Kapitel 15

Stricke einen Platzhalter

Der Samstagmorgen begann mit einem Regenschauer, der über die Strickerei hinwegzog, und ganz Tappan Square schimmerte vor Nässe. Asternsträuche und Töpfe voller Chrysanthemen zitterten am Straßenrand unter den dicken Tropfen. Vogelscheuchen mit Schlapphüten waren an den Briefkästen befestigt worden und grinsten von ihnen herab. Zombies hingen an Drahtseilen von Veranden und drehten langsame Kreise in der munteren Brise.

Die meisten Bewohner von Tappan Square schliefen noch und wussten nicht, dass Fremde in ihren Teil der Stadt eingedrungen waren. Ein Vermessertrupp war direkt nach Morgengrauen mit Stativen, Helmen und dampfenden Kaffeebechern eingetroffen. Die Männer arbeiteten schnell, schwärmten aus, gaben Signale und sprachen in ihre Handys. Sie vermaßen die Umrisse einer Nachbarschaft, die bald verschwunden sein würde, zogen unsichtbare Linien um Gebäude, die wie Bäume gefällt werden sollten.

Früher war Tappan Square tatsächlich einmal ein Platz gewesen, ein kleiner öffentlicher Park, an dessen westlichem Rand die Strickerei thronte. Jeden Morgen gingen die Einwohner Tarrytowns dort mit ihren Hunden spazieren oder breiteten ihre Picknickdecken auf dem feuchten Gras aus, wenn ihnen danach war. Den Kindern, die auf dem großen grünen Rasen herumrannten und Rad schlugen, kam es so vor, als würde sich der Tappan Square Park endlos ausdehnen und als müsste er ewig fortbestehen. Doch als die ersten Automobilfabriken entlang dem Ufer ihre Pforten öffneten und Zehntausende Beschäftigte Wohnungen brauchten, wurde der Park mit so vielen zweistöckigen Kolonialbauten gefüllt, einer nicht vom anderen zu unterscheiden, wie auf der freien Fläche Platz fanden, und ein neues Stadtviertel war geboren.

Aubrey schlief, als die Landvermesser die Straße vor der Strickerei überquerten und zu den Fenstern des alten, auseinanderbröckelnden Hauses aufschauten. Sie schlief und schlief. Sie träumte von Vic, träumte davon, wie er den Daumen in die Vertiefung an ihrem Hals drückte, wie sie sich gegen ihn presste, Haut an Haut. Ihr Geist war träge, doch ihr Körper brannte, war wach und erhitzt, erfüllt vom verschwommenen Gefühl eines Knies, das sich gegen das ihre presste, der Glätte von Schulterblättern unter ihren Handflächen, von wildzuckenden Muskeln, der eisernen Hitze eines schweren Gewichts auf ihr, Tausender elektrischer Leitungen, die sich unter ihrer Haut bogen und ineinander verschlangen und hin und her peitschten, bis – bittere Enttäuschung – das Telefon klingelte. Der Strom musste über Nacht wieder zurückgekommen sein.

Sie ging langsam nach unten und war überrascht, Meggie in der Küche anzutreffen, die mit überkreuzten Beinen am Tisch saß und Kaffee trank.

»Du bist ja früh wach«, stellte Aubrey fest. »Wer war das eben am Telefon?«

»Vic.«

»Warum hast du mich nicht gerufen?«

Meggie blickte auf. »Ich habe eine Nachricht für dich.«

»Okay, und wie lautet sie?«

»Er will dich heute Abend zum Tappan-Watch-Treffen mitnehmen. Also habe ich ihm gesagt, dass du dich sehr darüber freuen würdest.«

»Oh.« Sie hätte Meggie dafür anschnauzen können, dass sie sich eingemischt hatte, doch eigentlich hatte sie nur getan, was Aubrey selbst auch gemacht hätte. »Na gut, danke.« Sie schenkte sich Kaffee in eine Tasse. Den brauchte sie dringend; sie fühlte sich immer noch schwach von den Anstrengungen der letzten Nacht. »Das Watch-Treffen ist um sechs. Wir müssen uns einen Plan überlegen, um den Leuten vor Augen zu führen, in welcher Situation wir gerade sind. Wenn wir einen echten Aufstand machen, wird der Stadtrat den Antrag vielleicht doch ablehnen.«

»Ihr wollt also einen öffentlichen Skandal. Gefällt mir. Mariah wäre stolz.«

Aubrey sah sie an. »Meinst du, auf mich?«

»Auf wen denn sonst?«

»Weshalb?«

»Weil du dich so tapfer zur Wehr setzt. Auch wenn sie nicht mehr da ist.«

Aubrey warf ihrer Schwester einen Blick zu. »Weißt du, du könntest heute Abend einfach mit zum Treffen kommen.«

Meggie lachte: »Und dein heißes Date in der Feuerwache ruinieren?«

»Gemeinsam mit ein paar Dutzend anderen Leuten.«

»Ich weiß nicht«, meinte Meggie nachdenklich. »Ist schon eine Weile her, dass ich in Tarrytown für Unruhe gesorgt habe.«

Aubrey lächelte.

»Ich schätze, wir bekommen mehr Geld für die Strickerei, wenn wir nicht zulassen, dass die Stadtverwaltung die ganze Nachbarschaft niederreißt.«

Aubrey erwiderte nichts, da es sie traurig stimmte, dass Meggie ihr die Strickerei immer noch unter dem Hintern weg verkaufen wollte. Sie hatte gehofft, die letzte Nacht hätte etwas verändert. Falls Meggie ihre Enttäuschung wahrnahm, ließ sie sich nichts anmerken.

