Kapitel 17

Heb zwei Maschen ab und stricke sie rechts zusammen

Tarrytown hatte Carson in seinen Bann gezogen. Meggie stellte fest, dass er besessen von Geisterjägervideos im Internet war, in denen spirituelle Pioniere mit Mikrophonen, Heißluftpistolen und Geigerzählern anrückten, um die Existenz von Tarrytowns zwielichtigen Existenzen zu beweisen. Die vielbeschworenen Geister des Ortes ergaben eine so fröhliche und allseits beliebte Versammlung, wie man es von Toten eben erwarten konnte: Da war der verrückte Mönch, der fünf Jungfrauen umgebracht hatte; der höfliche Soldat John André, dessen Hinrichtung noch bei den hartnäckigsten Revolutionären Mitgefühl erweckte; die süße Matilda Hoffman, die mit nur siebzehn Jahren kurz vor ihrer Hochzeit ums Leben kam, und ihr Verlobter Washington Irving, der nach ihrem Verlust niemals eine andere heiraten sollte; die Hexe Hulda, eine böhmische Ausgestoßene, die meisterhaft auf die Rotröcke zielte, bis sie tödlich verwundet wurde; und hin und wieder kam noch der Fliegende Holländer des Hudson River hinzu, das Schiff Halbmond, dessen Mannschaft die gefährlichen Ufer im Auge behielt und den rechten Zeitpunkt für eine Meuterei abwartete.

Die Halloween-Armeen waren in voller Stärke aufgelaufen, um sich überall in Tarrytown und Sleepy Hollow zu positionieren: langnasige Hexen, die aus den Schaufenstern grinsten, gesichtslose Geister, die an Angelschnüren hingen, abgetrennte Hände, die sich aus absterbenden Rasenflächen erhoben. Da sie wusste, wie verrückt Carson nach Gespenstersagen war, hatte es Meggie nicht überrascht, als ihr Neffe schließlich verkündete, wie er sich an Halloween verkleiden wollte. Sie hatte sich Aubreys Auto geliehen und den Vormittag damit zugebracht, alles Nötige dafür zusammenzusuchen: den Dreispitz, die angestaubte, alte schwarze Jacke, den klapprigen Holzstock, die graue Perücke, die abgewetzten schwarzen Stiefel. Nun bewunderte Carson sich im Spiegel in Meggies Zimmer, machte einen Buckel und ließ die Fußspitzen zur Seite zeigen. Meggie lächelte bei seinem Anblick. Sie würde Tarrytown erst verlassen können, wenn sie ihre Pflicht ihm gegenüber erfüllt hatte.

»Meinst du, irgendjemand erkennt, wer ich bin?«, fragte er.

»In dieser Stadt? Darauf kannst du wetten.« Sie erhob sich von ihrem Bett und reichte ihm ein Buch. »Außerdem wirst du das hier mit dir tragen. Das ist der Clou.«

Er posierte mit Irvings »Geschichte der Stadt New York«, die er mit gelehrter Eleganz an seine Rippen presste. Dann drehte er sich zu Meggie um und tippte sich an den Hut. »Schönen guten Tag. Diedrich Knickerbocker, zu Ihren Diensten.«

»Angenehm«, erwiderte sie kichernd.

Er wandte sich wieder zum Spiegel und nahm den Hut und die graue Perücke ab. »Die Perücke kratzt.«

»Du kannst sie auch abnehmen und nur den Hut tragen.«

Er überlegte kurz, setzte die Perücke jedoch wieder auf. Sie sagte ihm nicht, wie hinreißend er aussah, und hielt sich mit Mühe zurück, vom Bett zu springen und ihm in die Wangen zu kneifen. Er fragte sie: »Warum hat Washington Irving eigentlich nicht einfach seinen eigenen Namen auf das Buch geschrieben? Warum musste er sich als Diedrich Knickerbocker ausgeben?«

Meggie dachte nach. »Es war wie eine neue Rolle für ihn. Als wäre er ein Schauspieler, der eine andere Stimme ausprobiert. Zumindest stelle ich es mir so vor.«

»Vielleicht war er auch schüchtern«, meinte Carson.

»Kann sein«, erwiderte Meggie.

»Hey, weißt du was?«

»Was denn?«

»Ich habe entschieden, als was du an Halloween gehen sollst.«

Meggie schwieg.

»Willst du es nicht wissen? Es ist richtig gut.«

»Carson.« Meggie knautschte die Häkeldecke auf ihrem Bett zwischen den Fingern. »Setz dich mal.«

Er reagierte nicht sofort. Sein Gesicht verschloss sich, und sie kannte diesen Ausdruck von sich selbst – er machte sich auf eine Enttäuschung gefasst. Mit seinen schweren Schuhen stapfte er auf sie zu und setzte sich neben sie aufs Bett. Sie legte ihm locker den Arm um seine zierlichen Schultern. Sie vermisste ihn jetzt schon.

»Ich bleibe nicht über Halloween«, erklärte sie.

»Aber ich sollte doch dein Kostüm aussuchen.«

Meggies Entschluss geriet ins Wanken. Sie hatte schon viele Herzen gebrochen, allerdings noch nie das eines Kindes. Es war schmerzhafter, als sie ertragen konnte. Sie überlegte einen Moment, bis nach Halloween zu bleiben – doch das würde das Leid nur hinauszögern. »Es tut mir leid«, sagte sie.

»Aber … warum?«

»Ich kann einfach nicht.«

Er schwieg.

