![]() | ![]() |
von Thomas Ziebula
Mecklenburger Einöde, du willst ein Bad nehmen. Novembertrübe, Regenpause, ein Dorf am See. Du fährst Schritttempo. Aus dem Autoradio die Nachrichten: Das Blutbad in Paris; zwei sind noch auf der Flucht.
Vor dir überquert ein Mann den Wendekreis, trottet mit gesenktem Kopf vor sich hin, scheint dich nicht zu bemerken. Dein Fuß an der Bremse, du rollst nur noch, stehst fast. Jetzt erst blickt der Mann zur Seite – er ist jung, bärtig, bronzehäutig – jetzt erst weicht er deinem Wagen aus.
Seltsam. Müde vielleicht? Oder in Gedanken versunken? Im Rückspiegel siehst du sein Gesicht – jung, ernst, misstrauisch. Und im linken Nasenloch einen Tampon.
Ein Mann aus dem Morgenland. Ein Fremder.
Das letzte Haus, ein Feldweg, du parkst. Der Fremde geht vorüber. Westlich gekleidet, westlicher als du mit deiner gehäkelten Glatzenkappe und deinem verschlissenem Bademantel. Ein Geräusch umgibt den Mann aus dem Morgenland, ein Plärren, ein Quäken. Tönt es aus seinem Smartphone?
Er geht zum See hinunter. Schade. Du steigst gern nackt ins Wasser. Und unbeobachtet. Du denkst an die Nachrichten: Zwei sind noch auf der Flucht.
Später, als du am Schilf vorbei auf den Steg abbiegst, siehst du ihn ganz vorn am Rand der Plattform. Dort hockt er, der Bronzehäutige, blickt aufs Wasser hinaus, rührt sich nicht. Er hockt direkt neben der Stelle, an der du in den See zu steigen pflegst. Schade.
Du betrittst den Steg, näherst dich ihm von hinten, trittst laut auf. Er rührt sich nicht. Immer noch Lärm um ihn herum, Geplärre und Gequäke. Je näher du ihm kommst, desto deutlicher hörst du es.
Und auch das hörst du: Er spricht. Mit wem? Mit sich selbst? Mit dem Smartphone in seiner Brusttasche?
Nichts von alledem. Er betet.
Er betet?
Ja, er betet.
Du bist jetzt vier Schritte hinter ihm, fürchtest ihn zu erschrecken, sagst "Hallo", laut. Sein Kopf zuckt zur Seite, er späht zu dir herauf, mustert dich. Nickt er? Die Tamponade in seinem Nasenloch ist blutig, die quäkende Männerstimme aus seiner Brusttasche laut.
Und jetzt begreifst du: Ein Muezzin plärrt da aus seinem Smartphone. Kopfstimme, fremdartig, durchdringend. Kein Klangraum mehr für Uferstille, für das Schweigen des Sees, für Mecklenburger Idylle.
Dein Schritt stockt, du zögerst. Drei Wimpernschläge lang. In deinem Kopf liest jemand Nachrichten, drei Wimpernschläge lang: Blutbad in Paris, zwei auf der Flucht.
Du gehst an dem Fremden vorbei. Was will der Mann hier? Was betet er hier? Hier, wo du für ein Kaltbad ins Wasser zu steigen pflegst? Was hat er zu plärren, sein Muezzin?
Egal. Vor der Einstiegsleiter breitest du deine Decke aus. Die Planken regennass. Du öffnest deinen Rucksack, wirfst ihn auf die Decke. Drei Schritte hinter dir – er. Rührt sich nicht, betet auch nicht mehr, beobachtet nur; du glaubst, seine Blicke zu spüren, hörst das Geplärre.
Bademantel, Handtuch, Wollsocken, frische Wäsche – auf der Decke vor der Einstiegsleiter ordnest du deine Sachen, wünschst dir, der Muezzin würde endlich Feierabend machen. Dir wird bewusst, wie du stockst, bevor du die Hose öffnest, die Unterhose abstreifen willst. Egal, runter damit.
