierbleiben zu können? Denk nicht lange nach, sag es mir einfach. Schnell. Was ist es wert?«
»Ich weiß nicht. Ich schätze …«
»Was?«
Bitty vernahm die Härte in ihrem Lachen. Sie griff nach ihrem Ehering; er war buttergelb und völlig schlicht – das am wenigsten exklusive Schmuckstück, das sie besaß.
»Ernsthaft?«, fragte Meggie. »Bist du dir sicher?«
»Erscheint mir wie ausgleichende Gerechtigkeit«, erwiderte Bitty. Sie drehte ihn von ihrem Finger und ließ ihn in Aubreys Handfläche fallen.
Meggies Tonfall wurde sanft: »Aber was wirst du Craig sagen, was du damit getan hast? Was, wenn du den Ring zurückbekommen musst?«
»Als ob er sein Fehlen bemerken würde«, erwiderte Bitty. »Außerdem kann ich Craig immer bitten, mir einen neuen zu kaufen. Einen richtig teuren mit so vielen Diamanten, dass man ihn vom Mars aus sehen kann.«
Aubrey schloss die Hand um den Ring, und er war fort. Für immer, stellte Bitty fest. Fort. Sie hatte Witze gemacht, dabei hätte sie sich verabschieden sollen. Der Verlust war real und wog schwer, und sie erkannte, dass es doch nicht so einfach und unkompliziert war, ihn aufzugeben, wie sie gehofft hatte. Aubrey ergriff das Wort: »Das ist der Plan: Meggie, geh raus und halte Craig hin.«
»Wird gemacht«, erwiderte diese.
»Bitty, du gehst hoch zu den Kindern. Wir rufen dich, wenn wir fertig sind.«
»Okay«, sagte Bitty.
Meggie war bereits durch die Haustür verschwunden, und Bitty machte einen Schritt in Richtung Treppe, als Aubrey sie zurückrief. Sie drehte sich um.
»Ich bin froh, dass ihr bleibt«, sagte Aubrey.
»Wollen wir es hoffen«, erwiderte Bitty.
* * *
Aubrey schürfte sich die Fingerknöchel an der rauen Wand eines Holzfasses auf. Sie wühlte sich durch dicke, schwammige Wollknäuel. Wo war er nur? Vor Jahren hatte sie einen Schal begonnen – ganz einfallslos mit einem Zwei-rechts-zwei-links-Rippenmuster. Sie hatte ihn beiseitegelegt, als sie sich an ein vielversprechenderes Projekt machte, hatte die Maschen auf einen silbernen Maschenhalter geschoben und dann weggeräumt. Nun wäre er genau das, was sie brauchte: fast fertig, ein unbeschriebenes Blatt, ein Stoff, der bereit war für eine Spritze Magie.
Erst auf dem Boden des Fasses fand sie ihn und dachte: War ja klar. Sie ergriff den angefangenen Schal, schnappte sich Nadeln von der Theke und setzte sich damit auf eine versiegelte Holzkiste. Sie hatte keine Zeit, geruhsam Kerzen anzuzünden und ein stummes Gebet zu sprechen. Sie musste ihren Kopf rasch freibekommen und sofort loslegen.
Doch ihre Gedanken waren wirr. Ihr fehlte es nicht an Konzentration, sie war nicht abgelenkt im eigentlichen Sinne. Aber sie zweifelte an sich, an ihren Fähigkeiten. Sie wusste nicht einmal, ob es überhaupt möglich war, einer halbfertigen Arbeit einen Zauber einzupflanzen – vielleicht war der Schal schon zu weit fortgeschritten, und die Magie würde davon abperlen wie Regenwasser, das eine Straße hinunterrinnt. Sie erkannte, wie wenig sie eigentlich über das Handwerk ihrer Familie wusste, wie sehr sie sich stets auf Mariah verlassen hatte und wie viele Fragen sie dieser hätte stellen sollen, als sie noch am Leben war. Aber sie hatte immer geglaubt, Mariah und sie hätten noch so viel Zeit, bis die Zeit eines Tages plötzlich um war.
Mari, flüsterte sie in Gedanken. Wenn Bitty geht, weiß ich nicht, ob sie je zurückkommen wird.