»Ich weiß, dass es überraschend kommt«, fuhr sie fort. »Aber ich muss meinen Verpflichtungen nachkommen. Erwachsenenzeug.«

»Verstehe«, sagte er. Seine Stimme war dünn, doch er weinte nicht. »Wann gehst du?«

Sie zog ihn näher an sich heran. »Heute.«

»Heute?«

»Ja.«

»Warum hast du mir das nicht früher gesagt?«

»Es weiß noch niemand«, erklärte sie. »Und es muss ein Geheimnis zwischen uns beiden bleiben. Du darfst es weder deiner Mom noch deiner Schwester noch Tante Aubrey erzählen.«

»Werden sie dich anschreien?«

»Ja. Und ich möchte wirklich nicht angeschrien werden. Also, versprichst du es mir? Versprichst du mir, dass du nichts sagen wirst?«

Er machte einen tiefen, langen Seufzer, und sein kleiner Körper in der Kleidung des alten Schriftstellers war so angefüllt mit Pathos, dass Meggie gelacht hätte, wäre es nicht so traurig gewesen.

»Hey, mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Wir sehen uns bald wieder. Ich gebe dir mein Wort, dass ich bald wieder zurückkomme und dich finden werde, wo auch immer du dann bist.«

Er blinzelte sie an; sie sah, dass seine Augen feucht waren, doch es kam keine Träne heraus. »Aber dann kann ich ja gar nicht dein Kostüm aussuchen.«

»Immerhin hast du ein tolles Kostüm, das ist doch das Wichtigste. Halloween wird bestimmt phantastisch.«

Sein Kopf schien in seinem Halstuch zu versinken.

»Jetzt zieh dir wieder deine normalen Sachen an, damit du an Halloween alle mit deinem Kostüm überraschen kannst«, forderte ihn Meggie mit all der aufgesetzten guten Laune auf, die sie zustande brachte.

»Okay«, antwortete Carson.

* * *

Nessa lag auf dem abgewetzten, mitgenommenen Fußboden nahe der Treppe, die von der Turmspitze hinunterführte. Sie wusste, dass sie für das, was sie vorhatte, Ärger bekommen würde; die Frage war nur: wie viel? Sie hatte bis tief in die Nacht in dem riesigen Monster von Buch gelesen, das sie in Aubreys Zimmer gefunden hatte, und wusste nun, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis sie versuchen würde, das Unbezwingbare mit eigenen magischen Mitteln zu bezwingen. Aber da sie bislang noch nicht zaubern konnte, und weil sie nicht viel Zeit hatte, blieben ihr nur ihre üblichen, nichtmagischen Methoden, um die Dinge geradezurücken.

Sie verdrehte ihr Bein, damit es noch ein wenig schmerzhafter aussah. Dann zog sie ein blaues Plastikdöschen aus ihrer Hosentasche und schmierte sich den Inhalt unter die Augen. Sie hörte, wie ihre Mutter hastig die Turmtreppe herauftrampelte, dicht gefolgt von Aubrey und Meggie. Sie holte gerade tief Luft, als ihre Mutter um die letzte scharfe Kurve der Treppe gebogen kam.

»Alles in Ordnung?«, fragte Bitty. »Was ist passiert?«

»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich weiß, dass ich nicht hier sein sollte. Aber ich – «

»Sag mir, was passiert ist«, unterbrach Bitty sie. »Was tut dir weh?«

Nessa schluchzte und rieb an der Träne, die ihr die Wange hinunterrollte. Den Trick mit der Erkältungssalbe unter den Augen hatte sie aus einer Fernsehsendung; sie war überrascht, wie gut es funktionierte. Sie lag verkrümmt da, ihre linke Schulter gegen die Wand gelehnt, ihr rechtes Bein mit nach innen gedrehtem Knie ausgestreckt. Sie hatte den Socken ausgezogen, und ihr Fußknöchel war ein harter, weißer Höcker.

»Ich wollte nur ganz kurz hier hochgehen«, schniefte sie. In ihren Ohren klang sie ziemlich überzeugend. »Das schwöre ich, Mom. Es tut mir wirklich leid.«

»Ist es dein Knöchel?«, fragte Meggie und hockte sich neben sie.

Nessa nickte. »Ich weiß, Mom hat gesagt, ich soll nicht hierherkommen, aber ich musste es einfach tun, und als ich gerade wieder gehen wollte, bin ich irgendwie falsch mit dem Fuß aufgekommen.« Beim Sprechen malte sie sich die Szene genauso wie in ihrer Beschreibung aus, und die Vorstellung davon, wie sie fiel und ihr vor Überraschung und Schmerz die Luft wegblieb, trieb ihr erneut die Tränen in die Augen – und diesmal waren es echte Tränen, die nichts mit der beißenden Salbe zu tun hatten –, auch wenn der Sturz gar nicht stattgefunden hatte. Sie piepste: »Ist er … glaubt ihr, dass er gebrochen ist?«

»Kannst du ihn bewegen?«, fragte Aubrey.

»Ich weiß nicht.« Nessa tat so, als würde sie es probieren, und beugte leicht die Zehen. Sie zog die Luft zwischen den Zähnen ein und schrie leicht auf.

»Mist.« Bitty stand auf, und Aubrey folgte ihr. »Wir müssen sie wohl in die Notaufnahme bringen.«

»Nein! Nicht ins Krankenhaus. Mir geht es gut. Das geht schon wieder. Ich brauche nur einen Moment.« Nessa blickte zu ihrer Mutter und ihren Tanten auf und hoffte, nach leidender Tapferkeit auszusehen. Der Satz, den sie als Nächstes sagen würde, war der wichtigste von allen. Wenn irgendetwas die Scharade auffliegen lassen würde, dann war er es. Sie ließ eine Träne von ihrem Gesicht tropfen. »Könntet ihr vielleicht ein bisschen Platz machen? Ich … ich kann so nicht aufstehen. Ihr müsst mir einfach ein bisschen mehr Platz machen.«

»Lass mich dir helfen«, sagte Bitty. »Hier, nimm meine Hand.«

Nessa warf ihr einen wütenden Blick zu.