»Hey, eine Frage: Weißt du, wo Bitty ist?«, wechselte sie stattdessen das Thema.

»Ist sie nicht hier?« Aubrey blickte geistesabwesend in ihre Tasse und überlegte, den Kaffee in den Ausguss zu kippen. Er war ein wenig zu stark für ihren Geschmack. »Hat sie dir nicht gesagt, wo sie hingegangen ist?«

»Ich bin gerade erst aufgestanden«, erwiderte Meggie. »Wahrscheinlich ist sie einkaufen gegangen oder so.«

»Hmm«, machte Aubrey, während sie doch noch einen Schluck nahm. Die Erschütterungen des vorigen Abends hallten noch immer am Rand ihres Bewusstseins wider. Craigs paschahaftes Auftreten. Bittys trauriger Blick. Die riesige, höhlenartige Zisterne der Macht, die Aubrey tief in ihrem Inneren entdeckt hatte.

Sie bemerkte ein Bündel doppelt gefalteten Papiers auf der Arbeitsplatte, das Bittys perfekt geschwungene Handschrift trug. Darauf stand: A & M.

»Meggie?«

»Was?«

Aubrey griff nach dem Bündel. Sie hatte Angst, es zu öffnen. Falls Bitty verschwunden war, nach allem, was passiert war, wollte sie nichts davon wissen.

Liebe Schwestern,

letzte Nacht, nachdem Craig gegangen war, habe ich versprochen, dass ich Euch alles erzählen würde. Aber ich bin nicht besonders gut darin, mich zu öffnen. Es gibt Dinge, von denen Ihr nichts wisst, und auf diese Weise fällt es mir leichter, mich zu erklären.

Lasst mich dort beginnen, wo ich aufgehört habe – wo sich unsere Wege getrennt haben. Nachdem ich vor zwölf Jahren aus der Strickerei ausgezogen war, habe ich Mariah angerufen, um ihr zu sagen, dass ich schwanger war und dass Craig und ich heiraten würden. Ich war glücklich. Oder zumindest glaubte ich, es zu sein. Ich würde einen Ehemann haben. Eine Familie. Ein eigenes Haus.

Mariah nahm die Neuigkeiten nicht gut auf. Sie bat mich, zurückzukehren. Sie sagte, ich würde eine schlechte Entscheidung treffen, und ich habe praktisch mitten im Gespräch aufgelegt. Ich versuchte, mir ein besseres Leben aufzubauen, was Mariah nie so sehen konnte.

Jedenfalls, eine Woche bevor wir unser Ehegelübde ablegten, verhielt Craig sich plötzlich sonderbar. Er ging mir aus dem Weg. Er schlief auf dem Sofa ein und kam erst morgens ins Bett. Er meinte auf einmal, wir müssten ja vielleicht nicht sofort heiraten. Vielleicht würden seine Eltern sich stattdessen auch mit einer langen Verlobungszeit zufriedengeben.

So ging es tagelang. Und dann entdeckte ich ein Paar dicke anthrazitgraue Handschuhe an einem Haken im Hauseingang. Handgestrickt. Craig bestätigte meinen Verdacht: Mariah hatte sie ihm als Hochzeitsgeschenk geschickt. Er wusste nichts von der Zauberei.

Nun – um das klarzustellen: Ich glaube nicht, dass die Handschuhe die Ursache seiner Bedenken gegen unsere Hochzeit waren. Das Wesentliche an der Sache war, dass Mariah versucht hatte, sich auf diese Weise einzumischen, zu einem Zeitpunkt, an dem Craig und ich ohnehin schon verwundbar waren. Ich rief sie an, und sie leugnete es nicht. Ich habe die Handschuhe sofort weggeworfen und mir geschworen, Mariah nie wieder nahezukommen. Mit mehr als Höflichkeit würde ich sie fortan nicht behandeln.

Nach der Hochzeit legte Craig sein sonderbares Verhalten ab. Zumindest für eine Weile. Doch in den letzten Jahren haben sich die Dinge erneut verändert. So ungern ich es zugebe, vielleicht hat Mariah am Ende doch recht behalten.

Das grundlegende Problem unserer Ehe lässt sich in vier Worten zusammenfassen: Er hat eine Geliebte. Ich habe vor etwa anderthalb Jahren von ihr erfahren, als eine Nachbarin mir einen Tipp gab. Zuerst war ich bestürzt, doch dann dachte ich noch einmal darüber nach. Ich entschied, eine Affäre könnte ihm guttun. Ich habe mich dabei wirklich großmütig gefühlt. Als wäre ich eine Frau, die in der Lage ist, zu begreifen, weshalb ihr Mann sie betrügt, und es ihm daher gestattet. Außerdem haben reiche Männer nun einmal Affären, so wie sie Jaguars, teure Füller und hübsche Ehefrauen haben. Ich wusste, worauf ich mich einließ, als ich ihn heiratete.

Aber mit der Zeit wurde er arrogant und protzte herum. Er zahlt mittlerweile ihre Miete ganz offen von unserem Bankkonto (es ist natürlich sein Geld, aber ich mache die Buchführung). Er lädt sie zum Essen ein und kauft ihr Schmuck und Lebensmittel. Er kümmert sich um sie. Sie ist zu seinem Leben in den Kulissen geworden, das er führt, wenn er nicht auf der Bühne steht. Und ich? Ich bin die Mutter seiner Kinder, seine Köchin, seine Haushälterin, seine Innenausstatterin, seine Buchhalterin, sein allzeit bereites Kindermädchen.