Sie schloss die Augen und hielt die Nadeln in den Händen, ruhig und im Gleichgewicht. Sie atmete aus. Und dann hatte sie das Gefühl, Mariah wäre bei ihr, als befände sich ihre Tante mit ihr im Raum, um sie zu beruhigen, ihr ihren Segen zu geben und ihr zu versichern, dass alles gut werden würde. In ihrem Geist kehrte Leere ein. Ihre Finger begannen, sich zu bewegen – sie arbeiteten nun nicht mehr an einem Rippenmuster, sondern nahmen den schnellsten Weg, die Maschen an ihren Platz zu bringen. Es gab nur noch das Stricken, die Dunkelheit, Mariah, die Kraft, eingepflanzt in ihr Herz wie ein Samen, und den Schnellfeuermechanismus ihrer Hände.
* * *
»Bitty!«
Bitty hörte, wie ihre Schwester versuchte, ganz normal zu klingen, als sie das Treppenhaus hinaufrief. Nessa und Carson zogen unter Bittys Armen die Schultern zusammen. Fünfzehn Minuten waren vergangen, seit Aubrey in der Strickstube verschwunden und Meggie hinausgegangen war, um Zeit zu schinden. Und Bitty hatte einen Nervenzusammenbruch.
Sie wusste nicht, wie sie ihren Kindern erklären sollte, was ihre Schwestern taten, was sie ihnen erlaubt hatte zu tun. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie es ihnen überhaupt sagen sollte, da sie bezweifelte, dass eine Mutter, die ein gutes Vorbild abgeben wollte, versuchen würde, das Gehirn ihres Ehemannes mit Hilfe von Magie zu kapern, an die sie selbst angeblich nicht glaubte und an die zu glauben sie ihren Kindern verwehrt hatte. Sie hatte nicht mehr als eine lasche Erklärung für das merkwürdige Verhalten ihrer Familie anzubieten: Tante Meg wollte sich kurz mit Dad unterhalten. Ihre Kinder glaubten ihr mit jenem trägen Widerwillen, den eine bequeme Lüge hervorruft.
Bitty fühlte sich noch elender als in dem Augenblick, in dem Craig aufgetaucht war. Es war schlimmer als der Moment, in dem er damit gedroht hatte, die Polizei zu rufen. Ihre Zweifel verursachten ihr Magenkrämpfe. Verhielt sie sich nicht wie eine Atheistin, die nach einer Beerdigung anfängt, von Engeln und einem besseren Ort zu reden; war sie nicht so heuchlerisch wie jemand, der bis zu dem Tag übers Beten spottet, an dem sein Auto über dem Rand einer Klippe hängt?
Ihr wurde bewusst, dass es stimmte, dass Krisen die wahre Natur der Menschen zum Vorschein brachten – und dass diese Krise ihre wahre Natur zeigte. Zugleich sorgte sie sich, ob dieses spezielle Drama sie womöglich nicht so sehr dazu gezwungen hatte, die Wahrheit über sich selbst anzuerkennen, sondern, im Gegenteil, diese zu verraten. Und das fühlte sich einfach nur falsch an.
»Bitty? Bit!« In Meggies Stimme schwang Panik mit.
Bitty riss sich zusammen. »Bleibt hier«, wies sie die Kinder an. Sie eilte durch den Flur und traf Meggie auf halber Treppe. »Was ist los?«
»Unser Kumpel Craig hat die Polizei gerufen. Zumindest behauptet er das. Sie sind unterwegs.«
»Scheiße. Was, wenn er ihnen erzählt, ich hätte die Kinder entführt? Was, wenn sie sie mir wegnehmen?«, flüsterte Bitty. Nun geriet sie vollends in Panik. Die Tränen, die sie bislang zurückgehalten hatte, begannen zu fließen. »Was soll ich nur tun?«
»Alles wird gut«, sagte Meggie. »Das verspreche ich. Alles wird gut werden.«
Gemeinsam polterten sie die Treppen ins Erdgeschoss hinunter. Sie blieben im Türrahmen der Strickstube stehen, traten mit keinem Zeh über die Schwelle des Raumes, den Aubrey besetzte. Das Licht aus dem Flur drang in die Strickstube hinein, verlor sich aber in deren Schatten. Eine unheimliche und vollständige Stille hatte sich im Zimmer breitgemacht, so dass nicht einmal das Ticken der Uhr an der Wand zu hören war. Aubrey hockte auf einer Kiste und hätte aus Stein sein können, wären da nicht das Flattern ihrer Hände und das Band aus schwarzer Wolle gewesen, das aus dem Knäuel herauswanderte.