»Okay, okay«, machte Bitty und ging mit erhobenen Handflächen ein paar Schritte rückwärts, als hätte Nessa eine Waffe auf sie gerichtet. Aubrey tat es ihr gleich und trat ebenfalls in das Turmzimmer. Es war nicht besonders groß und vollgepackt mit Krempel, so dass nicht viel Abstand zwischen Nessa und ihrer Mutter lag, höchstens ein, zwei Meter. Hoffentlich würde es reichen.

Nur Meggie verharrte zögernd an Nessas Seite. Ihr Blick war scharf und misstrauisch. Nessa spürte, wie ihr etwas wässriger Rotz von der Nase tropfte, und anstatt ihn wegzuwischen, ließ sie ihn, wo er war. Sie hoffte, dass er der Sache den letzten Schliff geben würde.

Wortlos richtete sich Meggie nun auf und trat dann zurück.

Los geht’s, bereitete Nessa sich selbst vor. Sie wackelte versuchsweise mit dem Fuß. Ihre Mutter und ihre Tanten ließen sie nicht aus den Augen: Bitty hatte die Arme missbilligend verschränkt; Aubreys Gesicht verzog sich vor Sorge; Meggie hatte die Hände in die Hüften gestemmt, und ihre Augen funkelten argwöhnisch. Nessa stand langsam auf, ohne mit dem verletzten Fuß den Boden zu berühren. Ihre Mutter machte einen Schritt auf sie zu.

»Nein!«, rief Nessa. »Bleib da.«

Sie drehte sich auf einem Bein, bis sie die Dunkelheit der Treppe vor Augen hatte. Der modrige, alte Geruch schien direkt aus einem Grabmal zu stammen.

»Geht’s?«, fragte Aubrey.

»Ich glaube …« Nessa stellte ihren Fuß auf die erste Treppenstufe, die hinunter in die Dunkelheit führte. Dann, nach einer winzigen Pause, die sich ewig auszudehnen schien, rannte sie los. Sie nahm mit donnernden Schritten immer zwei Treppenstufen auf einmal. Hinter sich hörte sie ungläubige und entsetzte Rufe. Sie zählte darauf, dass der Schock ihr die paar Sekunden geben würde, die sie als Vorsprung benötigte. Sie erreichte die offene Tür am Fuß der Treppe und warf sich so schnell wie möglich von der anderen Seite dagegen.

»Schnell, schnell!«, rief sie Carson zu, der bereits auf sie wartete. Für eine Sekunde, die beinahe eine Sekunde zu viel war, starrte er sie verdattert an. »Komm schon!«

Er gab sich einen Ruck und schob einen schweren Holzstuhl vor die Tür. Sie verkeilten ihn unter dem alten Glasgriff, der sich nur den Bruchteil einer Sekunde danach drehte. Sie hörte ihre Mutter mit der flachen Hand gegen das Holz trommeln.

»Nessa! Nessa, du lässt uns jetzt hier raus! Nessa, dafür kriegst du mächtig Ärger!«

»Nein!«, rief sie durch die geschlossene Tür. »Ihr habt jetzt eine Auszeit.«

Ihre Mutter sprach nach einer kurzen Pause weiter: »Nessa – ich meine es ernst. Du öffnest besser sofort diese Tür!«

»Oder was?«

Ihre Mutter knurrte – ein Geräusch, das Nessa ihr nicht zugetraut hätte. »Lass uns raus! Sofort, habe ich gesagt!«

Nessa trat nah genug an die Tür heran, um hindurchsprechen zu können, ohne zu schreien. »Okay. Ich lasse euch raus. Kein Problem. Aber zuerst habt ihr eine Menge zu besprechen. Und wir machen die Tür nicht auf, bis ihr damit fertig seid.«

»Wovon redest du?«, fragte Bitty.

»Ihr kommt da erst raus, wenn ihr euch nicht mehr streitet.«

»Was für ein Streit? Wir streiten uns doch nicht«, erwiderte Bitty.

»Aber ihr versteht euch auch nicht gerade besonders gut«, beharrte Nessa.

»Natürlich tun wir das.«

Nessa rollte mit den Augen. »Okay. Dann weißt du ja bestimmt auch, dass Meggie sich nachher davonschleichen will? Dass sie abhauen will, ohne euch etwas zu sagen?«

Sie bekam keine Antwort.

»Dachte ich mir doch«, sagte Nessa.

»Du bekommst so was von Hausarrest«, rief Bitty. Sie schlug wieder gegen die Tür. »Du hast Hausarrest, bis du achtzehn bist. Nein – bis du alt genug bist, um von deinen eigenen Kindern in den Wahnsinn getrieben zu werden! Nessa? Nessa!«

Nessa atmete zitternd ein. Es gab nichts mehr zu sagen. Sie sah ihren Bruder an, der mit weit aufgerissenen Augen eingeschüchtert zurückblickte. Okay?, fragte sie lautlos. Er streckte den Daumen nach oben. Sie wusste, dass sie später Ärger bekommen würde – es war schließlich ihr Plan gewesen. Doch das war es wert. Carson war eine Stunde zuvor heulend und in seinen Ärmel schniefend zu ihr gekommen, weil Tante Meggie abhauen wollte. Nessa fragte sich manchmal, ob sie die einzige Erwachsene in ihrer Familie war.

»Wie lange lassen wir sie da drin?«, flüsterte Carson.

»Das fragst du mich?«, spottete Nessa. »Ich habe keine Ahnung.«

Die Augen ihres Bruders wurden wieder feucht.