Er würde sich niemals freiwillig von mir scheiden lassen; eine Scheidung wäre ihm zu ordinär und niveaulos. Aus genau diesem Grund war ich ja am Anfang von ihm angetan: Ich wusste, wenn ich in erst einmal heiratete, würde ich es für immer sein. Damals erkannte ich noch nicht den Unterschied zwischen Zugehörigkeit und Besitz. Er hat klargestellt, dass er die Kinder, wenn nötig, als Druckmittel verwenden wird, damit ich bei ihm bleibe – genauso, wie er darum kämpfen würde, sein Haus, sein Auto oder was auch immer zu behalten.

Ich schätze, es ist wohl meine Schuld. Ich hätte ihm wegen der Affäre die Hölle heiß machen sollen, sobald ich davon wusste. Im letzten Jahr habe ich zweimal versucht, ihn zu verlassen. Ich nahm die Kinder und seine Kreditkarte und ging in ein Hotel. Ich habe versucht, von ihm wegzukommen. Aber er hat mich genau da, wo er mich haben will, und ich kann nichts tun, als wieder und wieder zu ihm zurückzukehren.

Wie soll eine Frau ihren Mann verlassen, wenn sie keinen Ort hat, an den sie gehen kann? Craig hatte mir nahegelegt, meine Ausbildung abzubrechen, als ich damals schwanger wurde, und ich habe bereitwillig zugestimmt. Jetzt würde ich keinen ordentlich bezahlten Job mehr finden, selbst wenn mein Leben davon abhinge. Vielleicht könnte ich auf die Strähnchen und das Waxing, meine Fitnessclub-Mitgliedschaft und meinen Handyvertrag verzichten. Aber auch wenn ich all das täte, könnte ich immer noch nicht meine Kinder ernähren.

Habt Ihr eine Ahnung, wie sich das anfühlt? Ich bin die ärmste reiche Frau der Welt.

Und hier kommt noch ein Geständnis. Wahrscheinlich das schlimmste von allen.

Aubrey, als ich hörte, dass die Möglichkeit bestand, die Strickerei zu verkaufen, habe ich dabei an mich gedacht. Selbstsüchtig und ungerecht habe ich nur an mich gedacht.

Das Geld aus dem Verkauf der Strickerei hätte mir die nötigen Mittel verschafft, um Craig zu verlassen und die Kinder mitzunehmen. Ich habe einen Fluchtweg gesehen. Freiheit. Für meine Kinder, für mich. Ich war mir sicher, dass ich Euch zum Kauf überreden könnte.

Aber nach letzter Nacht weiß ich, dass ich das nicht mehr will.

Ich habe Euch beide vermisst – ich hatte keine Ahnung, wie sehr. Als ich die Strickerei verließ, dachte ich, wenn ich meine Wurzeln nicht rasch ausrisse, bestünde die Gefahr, dass ich kneifen und es gar nicht tun würde. Meggie, ich nehme an, Du weißt in etwa, wovon ich spreche.

Doch nun bin ich zum ersten Mal in meinem Leben tatsächlich froh, dass es die Strickerei gibt und dass Du, Aubrey, noch immer dort bist. Ich möchte kein weiteres Jahr meines Lebens ohne Euch verbringen. Nicht einmal einen weiteren Tag. Ich möchte, dass meine Kinder ihre Familie kennenlernen. Mariah hatte recht: Gemeinsam sind wir stärker als getrennt. Es tut mir nur leid, dass ich so lange gebraucht habe, um das zu begreifen.

Okay, mir bleibt nur noch eine Sache zu sagen: Gestern Abend habe ich Craigs Gesicht beobachtet, als ich auf ihn einredete, während er den Schal in der Hand hielt, und ich habe gesehen, wie sein Ärger verflog und er sich langsam beruhigte. Aubrey, es tut mir leid. Ich habe es tatsächlich kurz für Magie gehalten. Für einen Augenblick habe ich daran geglaubt. Das eigenartige blaue Licht hat mich fast überzeugt.

Während ich mitten in der Nacht diese Zeilen schreibe, parkt ein Wagen des Energieunternehmens vor der Strickerei; ich schätze, dass ein Transformator durchgebrannt ist. Und nun, da ich wieder klarer denken kann, glaube ich eher, dass Craigs Sinneswandel zustande kam, weil ich ihm versichert habe, dass alles gut sei, dass er überreagiere, dass die Kinder und ich bald wieder nach Hause kämen und dass er so lange seine »Freiheit« genießen solle. Es war ganz normal und erklärlich, dass daraufhin die Vernunft wieder bei ihm einkehrte.

Sollte ich je einen Beweis für die Magie der Strickerei sehen, würde ich auf der Stelle daran glauben. Aber ich bin jetzt zweiunddreißig und habe noch nichts Überzeugendes zu Gesicht bekommen, also rechne ich nicht mehr damit. Aber nur, weil ich das, was in der Strickerei vor sich geht, nicht begreife, heißt es noch lange nicht, dass es diese Sache nicht gibt, das gebe ich gern zu. Aber ich drücke mich nicht richtig aus. Gott, es ist so schwierig. Ich will sagen, dass vielleicht wirklich eine Van Ripper in die Strickerei gehört. Und vielleicht gehört die Strickerei nach Tappan Square. Und vielleicht gehört Tappan Square nach Tarrytown. Selbst wenn ich es nicht tue.