»Aubrey. Wir haben keine Zeit mehr«, sagte Meggie.
Bittys Herz pochte wild. Die Muskeln unter ihrer Haut zuckten. Sie war entsetzt, dass ihre Hoffnung an dem Stofffetzen in Aubreys Händen hängen sollte.
Meggie sah Bitty an. Ihre Schwester hatte sich nicht gerührt. Sie versuchte es erneut. »Hey, Aub – «
Aubrey öffnete die Augen.
Bitty schrie auf und hob instinktiv die Hände zu ihrem Schutz. »O mein Gott!« Die Strickstube war in grell flackerndes blaues Licht getaucht, Blau drang in die Ritzen der Balken und hämmerte gegen die Wände, ein Blau wie ein brennender Stern kurz vor der Implosion.
»Was zur Hölle ist da los?«, brüllte Craig durchs Fenster.
Bitty brachte keinen Ton hervor.
Doch dann blinzelte Aubrey. Nur einmal. Und mit einem lauten Knall wie von einer Pistole war das Licht von einem Augenblick auf den anderen verschwunden. Kühle, wohltuende Dunkelheit lag über der Strickstube. Bitty stellte fest, dass der Strom in der Strickerei ausgefallen war. Die Straßenlaternen vor dem Fenster waren die einzige Lichtquelle.
Aubrey zerrte die Nadel aus ihren Maschen wie ein Krieger, der ein Schwert schwang. »Nimm ihn«, forderte sie Bitty auf und schwang den Schal durch die Luft. »Mach schon!«
Benommen trat Bitty einen Schritt vor und nahm den Schal entgegen. Sie hatte sich erst wenige Meter entfernt, als Aubrey zusammensackte und sich übergab.
Bitty blieb stehen.
»Keine Sorge, ich kümmere mich um sie.« Meggie eilte an Aubreys Seite. »Geh schon.«
»Bist du dir sicher?«
»Habe ich erwähnt, dass die Cops jeden Augenblick hier sein werden? Nun geh!«
Bitty rannte aus der Strickstube.
Ihr Mann, der im Garten hin und her gelaufen war, blieb stehen und blickte zu ihr auf, sein Oberkörper so breit wie der eines Schwarzbären, seine Zähne strahlend weiß. Bitty fühlte sich, als hätte jemand anderes die Macht über ihren Körper übernommen. Sie trat von der Veranda auf den verwilderten Rasen.
»Du musst doch frieren«, sagte sie.
* * *
Von der Website www.GovSpyDog.org, 16. Oktober
Danke an unseren Leser D-Avid, der das Folgende auf dem Polizeifunk mitgehört hat:
Die Einwohner von Tappan Square, einem heruntergekommenen Stadtteil in der sagenumwobenen Ortschaft Tarrytown, New York, wurden von einem »Ehekrach« aufgeweckt und dann Zeugen von etwas viel Beunruhigenderem. Vom Streit war später nichts mehr zu hören, mehrere aufgeregte Einwohner meldeten den Beamten jedoch ein »grelles blaues Licht, das vom Himmel kam«. Soweit wir wissen, gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Polizei den Beschwerden nachgeht.
Leute, hier kommt ihr ins Spiel. Ich muss euch nichts über das Hudson Valley erzählen, über die unerklärlichen Steinmonolithe in der ganzen Region, die bislang kein Wissenschaftler erklären konnte. Ich muss euch nicht erzählen, dass der Hudson River womöglich eine gigantische Landebahn für ein hochentwickeltes Raumschiff ist, das uns zum ersten Mal in der Antike besucht hat.
Wenn ihr das blaue Licht in Tarrytown gesehen habt, möchte ich etwas darüber hören.
Im Übrigen sind Theorien willkommen.