»Ist schon okay«, wies sie ihn scharf zurecht. »Wenn jemand Ärger bekommt, dann bin ich das.« Sie hörte, wie ihre Mutter weiter hinter der Tür zeterte und jämmerliche Drohungen bezüglich Nessas Handy- und Shoppingprivilegien, ihres Führerscheins, ihres Collegestudiums ausstieß und was ihr gerade sonst noch in den Sinn kam. Nessa drückte den Rücken durch, blickte ihren Bruder an und sagte, so dass sie auf der anderen Seite der Tür gut zu hören war: »Es wird ein bisschen laut hier. Lass uns runtergehen.«

* * *

Als Bitty aus dem Schattendickicht der Turmtreppe auftauchte, wusste Aubrey sofort, dass etwas nicht stimmte – und dass es mehr war als nur ein Kinderstreich. Bittys Blick war entschuldigend; der Zug um ihren Mund ließ sie verhärmt aussehen.

»Lass mich raten«, meinte Meggie. »Wir sind eingesperrt.«

»Was? Wieso?« Aubrey verzerrte das Gesicht vor Sorge. »Geht es den Kindern gut?«

»Denen geht es gut«, erwiderte Bitty. »Die reinsten kleinen Engel.«

Meggie schnaubte verächtlich.

»Ich verstehe das nicht«, murmelte Aubrey.

»Dann werde ich es dir mal erklären«, setzte Bitty an. »Unsere Freundin Meggie hier hatte vor, zu verschwinden, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen. Und das hat meine Kinder auf die Palme gebracht.«

»Ist doch nicht meine Schuld, wenn du deine Monster nicht unter Kontrolle hast«, wehrte sich Meggie. Sie stand mit verschränkten Armen nachlässig gegen die Wand der Strickerei gelehnt.

»Und es ist weder ihre noch meine Schuld, dass du an niemand anderen denkst als an dich selbst!«, rief Bitty. »Die Kinder lieben dich, Meggie. Du kannst nicht einfach so abhauen. Ich meine, was hätte ich ihnen denn sagen sollen, nachdem du weg bist?«

Draußen wurde es dunkel, und durch die klappernden Dielen drang kühle Luft herein. Es war tatsächlich eiskalt im Raum, so kalt, als stünden sie direkt draußen in der Dämmerung. Aubrey begann zu zittern. Als sie die Stimme erhob, war das schwache Weiß ihres Atems zu sehen: »Fangen wir noch mal von vorn an. Meggie – stimmt das? Wolltest du uns heute verlassen, ohne etwas zu sagen?«

Meggie sah sie finster an.

»Wieder«, sagte Bitty. »Sie verlässt uns schon wieder.«

»Hör auf, Bit«, warf Meggie ein. »Als wärst du eine Heilige oder so. Und als hättest du die Strickerei nicht auch verlassen.«

»Ich hatte zumindest den Anstand, mich zu verabschieden. Und zu sagen, wo ich hingehe.«

»Dann hast du also bessere Manieren als ich«, erwiderte Meggie. »Ganz toll. Du verdienst eine Medaille, und ich sollte zur Hölle fahren.«

»Keine vorschnellen Urteile«, mischte Aubrey sich ein. »Ich bin mir sicher, dass Meggie einen guten Grund dafür hat, wenn sie ohne unser Wissen abreisen will. Richtig, Meggie? Du hattest bestimmt einen Grund.«

»Ja – genauso einen guten Grund wie beim ersten Mal«, warf Bitty ein.

»Ich tue, was ich tun muss«, presste Meggie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Bitty lachte: »Indem du deine Familie bescheißt? Tut mir leid, wenn ich das nicht ganz oben auf die Liste der ehrenwerten Absichten setze.«

»Ich bescheiße die Familie?«

»Hört auf!«, rief Aubrey. »Hört einfach auf!«

Sie sah ihre Schwestern an, die zwar in entgegengesetzten Ecken des kleinen Raumes standen, aber jederzeit bereit schienen, aufeinander loszugehen. Bitty war gespannt wie ein Bogen, stand praktisch auf den Zehen und hatte die Hände zu Fäusten geballt. Ihre Muskeln zitterten vor Kälte. Meggie blieb trügerisch ruhig unter der schweren Kapuze ihres Sweatshirts, ihre Augen hatten sich zu Schlitzen verengt, und ihr Körper hatte die gefährliche gekrümmte Haltung eines Menschen angenommen, der kurz vorm Explodieren steht.

»Beruhigt euch, ihr beiden!«, rief Aubrey. Sie stand zwischen ihnen. »Bitty – ich bin mir sicher, dass Meggie nicht wusste, in was für eine Situation sie dich mit den Kindern bringt, wenn sie geht. Und Meggie – Bitty wollte bestimmt nicht so … unsensibel klingen. Oder, Bit?«

Bitty atmete hörbar aus. »Ich habe es nicht nötig, irgendjemanden zu beschuldigen. Meggie weiß, was sie getan hat – und sie wusste ganz genau, wie sehr es meinen Kindern weh tun würde, wie sehr es uns weh tun würde, wenn sie wieder abhaut. Das war ganz klar eine Strafe für irgendetwas – sie will uns bestrafen. Die Frage ist natürlich, wofür?«

»Ist das wahr?«, fragte Aubrey.

Meggie hatte sich tief in ihre Kapuze zurückgezogen. »Ich finde ja, die Frage sollte eher lauten: Wie zum Teufel kommen wir hier wieder raus? Anscheinend haben Bits Kinder noch nie etwas von Unterkühlung gehört.«

»Du hast wenigstens ein Sweatshirt«, erwiderte Bitty. Ihre Nase war rot angelaufen, und ihre Augen glänzten.