Ich glaube, das war alles. Ich werde nun einen langen Lauf machen.

Eure Euch liebende, unvollkommene, erschöpfte Schwester

Bitty

Nachdem Meggie den Brief ihrer Schwester gelesen hatte, blieb ihr keine Zeit mehr, mit Aubrey darüber zu sprechen – was gut war, da sie ohnehin nicht darüber sprechen wollte. Aubrey warf einen Blick auf die Uhr und prustete beinahe ihren Kaffee aus der Nase, als sie sah, wie lange sie geschlafen hatte. Dann jagte sie wie ein Tornado durchs Haus, um sich für ihre Schicht in der Bibliothek fertigzumachen. Meggie bemühte sich nicht erst, Aubrey darauf hinzuweisen, dass sie ihren Pullover falsch herum trug und ihre Socken nicht zusammenpassten. Sie nahm an, es war nicht das erste Mal, dass ihre Schwester so aus dem Haus ging.

Nun, da Aubrey fort war, war Meggie allein … allein mit Bittys Geständnis. Finster blickte es sie vom Küchentisch aus an. Um den Brief nicht in Stücke zu zerreißen, warf Meggie rasch ein paar Kleidungsstücke über und ging auf die Straße. Sie war wütend und niedergeschlagen und hatte das Gefühl, sie müsste gleich platzen, wusste aber nicht, weshalb.

Sie stellte fest, dass sie sich für den kühlen Nachmittag zu dünn angezogen hatte, ging aber nicht zurück in die Strickerei, um ihre Jacke zu holen. Die Umgebung schien ihr so beengt wie immer. Da es keine Garagen oder Auffahrten gab, mussten alle Autobesitzer von Tappan Square auf der Straße parken, die viel zu schmal dafür war. Wären die engen Durchfahrten menschliche Arterien und so vollgestopft mit Cholesterin wie die Straßen mit Verkehr, hätte Tarrytown längst einen Schlaganfall erlitten.

Sie steckte ihre kalten Hände in die Hosentaschen und lief schneller. Ihr Atem stieg in kleinen Wölkchen auf. Sie hatte das Gefühl, ein Seil schnüre ihr ihre Brust zu. Warum war sie nur so mürrisch? Beim Aufstehen hatte sie noch bessere Laune gehabt. Es hatte wohl damit zu tun, wie Bitty ihnen ihr Herz ausgeschüttet hatte. Bitty hatte all die schweren Steine der Mühsal ihres Lebens von sich gewälzt, und Meggie kam es vor, als ob diese sich nun auf ihrer eigenen Brust stapelten.

Bitty sprach so gut wie nie über ihre Probleme – entweder, weil alle denken sollten, dass ihr Leben perfekt sei, oder weil sie niemandem Sorgen bereiten wollte. Meggie konnte also nicht einmal behaupten, dass ihre Schwester jammerte oder herumheulte oder sich in nervigem Selbstmitleid suhlte. Doch obwohl sich Bitty niemals laut über ihre Ehe beschwert hatte, bis ihre Schwestern endlich aus ihr herausquetschten, was los war, drang der Pesthauch ihres Dramas in jede Ritze und Spalte, zog in alle Ecken, verdrängte die Luft zum Atmen und verdeckte die gottverdammte Sonne. Und Meggie wünschte sich, ihren Schwestern nur einmal gestehen zu dürfen, was sie in den letzten vier Jahren getan hatte. Wie ihr Leben verlaufen war. Sie wünschte sich, ihre Schwestern hätten ihr gegenüber die Höflichkeit eines gesunden Misstrauens besessen, vielleicht mit einer Prise familiärer Neugier. Aber die beiden hatten sie einfach beim Wort genommen.

Auf ihren Reisen hatte sich Meggie manchmal gefragt, wie es ihren Schwestern wohl gerade ging. Als sie in Nashville mit dem Besitzer eines billigen Motels wegen der kaputten Dusche auf ihrem Zimmer verhandelte, kaufte da Bitty vielleicht gerade an der Snackbar im Kino Schokoladenriegel und Popcorn für ihre Kinder? Als Meggie ihr Pfefferspray fest umschlossen hielt und sich fragte, ob der Mann, den sie eben noch nach ihrer Mutter ausgefragt hatte, ihr nun in eine der dunklen Gassen von Detroit gefolgt war, hatte Aubrey es sich da gerade mit »Jane Eyre« und einer Tasse Tee gemütlich gemacht? Als sie überlegte, wie sie Lance in Dallas bloß erklären sollte, dass es völlig egal war, ob sie ihn liebte oder nicht, weil sie nun einmal einfach gehen musste – machten ihre Schwestern sich da auch nur ein einziges Mal Gedanken darüber, wo ihre Mutter sein mochte? Oder was es ihnen wert wäre, sie zu finden?

Sie kam an dem Maschendrahtzaun vorbei, hinter dem Mr. Smiths alter Dobermann früher immer nur halb so wütend wie sein Besitzer geknurrt und gebellt hatte. Sie ging schnaufend den Hügel östlich der Strickerei hinauf und erblickte das Haus, vor dem sich einst ein steinerner Brunnen in Form einer Frau befunden hatte, die Wasser aus einer Amphore goss, wo heute jedoch nur noch eine leichte Vertiefung im Garten die Stelle anzeigte, an der die Statue gestanden hatte. Die alte Nachbarschaft ihrer Kindheit löste in Meggie eine Sehnsucht nach ihrer Tante Mariah aus, in deren Armen stets Platz für ihre jüngste Nichte gewesen war, wenn ihre älteren Schwestern nichts mit ihr zu tun haben wollten.