* * *
Aubrey lag auf den kalten weißen Fliesen im Badezimmer, eingeklemmt zwischen der Schüssel des Porzellanwaschbeckens und dem militanten Bollwerk der Badewanne. Ein paar Kerzen standen auf dem Toilettenspülkasten, die Luft roch nach Nessas Erdbeershampoo. Der Raum war eisig, und trotz der unbequemen Verdrehung ihres Körpers fühlte sich Aubrey so leicht, als schwebte sie in kaltem Meerwasser. Ihre Schwestern waren bei ihr. Gesprächsfetzen sickerten zu ihr durch, und sie bemühte sich, deren verworrene Fäden zu ergreifen. Bitty sagte: »Er hat den Schal nicht angezogen, aber er hat ihn in der Hand gehalten.« Meggie fragte: »Denkst du, sie erholt sich bald?«
Aubrey versuchte, den Kopf zu heben. Sofort waren ihre Schwestern zur Stelle, um ihr zu helfen. Sie öffnete die Augen, und die verschwommene Welt um sie herum wurde allmählich klarer. Sie setzte sich auf und lehnte sich gegen die Badewanne.
»Mach langsam«, meinte Meggie.
»Wasser«, brachte Aubrey hervor. Bitty drückte ihr einen Moment später einen Becher in die Hand. Sie trank, und ihr Hals kühlte sich ab. Sie blickte zu ihren Schwestern auf. Meggie saß auf dem geschlossenen Toilettendeckel, Bitty auf dem Rand der Badewanne. »Hat es funktioniert?«
Bitty antwortete: »Er ist weg.«
»Passiert das jedes Mal?«, wollte Meggie wissen. »Das Kotzen? Und die Ohnmacht?«
»Nein. Das ist mir noch nie passiert.«
»Warum gerade jetzt?«, fragte Bitty.
Aubrey nippte an ihrem Wasser. Sie hatte das Gefühl, langsam die Kontrolle über ihren Körper zurückzugewinnen, und zitterte bis auf die Knochen. »Ich weiß es nicht. Ich schätze, es liegt an der Intensität des Zaubers.« Sie hatte noch nie zuvor so schnell gestrickt; es hätte eigentlich gar nicht funktionieren dürfen. Normalerweise brauchte es Zeit, um einen Zauber in Fahrt zu bringen, wie wenn man ein liegengebliebenes Auto anschob – ein langsames Rucken hin zur Beschleunigung. Doch der Zauber, den Aubrey gerade gestrickt hatte, kam sofort von null auf hundert. Was nicht hätte möglich sein sollen. Doch das war nicht das Problem. Aubrey bekam Angst vor dem Ausmaß an Magie, von dem sie nicht gewusst hatte, dass es in ihr steckte – und ein Teil von ihr wollte es auch gar nicht wissen. Bei all der Macht, die sie soeben zu spüren bekommen hatte, wusste sie, dass sie lediglich einen flüchtigen Blick durch ein Schlüsselloch geworfen hatte und längst noch nicht in die eigentliche Kammer eingetreten war. Die Frage war: Was hatte das alles zu bedeuten?
Sie hörte ihre Schwestern wieder reden; anscheinend war sie erneut weggetreten. Sie vernahm die Anspannung in Bittys Stimme und Meggies Erwiderungen: sanfte, eindringliche Fragen voller Sorge.
Bitty seufzte tief. »Ich verspreche, dass ich euch alles erzählen werde. Aber ich bin gerade total erschöpft. Können wir also morgen früh darüber reden?«
»Aber nur, weil Aubrey umgekippt ist«, erklärte Meggie.
Aubrey konnte ihnen nicht mehr folgen. Sie schlief ein, war vielleicht längst eingeschlafen. Bitty und Meggie waren nun wie viktorianische Vampire verkleidet und unterhielten sich über einer Tasse Tee. In der Strickstube hatte sich eine Menge versammelt, die Umhänge für Stoppschilder strickte und sich dabei fragte, wie diese passen sollten, da Stoppschilder ja keine Schultern besaßen. Aubrey versuchte, allen mitzuteilen, dass der Mond sich in eine riesige Abrissbirne verwandelt hatte, die auf Tappan Square zuraste.
»Komm.« Eine Stimme drang in ihren Traum wie der Lichtschein einer Taschenlampe durch einen Nebel. Sie wusste nicht, wer sprach. »Bringen wir sie ins Bett.«