Aubrey warf einen Blick durch den Raum. Sie öffnete einen alten Schrankkoffer und wühlte darin herum, bis sie eine Decke fand, die zwar alt war und nach Mottenkugeln roch, aber relativ sauber zu sein schien. »Hier«, sagte sie zu Bitty.

Bitty rückte näher, und sie setzten sich nebeneinander auf den Fußboden und schlangen sich den mit Feuerwehrautos, Quietscheentchen und grünen Dinosauriern bestickten Quilt um die Schultern.

»Kommst du?«, fragte Aubrey.

Meggie blickte nur finster drein.

»Mach, was du willst«, meinte Bitty. »Das machst du ja sowieso immer.«

»Komm drüber hinweg«, gab Meggie zurück. Sie ging in eine Ecke des Raumes und ließ sich auf den Boden plumpsen.

»Jetzt hört auf, das bringt doch nichts. Meggie – « Aubrey klapperte mit den Zähnen. »Ich glaube nicht, dass du irgendetwas tun würdest, um Nessa und Carson absichtlich weh zu tun. Es muss einen Grund dafür geben, dass du so plötzlich abreisen wolltest. Einen triftigen Grund. Was auch immer du uns verschweigst, ich wette, dass es sich besser anfühlen wird, es endlich einmal auszusprechen.«

Meggie schüttelte den Kopf. Ihr war nach Schreien zumute. Oder nach Weinen. Aber stattdessen saß sie mit angezogenen Knien und zusammengepressten Lippen da und spürte, wie ihr Gesicht unter den blonden Stacheln auf ihrem Kopf knallrot anlief.

»Aubrey hat recht«, gab Bitty zu. »Was ist los? Warum hast du uns nichts gesagt?«

»Weil … ich nach jemandem gesucht habe«, erwiderte sie, jedes einzelne Wort abgewogen und wohldosiert.

»Nach wem?«, wollte Bitty wissen.

Meggie schwieg.

»Die lassen uns hier nicht raus, bevor du uns die ganze Geschichte erzählst«, gab Bitty zu bedenken.

»Na, was denkst du denn, nach wem ich gesucht habe?«, meinte Meggie. »Hallo? Nach Mom.«

»Nach unserer Mutter?«, fragte Aubrey.

Meggie verdrehte die Augen.

»Das verstehe ich nicht«, sagte Bitty. »Mom ist doch schon ewig tot.«

Meggie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht daran. Das ist bloß eine Geschichte, die Mariah sich ausgedacht hat und die irgendwann alle geglaubt haben, weil sie so bequem war.«

»Wieso gehst du davon aus, dass sie nicht tot ist?«, wollte Aubrey erfahren. »Weißt du mehr als wir?«

»Ich weiß eine Menge, was ihr nicht wisst. Ihr mögt Mom besser gekannt haben als ich, aber ich weiß auch ein paar Sachen. Dinge, die ich unterwegs über sie herausgefunden habe.«

»Was für Dinge?«, fragte Bitty.

»Sie lebt noch?«, vergewisserte sich Aubrey.

»Ich bin auf Hinweise gestoßen. Spuren von ihr. An verschiedenen Orten.«

Ihre Schwestern sahen sie an, als hätte sie den Verstand verloren.

»Menschen verschwinden nicht so einfach. Nicht heutzutage.« Meggie überkreuzte die Beine und setzte sich trotz der feuchten Kälte kerzengerade auf. »Ich war überall. In all den hundert Städten, die euch in den Sinn kommen, und all den tausend weiteren, von denen ihr noch nie etwas gehört habt.«

»Woher wusstest du, wo du suchen sollst?«, wollte Bitty wissen.

»Am Anfang hatte ich noch Hinweise, denen ich nachgehen konnte. Aber in letzter Zeit musste ich meist einfach der Stimme meines Herzens folgen«, erklärte Meggie. »Es ist ein Schuss ins Blaue, aber ab und zu kommt etwas zum Vorschein.«

»Warum hast du uns nicht erzählt, was du tust?«, fragte Aubrey.

»Weil ich wusste, dass ihr versuchen würdet, mich aufzuhalten. Und ich dachte … ich dachte, ihr würdet euch über mich lustig machen. Oder sagen, es sei Zeitverschwendung.«

»Das hätte ich niemals getan«, behauptete Aubrey. »Du hattest das Herz bei diesem Plan am richtigen Fleck. Und Mom hätte sich geehrt gefühlt und wäre stolz auf dich gewesen.«

»Wäre gewesen?«, schnaubte Meggie. »Wäre gewesen? Sie wird stolz sein – wenn ich sie gefunden habe. Nach allem, was wir wissen, könnte sie vergessen haben, wer sie ist und wo sie herkommt, und nun jemanden brauchen, der sie nach Hause bringt.«

Aubrey warf Bitty einen Blick zu – einen Blick, durch den Meggie sich schrecklich ausgeschlossen fühlte. Sie rieb sich mit den Fingerknöcheln über die Nase, deren Spitze eiskalt war. »Es ist nicht so, dass ich es euch nicht erzählen wollte oder dass ich nicht zurückkommen wollte. Ich habe jeden Tag tausendmal gedacht: Vielleicht besuche ich die Strickerei einmal. Ich schaue einfach kurz vorbei. Aber ich wusste, wenn ich nur für eine Sekunde bliebe, würde es mir viel zu schwerfallen, wieder zu gehen.«

»Aber heute wolltest du trotzdem gehen«, bemerkte Bitty.

»Nicht, weil es einfach gewesen wäre.«

»Warum dann?«, fragte Aubrey.