Meggie trat gegen den Pfosten eines Briefkastens, und auf einmal wurden ihr zwei Dinge bewusst: Erstens würde sie nicht mit Aubrey zum Tappan-Watch-Treffen am Abend gehen. Zweitens war es nicht Verärgerung gewesen, was sie nach der Lektüre von Bittys Brief verspürt hatte. Es war Neid. Derselbe Neid, den sie als Kind empfunden hatte, wenn ihre Schwestern sie wegschickten, um über »Große-Mädchen-Sachen« zu sprechen; der Neid, der in ihr gärte, weil Bitty und Aubrey ihre Mutter tatsächlich gekannt hatten und Meggie selbst sich kaum noch an sie erinnern konnte; Neid, weil sie so viele Jahre für die Suche nach einer Frau geopfert hatte, die ihr eigentlich fremd war, während ihre Schwestern einfach ihr Leben lebten.

Sie war einmal um den Block gegangen und stand nun wieder vor der Strickerei, hielt jedoch inne. Vor ihr erhob sich, halb verfallen und doch noch immer machtvoll, der Kern ihres Problems. Ihre Gefühle dem alten Gebäude gegenüber waren so verworren wie dessen Architektur. Wie Bitty hatte auch Meggie Hintergedanken: Ein Verkauf würde es ihr ermöglichen, auf der Suche nach ihrer Mutter etwas komfortabler zu leben, in Motels statt in Hostels zu übernachten und echtes Essen anstelle von Fast Food zu kaufen. Im Gegensatz zu Bitty hatte sie jedoch nicht vor, ihre Verkaufsabsichten für den grauenhaften alten Kasten zu widerrufen. Es stand nun zwei gegen eine – doch Meggies eine Stimme war mehr wert als die beiden ihrer Schwestern zusammen. Sie war diejenige mit der moralischen Überlegenheit. Sie war diejenige, die das Richtige getan hatte.

Sie stand vor dem alten schwarzen Eisentor.

Sollte Meggie je wie Bitty einen Brief schreiben und ihn so feige auf dem Tisch hinterlassen, damit ihre Schwestern ihn am Morgen fanden, dann würde darin nur ein einziger Satz stehen:

Liebe Schwestern: Warum habt ihr nicht nach ihr gesucht?

Sie drückte das Tor auf und ging hinein.

* * *

Normalerweise liebte Aubrey die Bibliothek. Von außen betrachtet, gab sie das Bild eines weltgewandten Schulmeisters: streng, aber wohlwollend. Doch innen, ach, innen konnte der mürrische Neoklassizismus ihrer Fassade das warme und neugierige Wesen der Bibliothek nicht verheimlichen. Theoretisch war es in den Räumen leise. Aber sie waren niemals wirklich still. Selbst in den verschlafensten Nachmittagsstunden wirkte die Bibliothek so unruhig wie ein gescholtenes Kind, das mit den Beinen zappelt und vor sich hinsummt und alles tut, um nicht mit einem Strom von Fragen, Bemerkungen oder Liedern herauszuplatzen. Sogar die bebrillte und altersgraue Patronin der Bibliothek, die in einem Goldrahmen an der Südwand hing und an bewölkten Tagen ein wenig missgestimmt wirkte, blickte mit freundlicher Zustimmung auf den Lesesaal hinab, wenn dieser in Sonnenlicht gebadet war und Tarrytowns Schüler und Bücherwürmer es sich in großen, gemütlichen Sesseln bequem machten.

An diesem Tag jedoch empfand Aubrey ihre Arbeit als lästig. Sie ordnete überdimensionale Kunstbände im Sachbuchbereich neu ein, wobei sich stets ihr Rücken verspannte, und konnte sich einfach nicht konzentrieren. Sie vergaß ständig, was sie gerade tat. Während ihr Gehirn immer wieder versuchte, einen Gedanken festzuhalten, entglitten ihr diese beständig.

Sie starrte auf einen Buchrücken, ohne den Titel darauf zu erfassen. Während sie sich fragte, ob sie womöglich verliebt war – und allein schon, dass sie sich diese Frage stellen konnte, erschien ihr als Wunder –, zerfiel das Liebesleben ihrer Schwester in seine Einzelteile. Aubrey sah eine einfache Lösung für alle Probleme: Bitty und ihre Kinder sollten dauerhaft oder zumindest fürs Erste in die Strickerei ziehen. Doch unter all den Dingen, die Bitty in ihrem Brief angesprochen hatte, hatte sie einen verlängerten Aufenthalt in Tarrytown nicht erwähnt.

Aubrey stand neben dem launischen alten Lastenaufzug, der die Bücher brachte und forttrug, und starrte finster auf das Buch, das sie gerade in den Händen hielt, als plötzlich Jeanette hinter einem hohen Regal hervortrat wie aus einem Heckenlabyrinth. Sie trug einen grapefruit-rosa Pullover, unter dem der Kragen eines weißen T-Shirts hervorblitzte. Ihr Haar war zu taudicken Zöpfen geflochten.