Du drehst dich um, packst die Leiterholme, steigst in den See. Sprosse für Sprosse. Tauchst die Zehenspitzen in den See. Eisige Kälte.
Der Mann aus dem Morgenland rührt sich nicht. Eingehüllt in das Geplärre des Muezzins, beobachtet er dich: Wie du die Füße ins Wasser streckst; wie du die nächste Sprosse nimmst; wie deine Knöchel in den See eintauchen, deine Waden, deine Knie, deine Schenkel.
Ein schöner Mann. Jung. Bronzehäutig. Schwarzbärtig. Augen wie glühende Kohle. Ein schöner Mann mit blutiger Tamponade in der Nase. Du denkst an den vergangenen Freitag, an den 13. November, an Paris. Dein Hintern versinkt im Wasser. 130 Tote. Dein Hoden zieht sich zusammen.
Du lässt die Holme los, tauchst im See unter. Kälteschock. Zwei sind noch auf der Flucht, zwei französische Männer aus dem Morgenland. Du tauchst, du schwimmst, du prustest. Eine Minute. Er beobachtet dich. Der Muezzin plärrt ihm ins Ohr. Zwei Minuten. Er beobachtet dich. Drei Minuten. Er rührt sich nicht.
Du steigst aus dem See. Gut fühlst du dich, wie ein junger Gott fühlst du dich. Er mustert deinen nackten Körper, nichts bewegt sich in seinem bronzehäutigen Gesicht. Du bückst dich nach deinem Handtuch.
Und dann erhebt er sich. Mit seinem Smartphone, mit seinem Muezzin, mit seiner blutigen Nasentamponade. Der Mann aus dem Morgenland, aus der Fremde. Aus Paris? Sein Muezzin plärrt und quäkt. Du streifst das Wasser von deiner Haut. Der Mann mit dem Muezzin wendet sich ab, geht, grußlos.
Du trocknest dich, siehst ihm hinterher. Hättest ihn ansprechen können. Doch nun ist er vom Steg abgebogen, ist bereits hinter dem Schilf verschwunden. Immer noch hörst du den Muezzin plärren.
Paris. 130 Tote. Die Konzerthalle. Vielen haben sie ins Gesicht geschossen, die bronzehäutigen Männer; zwei sind noch auf der Flucht. Du bist froh, dass sie weg sind, die Männer aus dem Morgenland: der Fremde und sein Muezzin.
Später steigst du in deinen Wagen. Dein Bademantel ist feucht, deine Füße kalt. Du drehst den Zündschlüssel um, stößt zurück. Vielleicht wird er sich rächen an dir. Du rollst in den Wendekreis. Weil du sein Gebet gestört hast, weil du dich drei Schritte neben ihm ausgebreitet hast, weil du dich entblößt hast vor seinem Muezzin.
Das Dorf liegt schon hinter dir, da fährst du noch einmal an ihm vorbei. Fährst vorbei am fremden Mann aus dem Morgenland, eingehüllt in westliche Kleidung, in Bronzehaut, ins Geplärre seines Muezzins.
Du guckst in den Rückspiegel – er bewegt seine Lippen. Dann eine Kurve und noch eine; er bleibt zurück, verschwindet aus deinem Blickfeld. Gut so.
Ein Stoppschild. Du trittst die Kupplung durch, stehst still, schaust in den Rückspiegel: Ein Mann aus dem Abendland schaut dich an, du willst nicht wissen, was er denkt. Vielleicht will er sich rächen, denkt er, vielleicht entblößt man sich nicht bei denen während des Gebets, denkt er. Lauter fremde Gedanken.
Die Straße ist frei, du fährst an, biegst ab, gibst Gas. Vorbei. Endlich. Du schaust in den Rückspiegel: Ein Fremder schaut dich an.
ENDE