»Ich hatte keine Wahl. Irgendjemand muss da draußen nach ihr Ausschau halten. Irgendjemand ist ihr das schuldig.«

Aubrey fixierte einen Punkt auf dem Fußboden. Sie zog sich den Quilt fester um die Schultern. »Ich wünschte, ich hätte das früher gewusst. Dann hätte ich versucht, dir zu helfen.«

»Das hättest du gar nicht gekonnt«, erwiderte Meggie. »Du musstest doch hierbleiben, oder etwa nicht? Das ist dein Ding: dich dein Leben lang wie eine Nonne in der Strickerei zu verstecken.«

Aubrey antwortete nicht.

Bitty atmete tief aus. »Meggie, du warst noch sehr jung, als Lila verschwand. Du erinnerst dich möglicherweise nicht an alles. Vielleicht hast du Lila in deinem Kopf zu einer besseren Mutter gemacht, als sie es tatsächlich war.«

»Ich weiß mehr oder weniger, wer sie war«, behauptete Meggie.

»Und du erinnerst dich noch daran, wie sie gegen Ende war? Kannst du dich daran erinnern, wie sie alle linken Schuhe im ganzen Haus weggeworfen hat – jeden einzelnen, den sie finden konnte? Weißt du noch, wie sie einmal verhaftet wurde, als sie versuchte, einen Gartenstuhl aus einem Geschäft zu tragen, ohne dafür zu bezahlen?«

»Warum sollte sie denn solche Dinge tun?«

»Meine Theorie ist, dass sie auf Meth war«, sagte Bitty.

»Wenn das wahr ist, hättet ihr mir das schon vor Jahren sagen sollen.«

»Es tat zu weh, darüber zu sprechen«, erklärte Bitty. »Weißt du, wir alle haben sie geliebt. Nicht nur du.«

»Warum habt ihr euch dann nicht auch auf den Weg gemacht, um nach ihr zu suchen?«

»Weil sie nicht mehr da ist, Meggie«, erwiderte Bitty. »Sie ist tot.«

»Woher willst du das wissen? Es wurde nie bewiesen.«

»Es gibt Dinge, von denen du nichts weißt.« Bittys Stimme klang gereizt.

»Ach ja? Was denn?«

»Dinge …« Bitty sah aus, als müsste sie sich gleich übergeben.

»Blödsinn«, sagte Meggie.

Aubrey mischte sich ein, und die Worte purzelten nur so aus ihr heraus: »Mariah hat gesagt, dass Lila von der Brücke gesprungen ist.«

»Ich weiß. Aber ich glaube nicht daran«, beharrte Meggie.

Sie zog die Ärmel ihres übergroßen Kapuzenpullovers über ihre eiskalten Finger. Die Brücke über der Tappan Zee, der breitesten Stelle des Hudson, war ein vertrautes Bild. Als Kind konnte sie, wenn sie ihr Gesicht in einem bestimmten Winkel gegen das Fenster in ihrem Schlafzimmer drückte, das östliche Ende der prächtigen, eleganten Konstruktion erkennen, über die die Straße, gestützt von Stahlträgern, kilometerlang gen Westen führte. In ihrer Schönheit hatte stets auch etwas Gefährliches gelegen, ähnlich der Anziehungskraft einer giftigen Schlange. Jedes Jahr sprangen mehrere Leute von der Brücke in den Tod. Es wäre naiv gewesen, wenn Meggie die Möglichkeit, dass auch ihre Mutter sich auf diese Weise umgebracht hatte, nicht in Betracht gezogen hätte. Doch sosehr sie es versuchte, sie konnte sich ihre lebenslustige, leidenschaftliche, unersättliche Mutter einfach nicht vorstellen, wie sie erst das eine Bein, dann das andere über das Geländer hievte, und schließlich die Entscheidung traf, loszulassen.

Aubreys Stimme war sanft: »Du warst damals noch sehr klein. Fünf Jahre alt. Es gab Dinge, die Mariah dir nicht sagen wollte.«

»Was denn?«

»Mariah hat mir erzählt, dass Mom ihr am Abend vor ihrem Tod gebeichtet hat, dass sie Angst hatte, den Verstand zu verlieren. Dass die Strickerei sie verrückt machte. Sie sagte, sie wolle lieber sterben als zusehen, wie der Wahnsinn von ihr Besitz ergriff. Mariah glaubt …«

»Was?«, drängte Meggie.

Aubrey zog die Knie näher an sich heran. »Es gab eine nicht identifizierte weibliche Leiche. Die Polizei fand sie ein paar Wochen nach Moms Verschwinden. Sie wurde irgendwo im Hafen von Bayonne angeschwemmt.«

»War es Mom?«, fragte Meggie.

»Wir wissen es nicht«, erwiderte Aubrey.

»Wieso nicht?«

Bitty ergriff das Wort: »Hättest du die Leiche identifizieren wollen?«

Meggie überlegte, ob sie es getan hätte. Die Leiche. So ein hässliches Wort. Sie erinnerte sich, dass ihr einmal jemand die Geschichte von menschlichen Füßen in Turnschuhen erzählt hatte, die regelmäßig an den Stränden in der Nähe seines Hauses angespült wurden. Die Polizei hatte eine Weile geglaubt, es mit einem Serienkiller zu tun zu haben, weil das Muster mit den Füßen in Turnschuhen so speziell war. Aber irgendwann kam eine neue Theorie auf: Fische, Haie und die Gezeiten konnten einen menschlichen Körper ordentlich zurichten – doch sie wussten nicht, wie man Schnürsenkel aufband. Die Leichen der Menschen, die sich in Vancouver von der Brücke warfen, wurden nicht mehr an die Ufer gespült. Wohl aber ihre Füße in ihren Turnschuhen.