»Oh, hi!«, rief Aubrey ein wenig zu laut. Sie senkte die Stimme. »Was machst du denn hier? Ich dachte, du hattest die Morgenschicht?«

»Das stimmt. Ich bin hier, um dich zu sehen. Ich wollte alle Details über dein Date gestern erfahren.«

Aubrey lächelte. »Kennst du das Gefühl, wenn du auf der Spitze der Felsen bei Anthony’s Nose über dem Fluss stehst und der Wind ein bisschen bläst und es dir so vorkommt, als könntest du abspringen, und der Wind würde dich auffangen, und dir würde nichts passieren?«

»Bitte versprich mir, dass du das niemals ausprobieren wirst.«

»Also, es war ein richtig gutes Date.«

Aubrey hatte noch einmal kurz mit Vic gesprochen, als dieser sie auf dem Handy angerufen hatte, um sicherzugehen, dass es ihr gutging. Seine Aufmerksamkeit rührte sie, und sie hatte immer noch seine warme, beruhigende Stimme im Kopf.

Jeanette stellte tausend Fragen zu ihm und ihrer Verabredung: Wohin hat er dich ausgeführt? Was hast du gegessen? Hat er dich geküsst? Hast du ihn rangelassen? Und Aubrey antwortete im geübten Flüsterton, nur so laut wie nötig, um verstanden zu werden. In ein paar Sätzen erzählte sie Jeanette auch kurz von dem Vorfall mit Craig.

Als Jeanettes Fragenstrom schließlich zu verebben schien, veränderte sich ihre Stimme. Sie senkte den Kopf und blickte durch dichte schwarze Wimpern zu Aubrey hinauf, der Inbegriff von Demut. Aubrey war sogleich auf der Hut.

»Also … apropos Romantik, ich wollte dich um einen Gefallen bitten«, setzte Jeanette an. »Du musst mir einen Liebeszauber stricken.«

»Für wen?«

»Für Mason Boss.«

Aubrey lachte.

»Hey, das ist mein Ernst. Ich will ihn unbedingt.«

»Vor zwei Monaten wolltest du noch den Typen, der auf dem Bauernmarkt arbeitet.«

Jeanette grinste. »Und ich habe ihn bekommen. Dank dir.«

Aubrey spürte, wie ihr Unbehagen die Wirbelsäule hinaufkroch. Während Aubreys Liebesleben im Regal verstaubte, war Jeanettes zügellos. Jeanette verfiel einem Mann nicht einfach; sie suchte nach der höchsten Klippe und stürzte sich davon hinunter. Sie sprang, ohne vorher nachzusehen, wie tief das Wasser war. Man musste ihr jedoch zugutehalten, dass sie immer wieder auftauchte, sich trockenschüttelte, einmal ausgiebig weinte und dann wieder hochkletterte, um das Gleiche von neuem zu tun.

Aubrey fasste ihrer Freundin an die Schulter. »Du brauchst keinen Zauber, um diesen Mann auf dich aufmerksam zu machen. Sieh dich doch an. Du bist ein Meter achtzig groß, hast Wangenknochen wie ein Supermodel und Muskeln wie Wonder Woman. Es wäre merkwürdig, wenn er nicht auf dich aufmerksam würde.«

»Aber was, wenn ich nicht sein Typ bin? Du musst das für mich tun. Komm schon, Aub. Bitte! Es ist nicht fair, dass du auf einmal nur noch von Vic erzählst, während ich dich lediglich um einen klitzekleinen Zauber bitte, damit ich, sagen wir, auch nur ein Zehntel deines Glücks empfinden kann. Willst du mir das allen Ernstes versagen?«

Aubrey hob ein schweres Buch auf. Sie dachte an Vic, und das allein genügte, um sie wieder rundum glücklich zu machen.

»Bitte?«, flüsterte Jeanette halb. »Schau! Ich habe sogar schon meine Opfergabe mitgebracht.« Sie griff in ihre Handtasche mit dem Tarnfarbenmuster und zog eine Teetasse hervor. »Die habe ich mir in der vierten Klasse von meinem eigenen Geld gekauft, das ich beim Ausführen des Nachbarhunds verdient habe.«

Aubrey machte keine Anstalten, die Tasse zu nehmen.

»Aubrey, ich mag ihn wirklich«, sagte Jeanette.

Im Grunde ohne Zustimmung ihres Verstandes, folgte Aubrey allein der Erfahrung ihres Instinkts, ihrer DNA und der Tradition, und hatte dabei, wie so oft, wenn sie in ihre Rolle als Hüterin der Strickerei schlüpfte, das Gefühl, sich außerhalb ihres Körpers zu befinden. Sie blickte auf die Tasse in Jeanettes Hand. »Das wird nicht reichen.«

Eine Sekunde verstrich. »Du hast recht. Weißt du was? Du hast sogar absolut recht.« Jeanette hielt die Teetasse mit einer Hand fest, streifte mit der anderen den Henkel ihrer Tasche von der Schulter und warf diese Aubrey entgegen.

»Was hast du – «

»Nimm sie. Nimm das ganze Ding.«

Aubrey blickte auf die klimpernde Tasche in ihren Händen. »Und wenn da etwas Wichtiges drin ist? Was ist mit deinem Führerschein? Deinen Kreditkarten?«

»Ich weiß nicht, was da alles drin ist. Aber ich fühle mich ziemlich unwohl dabei, sie dir zu geben. Also nehme ich mal an, dass sie für einen Zauber ausreichen dürfte.«

»Jeanette – «

»Bitte, Aub.« Jeanette hatte die Augen weit aufgerissen. Sie flehte, und sie hätte bald genug davon. »Bitte?«

»Das ist völlig verrückt«, stellte Aubrey fest, doch sie wussten beide, dass sie längst nachgegeben hatte.