Meggie verdrängte die Vorstellung der Leiche ihrer Mutter aus ihrem Kopf, wie sie den Fluss hinunter bis nach Bayonne trieb, in diese Alptraumstadt, in der in Orson Welles’ Krieg der Welten die riesigen Aliens landeten. Sie erlaubte sich nicht, darüber nachzudenken, ob ihre Mutter wohl vor dem Sprung ihre Schuhe ausgezogen hatte. Wäre Meggie nicht so jung gewesen, als ihre Mutter verschwand, hätte sie als Einzige in der Familie genügend Rückgrat besessen, um zum Leichenhaus zu gehen und zu verlangen, dass man ihr den toten Körper ihrer Mutter zeigte. Nun war es zu spät. Mariah hätte ihrer Familie eine Menge Kummer ersparen können, stattdessen hatte sie sich feige verhalten. Meggie war wütend. Sie schlug die Kapuze zurück, um sich durchs Haar zu fahren; die gegelten Stacheln knisterten spröde unter ihren Fingern. »Wäre es nicht viel einfacher gewesen, wenn Mariah die Leiche identifiziert hätte? Damit es nicht so lange gedauert hätte, bis sie uns adoptieren konnte? Und um Gewissheit zu haben?«

Aubreys Atem war in weißen Wölkchen sichtbar. »Ich kann Mariah nicht vorwerfen, dass sie es nicht tun wollte. Sie dachte, Lilas Tod würde sich auf andere Weise belegen lassen.«

»Ich vermute, als ihr klar wurde, dass es keine andere Möglichkeit gab, hatten sie die Leiche schon weggeschafft«, fügte Bitty hinzu.

»Ich hätte es getan.« Meggie hob das Kinn. »Ich hätte es für euch und für mich und für Mom getan.«

»Daran habe ich keinen Zweifel«, erwiderte Bitty, und Meggie empfand ein Gefühl von Stolz und Erleichterung, mit dem sie nicht recht umgehen konnte, also schob sie es beiseite.

»Meggie – was meintest du, als du sagtest, du wüsstest mehr als wir?«, wollte Aubrey erfahren.

Meggie zögerte. Sie hatte ihre Geheimnisse schon so lange nicht mehr mit jemandem geteilt, sie wusste nicht, wie sie nun damit anfangen sollte. Doch sie zwang sich dazu. »Ich habe ein Notizbuch voller Spuren und Hinweise. Ich glaube, dass Mom an einigen der Orte gewesen ist, die ich aufgesucht habe. Irgendwann einmal.«

»Woher weißt du das?«, fragte Bitty.

Meggie erzählte ihnen von dem Foto ihrer Mutter, das sie auf ihren Reisen bei sich gehabt hatte. In ihrer Kindheit war ihre Mutter oft verschwunden, manchmal für Tage, manchmal für Wochen oder Monate. Niemand wusste, wo sie dann war, nur war Meggie klar, dass sie irgendwohin gegangen sein musste. Sie begann damit, in Lilas Zimmer nach Hinweisen zu suchen, und wurde fündig: zerknitterte Flugtickets in alten Manteltaschen, Rechnungen, zusammengeknüllt wie benutzte Taschentücher, zerrissene Landkarten, Telefonnummern mit fremden Vorwahlen, Visitenkarten, ein Werbezettel, der vermutlich irgendwann einmal unter einen Scheibenwischer geklemmt worden war.

So hatte Lila beispielsweise Spuren in Albany hinterlassen – ein Barkeeper in der Nähe des State-Museums hatte Lila vor Jahrzehnten gesehen. Er berichtete Meggie von einer Geschichte, die Lila ihm erzählt hatte, wie sie einmal volle acht Minuten auf einem mechanischen Bullen geritten war. Meggie hatte die Geschichte in ihr Notizbuch gekritzelt. Und sie schrieb dazu, was ihre Mutter angehabt hatte (der Erinnerung des Barkeepers zufolge ein bauchfreies Shirt und abgeschnittene Jeans) und was sie gern trank (Bud light). In einer Spelunke in Queens fand Meggie heraus, dass Lila einst mit einem Mann namens Clutch zusammen gewesen war, der ihr erzählte, Lila habe davon geredet, nach Kalifornien zu reisen, um sich an die Kreuzung von Haight und Ashbury Street zu stellen und zu sehen, was dort von der Hippiebewegung noch übriggeblieben war. In San Francisco angekommen, stieß Meggie an eben dieser Stelle auf ein zerschlissenes Tuch aus Merinowolle, das jemand um einen Laternenpfahl gebunden hatte, und war sich absolut sicher, dass ihre Mutter dort gewesen sein musste. Nachdem sie ein Tipp nach Washington, D. C., geführt hatte, fand sie dort die Initialen ihrer Mutter – es mussten ihre sein – in der Nähe des Vietnam-Memorials in einen Baum geritzt. Die Geschichte dahinter hatte gelautet, Lila sei in die Hauptstadt gefahren, um einen Senator wegen einer Ölpipeline zusammenzustauchen.

Meggie war der Spur gefolgt, die Lila in den Jahren vor ihrem endgültigen Verschwinden hinterlassen hatte und die sich so willkürlich durchs Land schlängelte, wie ein Tornado sich durch einen Wald pflügte. Und sie hatte selbst dann noch weitergesucht, als die Spur erkaltet war, da sie ein Loch in ihrem Herzen an der Stelle spürte, wo ihre Mutter gewesen war und vielleicht, wenn sie Glück hatte, wieder sein könnte. Das Gefühl des Verlusts trieb sie immer weiter, manchmal in blinder Trauer, manchmal in verzweifeltem Optimismus, und Meggie hatte bisweilen das Gefühl, es sei ihr Schicksal, dem Horizont hinterherzujagen.

Als sie ihren Bericht beendete, merkte sie, dass ihre Schwestern weinten.

»Sie hat etwas Selbstgestricktes zurückgelassen?«, fragte Aubrey.

»Sie hat einen Senator zur Schnecke gemacht?«, wollte Bitty wissen.

Meggie nickte. »Soweit ich weiß.« Sie blickte erst ihrer einen, dann ihrer anderen Schwester ins Gesicht und sah Lilas Augen in Bittys, erkannte Lilas Kinn unter Aubreys Mund. Ihre Schwestern machten den Eindruck, als wären sie einer bedeutenden Gewissheit beraubt worden. Aubreys blaue Augen flackerten wie ein Stromkabel, das mit einer Pfütze in Berührung kam. Bitty weinte nicht, doch Meggie erkannte an ihrem Gesichtsausdruck, wie sehr sie litt. Und Meggie begriff zum ersten Mal: All die einsamen Jahre hatte sie mit der Suche nach Lila verbracht, aber vielleicht, nur vielleicht, hatte Meggie sie längst gefunden – sosehr Lila eben gefunden werden konnte. Und vielleicht hatte sie die Möglichkeit, auch ihren Schwestern ihre Mutter zurückzugeben. Sie stand langsam auf und ging durch den Turm.

»Hier draußen ist es ganz schön kalt«, bemerkte sie.

Ihre Schwestern rückten zur Seite und hoben eine Ecke der Decke an. Aubrey sagte: »Für einen mehr ist immer Platz.« Und als Meggie sich setzte und den Rand des Quilts eng um sich wickelte, wurde sie von der Höhle aus Wärme umhüllt, die ihre Schwestern geschaffen hatten, und sie fühlte sich roh und weinerlich und war unendlich froh, dass sie nicht gegangen war.

»Ich habe mein Notizbuch dabei«, meinte sie. »Ich kann euch alles zeigen, was ich gefunden habe.«

»Das wäre wundervoll«, sagte Bitty. »Wir würden uns sehr freuen.«

»Bereust du es?«, fragte Aubrey. »Dass du so viel Zeit mit Suchen verbracht hast?«

»Nein«, antwortete Meggie bestimmt. »Überhaupt nicht.« Und sie verstand, dass sie Lila nicht verraten würde, wenn sie die Suche nun endlich aufgab. Denn auch wenn sie noch nicht viel über sich selbst wusste, war ihr doch klar, dass ihr Platz hier, bei ihren Schwestern, war. Die winzige Möglichkeit, der Erinnerung an ihre Mutter gerecht zu werden, verblasste gegenüber der absoluten Gewissheit, das Richtige für ihre Schwestern zu tun, die hier waren, die sie nicht verlassen hatten, die sie liebten und ganz zweifellos am Leben waren.

Meggie zog die Decke noch ein Stückchen höher. »Ich hätte nicht gehen sollen, ohne euch einzuweihen, und … ich hätte nicht versuchen sollen, es wieder zu tun.«

»Schon in Ordnung«, sagte Aubrey.

»Lasst uns damit aufhören«, meinte Bitty. »Mit dem Streiten und Nicht-miteinander-Reden. Keine Diskussionen mehr über die Strickerei oder die Magie oder irgendetwas anderes.«

»Einverstanden«, sagte Aubrey.

»Aubrey, ich weiß, dass du in der Strickerei bleiben willst«, sagte Meggie. Sie drückte die Hand ihrer Schwester. »Und wenn du das willst, dann ist es für mich in Ordnung. Ich werde dich nicht mehr drängen, das Haus zu verkaufen. Es ist dein Zuhause. Unser Zuhause. Das Zuhause unserer Familie. Ich will nicht, dass es verschwindet.«

»Danke«, sagte Aubrey. Doch Meggie fragte sich, ob sie nicht irgendetwas in den Augen ihrer Schwester aufblitzen sah. »Und ihr könnt übrigens auch hierbleiben, solange ihr wollt. Alle beide.«

»Danke«, erwiderte Meggie. »Ich werde darüber nachdenken.«

»Was ist mit dir?«, wandte Aubrey sich an Bitty. »Wir haben noch nicht über deine … Lage gesprochen. Ich glaube, in der Strickerei zu bleiben könnte eine gute Idee sein.«

»Ich lasse es mir durch den Kopf gehen«, sagte Bitty.

»Können wir vielleicht woanders weitermachen?«, warf Meggie ein. »Ich erfriere nämlich echt bald. Und dass ich pinkeln muss, macht die Sache nicht besser.«

»Das wird in der Kälte immer viel schlimmer«, lachte Bitty. »Ich schätze, sie werden uns schon rauslassen, wenn wir fest genug gegen die Tür hämmern.«

»Bekommt Nessa Ärger?«, wollte Meggie wissen.

»Na, ein bisschen schon«, meinte Bitty. »Und noch viel mehr, wenn sie uns nicht rauslassen sollte.«

»Schon okay«, meldete sich Aubrey. »Ich weiß, wie wir hier rauskommen.«

»Ernsthaft?«, fragte Bitty.

»Wie – aus dem Fenster?«, rief Meggie.

Aubrey schüttelte den Kopf. Sie sprang auf die Füße, schlängelte sich durch den Raum und rückte ein großes Gemälde beiseite, hinter dem eine grobe, schmale Tür zum Vorschein kam.

»Willst du mich verarschen?«, fragte Meggie.

»Ist das ein Geheimgang?«, wollte Bitty wissen. Sie standen beide auf und folgten Aubrey.

»Genau. Er führt auf den Dachboden.«

»Du wusstest die ganze Zeit, dass es einen Weg hier raus gibt, und hast uns nichts davon gesagt?«, fragte Bitty.

Aubrey lächelte. »Die Strickerei birgt nach wie vor einige Geheimnisse.«