»Du bist die Kirsche auf dem Sahnehäubchen – das ist dir klar, oder?«, erwiderte Jeanette. Sie entfernte sich bereits durch den Gang, trat lächelnd Schritt für Schritt rückwärts. »Ach, und könntest du mich nachher zum Treffen mitnehmen?«

»Wieso?«

»Ich habe meine Autoschlüssel verloren«, erklärte Jeanette und zeigte auf die Tasche in Aubreys Händen.

* * *

Wenn die Versammlung, die Mason Boss gewählt hatte, groß gewesen war, dann war die Menge, die zu seiner ersten offiziellen Versammlung zusammenkam, enorm. Fünfzehn Minuten vor Beginn des Treffens wurde der letzte freie Stuhl auseinandergeklappt und besetzt. Immer mehr Menschen strömten herein und drängten sich Schulter an Schulter, und Aubrey musste sich hin und her schieben lassen, um nicht umzufallen. Die Enge – die wenig vertrauten Gerüche fremder Leute Shampoo und Achselhöhlen, ihre Atemgeräusche und der Druck undefinierbarer Körperteile – hätte ihr zu schaffen machen sollen. Doch stattdessen hob sich ihre Stimmung. Menschen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, stellten sich untereinander und sogar ihr vor. Aubrey schlug das Herz bis zum Hals. Sie antwortete: »Schön, Sie kennenzulernen.« Und falls die Leute wussten, dass sie das Mädchen aus der Strickerei war, falls ihre fürchterlichen Augen hinter der Sonnenbrille ihnen einen Schreck einjagten, dann erwähnten sie es nicht. Neben ihr knetete Jeanette ihre Finger und streckte ihren langen Hals, um über die Köpfe blicken zu können.

»Siehst du ihn?«, fragte Aubrey.

»Noch nicht.«

Die Menge geriet wieder in Bewegung, und Aubrey wurde gegen Vic gedrängt, der sich gegen die Holztäfelung gelehnt hatte. Ihr Haar war hochgesteckt, und sie spürte seinen Atem im Nacken. »Oh! Tut mir leid!«, sagte sie. Vic packte sie an Oberarm und Hüfte, und als er sie nicht gleich wieder losließ, war ihr Stand noch wackliger als zuvor.

Aubrey verharrte in dieser Position und tat so, als würde sie nach Mason Boss Ausschau halten, obwohl sie eigentlich nichts außer Vics Hände wahrnahm, bis endlich – nachdem die Leute schon zu murren begonnen hatten und ihnen die Füße langsam weh taten – Mason Boss durch die Tür der Feuerwache gerauscht kam. Jeanette suchte für einen Moment Aubreys Blick, ihre Brauen hoffnungsvoll hochgezogen und ihre Lippen zu einer Art breitem Rechteck verzerrt, während sie das Wort bitte formten. Sie hielt die Pulswärmer, die Aubrey ihr mitgebracht hatte, in den Händen. Aubrey ignorierte das Stechen in ihrer Magengrube und nickte Jeanette ermutigend zu.

Während Mason Boss mit großen Schritten den Raum durchquerte, verstummte die Menge ohne Aufforderung. Er hielt seinen großen Kopf beim Gehen geneigt und runzelte die Stirn in präsidialer Konzentration. Er zog seine Jacke aus und warf sie auf einen Tisch.

In dem Moment, in dem Mason Boss in die Hände klatschte und fragte: »Also, was haben wir?«, spürte Aubrey eine elektrische Spannung in der Luft. Tarrytown stand mit einem Mal unter Strom. Mason Boss trug ein paar interessante Argumente vor, die sich gegen jede einzelne Form der Organisation und Kommunikation richteten, an die Tappan Watch bislang geglaubt hatte. Mason Boss wollte eine Nachrichtensperre; er wollte, dass die Website aus dem Netz genommen wurde; er hielt die Idee mit der Petition für einen Witz. Er hielt auch nichts von dem geplanten Protestmarsch; er wollte etwas Dramatischeres, Spontaneres und Spektakuläreres – er wollte einen Flashmob.

»Sollen wir etwa alle auf einmal anfangen, im Park zu tanzen?«, fragte Dan Hatters.

»Stellt euch Folgendes vor«, begann Mason Boss. »Wir stürmen das Rathaus ohne Vorwarnung. Wir alle auf einmal. Wir halten den Verkehr auf. Wir blockieren die Eingänge. Wir sind laut, und wir lassen uns nicht vertreiben – und damit machen wir es den Leuten schwer, uns zu übersehen.«

»Sollten wir nicht zumindest erst einmal eine Pressemitteilung dazu veröffentlichen?«, gab Dan Hatters zu bedenken.

»Um Gottes willen«, rief Mason Boss effekthascherisch. »Was glauben Sie, was bei der Boston Tea Party los gewesen wäre, hätten die Patrioten vorher eine Pressemitteilung veröffentlicht?«

Innerhalb von zehn Minuten stimmten alle zu, dass ein Flashmob perfekt sei. Die nächsten fünfundvierzig Minuten verbrachte die Gruppe damit, eine Telefonkette zu organisieren – damit wir vor dem Flashmob vollkommen unbemerkt bleiben, hatte Mason Boss erklärt. Als das Treffen beendet war, erwartete Aubrey fast, dass Mason Boss sich verbeugen würde. Stühle kratzten auf Metall, als die Leute aufstanden. Das Geräusch neu aufgenommener Gespräche schwoll an. Aubrey spürte, wie jemand sie fest am rechten Arm packte, und bemerkte erst in diesem Moment, dass Vic sie mittlerweile losgelassen hatte. Nun war es Jeanette, die sie festhielt. Ihre Augen strahlten in einem tiefen Obsidianschwarz und glänzten vor Klarheit. Sie sprach hastig und im Flüsterton.

»Er ist brillant, nicht wahr? Wie er die Leute begeistern kann. Er will wirklich etwas tun.«

»Ja«, stimmte Aubrey zu und stellte fest, dass auch sie sich langsam für Mason Boss erwärmte. Vielleicht war er tatsächlich genau das, was sie brauchten.

»Ich werde mit ihm sprechen.« Jeanette klang ungewöhnlich nervös. »Wartest du kurz auf mich?«

»Keine Sorge«, meinte Aubrey. »Du hast die Pulswärmer, die ich für ihn gestrickt habe. Das wird schon.«

Jeanette atmete tief durch. Sie warf ihre dicken Zöpfe nach hinten und durchquerte den Raum. Selbst in der dichtgedrängten Menge war sie nicht zu übersehen, und Mason Boss war nicht der einzige Mann, der sich nach ihr umdrehte.

Aubrey wandte sich Vic zu.

»Worum ging es denn gerade?«, wollte er wissen.

»Frauenkram«, erwiderte sie. »Ist es in Ordnung, wenn wir kurz warten? Falls Jeanette Mason Boss nicht an die Angel bekommt, braucht sie jemanden, der sie nach Hause bringt.«

»Kein Problem«, sagte er.

Ein paar Minuten später löste sich Jeanette von Mason Boss und kam auf sie zu. O nein, dachte Aubrey. Jeanettes Mundwinkel zeigten nach unten, und ihre Schultern waren zusammengesackt. Aubrey hatte es nicht für möglich gehalten, doch Mason Boss musste Jeanette abgewiesen haben. Sie schluckte ihr schlechtes Gewissen hinunter.

»Jeanette, es tut mir leid. Es tut mir so leid«, sagte Aubrey, als ihre Freundin bei ihr angekommen war.

Einen Moment lang blieb Jeanettes Blick betrübt, und sie sah Aubrey mit übertriebener Enttäuschung an. Dann breitete sich auf einmal ein riesiges Grinsen auf ihrem Gesicht aus, wie wenn die Sonne plötzlich die Wolken durchbricht. »Reingelegt!«, rief sie. »Ich mache nur Spaß. Der Zauber hat perfekt funktioniert. Mason und ich gehen etwas trinken, sobald alle weg sind.«

»Mensch, hast du mir einen Schreck eingejagt!« Aubrey lachte. Gott sei Dank. Sie griff in ihre überdimensionale Tasche und zog die Handtasche ihrer Freundin daraus hervor. »Hier. Die kannst du wiederhaben.«

»Ich soll sie zurücknehmen? Bricht das denn nicht den Zauber?«

Aubrey schwieg.

»Aubrey …?«

Aubrey konnte sich ein feines Lächeln nicht verkneifen.

»Du meine Güte. Du hast gar keinen Zauber gestrickt, oder?«, fragte Jeanette.

Aubrey grinste.

»Ich habe das also ganz allein hinbekommen?«

»In der Liebe und im Krieg ist alles erlaubt.«

Jeanette nahm ihre Tasche und warf lachend den Kopf in den Nacken. »Aubrey Van Ripper. Es stimmt eben doch alles, was man über dich sagt.«

»Mhm«, machte Aubrey.

»Und überhaupt, ich habe dir doch gesagt, dass ich keinen Zauber brauchen werde«, fuhr Jeanette mit einem Augenzwinkern fort.

Aubrey lachte, während Jeanette durch den Raum zurück zu ihrer Beute schlenderte. Aubrey sah auf und stellte fest, dass Vic sie beobachtete.

»Was?«, fragte sie.

»Du erstaunst mich immer wieder«, sagte er.

Sie lächelte und war zum ersten Mal im Leben froh darüber, sich ein wenig sonderbar vorzukommen.

Aus dem Großen Buch im Flur

Besonders wenn es draußen kalt ist, gibt es keine angenehmere Art, einen ruhigen Nachmittag zu verbringen, als mit dem Stricken eines Liebeszaubers. Zauber, die Zuneigung fördern, mögen zwar aus einem Mangel heraus entstehen – für Menschen, die missachtet werden, die einsam, betrübt und ohne Hoffnung sind. Doch so traurig das Wissen darum auch ist, dass die Motivation für einen Liebeszauber in der Abwesenheit von Liebe liegt, ist das Stricken eines solchen Zaubers doch stets ein Vergnügen.

Liebeszauber sind bestens für Anfänger geeignet. Man muss nur mit dem Strom schwimmen, den Berg hinunterrollen. Sie sind wie Löwenzahnsamen, die sich mühelos, vom Wind getragen, in die Luft erheben. Liebe entspricht der natürlichen Vorwärtsbewegung des Lebens. Sie ist unsere Bestimmung, unser Neuanfang, unsere Quintessenz. Und wenn uns der Weg zur Liebe versperrt ist, dann nur, weil wir denken, dass es so ist.

Dasselbe kann übrigens auch über all jene Magie gesagt werden, die in den Händen einer Strickerin liegt.