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Hollywood

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von Thomas Ziebula

Er stieg in Köln zu. Ruth fiel zunächst nur auf, dass er allein war. Ein Junge, zehn, höchstens elf Jahre alt, und ohne Eltern im Intercity – sie wunderte sich.

Er packte kein Smartphone aus, er blätterte in keinem Comic, er kaute keine Gummibären. Er saß nur da und schaute in die vorbeifliegenden Städte, Wälder und Flussböschungen. Die Hände über seinem Rucksack gefaltet.

Bis Düsseldorf saß er so. Dort sprach Ruth ihn an. "Ich fahre nach Hamburg, und du?"

Aus schmalen, blauen Augen musterte er sie. Fast ein wenig misstrauisch. "Ich auch." Fahrig strich er sich eine Strähne seines blonden Haares aus der Stirn. Was hatte er zu verbergen?

"Reist du öfter allein?" Er nickte. Sie bot ihm Schokolade an. Er schüttelte den Kopf. Sie kaufte ihm Cola, als der Kellner mit seiner klirrenden Karre vorbei kam. Er lächelte scheu. Sie erzählte vom Bodensee, von der Nordsee, von ihren Enkeln in Konstanz. Er schnürte seinen Rucksack auf und begann darin herumzukramen.

Einige Sachen rutschten heraus: Socken, Zahnbürste, Taschenmesser, ein Heft. Ein Zeugnisheft. Er stopfte alles zurück in den Rucksack und hielt Ruth ein Kartenspiel hin. "Kannst du Siebzehn-und-vier?" Ruth konnte.

"Ich bin der Heiner und fahre nach Hollywood." Er sagte das ganz unvermittelt, während er die Karten austeilte. Und mit größter Selbstverständlichkeit.

"So?" Ruth ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken.

"Ja, ich werde Schauspieler." Seine Stimme wurde ein wenig heiser. "Einer wie der Arnold Schwarzenegger. Kennst du den?" Klar kannte Ruth den. Sie wunderte sich eher, dass ein Junge in Heiners Alter den noch kannte.

Sie sprachen über Terminator I. Heiner ergänzte die Szenen, die Ruth vergessen hatte. Als sie das Ruhrgebiet hinter sich ließen, erzählte nur noch Heiner. Terminator II. Später den dritten Schwarzenegger-Film. Mit Händen und Füßen erzählte er, und mit rotem Gesicht.

Von seinen Eltern erzählte er nicht. Und auch nicht, was er in Hamburg wollte. Ruth verkniff sich ihre Fragen. Irgendwann würde er sprechen.

Die Stunden bis Hamburg vergingen wie im Flug: Heiner erzählte Filme, sie spielten Siebzehn-und-vier, stellten einander Rätsel und lachten über Witze.

Vor der Bahnhofshalle von Altona blieb er unschlüssig stehen und betrachtete schweigend seine Nike-Turnschuhe. Natürlich kannte er niemanden in der Stadt. Ruth hatte es geahnt. Sie nahm ihn mit nach Hause, kochte ihm Kakao und briet ihm Eierkuchen. Während er vor ihrem Fernseher saß, machte sie ihm einen Schlafplatz auf der Couch zurecht.

Gegen Mitternacht zog er sein Zeugnis heraus. "Berg" hieß er mit Nachnamen. Fünfte Klasse, Gymnasium. Zwei Fünfen, in Mathe und in Physik. Aus Erlangen kam er. "Mein Vater rastet aus. Er will keinen Sohn, der sitzen bleibt." Trotz lag in seiner Stimme. Ruth spürte die Tränen dahinter.

Heiners Vater arbeitete am Amtsgericht, als Richter. Seit zwei Tagen schon war Heiner unterwegs. "Und deswegen willst du nach Hollywood?" Ruth strich ihm über sein Blondhaar. Er ließ es sich gefallen.

"Der Arnold Schwarzenegger hat auch schlechte Noten gehabt", murmelte er, "der war nicht mal im Gymnasium."

Er schlief wie ein Stein. Ruth saß bei ihm an der Couch. Sicher eine Stunde lang. Dann blätterte sie die Zeitungen der letzten beiden Tage durch. Nichts.

Am nächsten Morgen, beim Frühstück, fragte er, ob er sich ein paar Brote schmieren dürfte, als Proviant. "Ich werde mich auf ein Schiff schleichen, als blinder Passagier", und er wisse nicht, wann er das nächste Mal etwas zu essen bekomme.

Ruth machte ihm einen Stoß Käsebrote. Danach zeigte sie ihm Fotos: Von ihren Enkeln, von ihrer Tochter und von ihrem verstorbenen Mann. Später schaltete sie den Fernseher ein. Während er davor saß, holte sie die aktuelle Tageszeitung aus dem Briefkasten. Die Vermisstenanzeige stand unter Vermischtes. Zehnjähriger aus Erlangen verschwunden. Entführung nicht ausgeschlossen.

Ruth seufzte. Sie ging ins Wohnzimmer und setzte sich zu ihm. Sie schaute einen Abenteuerfilm mit ihm an, ließ sich danach Schach beibringen und erklären, wie man ein Smartphone bediente. Danach kochte sie Spaghetti mit Tomatensoße. Am späten Nachmittag begleitete sie ihn in Richtung Hafen. Bei McDonald's machten sie Rast. Zwei Stunden saßen sie dort. Ob er denn einen Plan habe, wie er von New York City nach Hollywood gelange.

Hatte er.

Ob er denn genug Geld gespart habe für die Flugreise von New York City nach Hollywood. Er zählte 36,50 Euro auf den Tisch.

"Das reicht niemals."

"Dann fahre ich mit dem Zug." Auch dafür reiche das Geld nicht. "Dann nehme ich den Greyhound." Ruth runzelte fragend die Stirn. "Den Überlandbus."

Ruth setzte eine besorgte Miene auf und nahm seine Hand. "So eine lange Reise will sorgfältig vorbereitet sein. Arnold Schwarzenegger hat lange gespart dafür. Und war schon fünfundzwanzig, als er nach Amerika auswanderte."

"Einundzwanzig", sagte Heiner trotzig.

"Dann hatte er elf Jahre mehr Zeit als du für die Vorbereitung seiner Reise. Elf Jahre, um genügend Geld zu sparen. Elf Jahre, um noch möglichst viel zu lernen."

Heiner entzog ihr die Hand. Trotzig blickte er an ihr vorbei und zum Fenster hinaus in den Hamburger Berufsverkehr.

Ruth sprach davon, wie sehr sie Menschen bewundere, die wissen, was sie wollen, und wie sehr sie sich darauf freue, ihn, Heiner, später einmal auf der Leinwand zu sehen. "Alles ist möglich", sagte sie, "und du wirst nach Hollywood gehen, da bin ich sicher. Wenn deine Zeit gekommen ist, wenn du genug gelernt und gespart hast."

Wieder nahm sie seine Hand. Diesmal ließ er es geschehen. Und Ruth redete und redete. Gegen Abend hatte sie ihn so weit.

Mit dem Nachtzug fuhren sie nach Erlangen. Im Schlafwagen. Am frühen Morgen setzte sie ihn in ein Café und bestellte ihm Kakao und Käsekuchen. Sie lieh sich sein Smartphone aus und telefonierte mit seinen Eltern.

Eine halbe Stunde später betrat ein erschöpft wirkendes Paar das Café. Heiner verbarg sein Gesicht hinter einer Illustrierten. Mit einem Aufschrei stürzte die Frau zu seinem Stuhl und presste ihn an sich.

Der Mann hob den Jungen einfach hoch und drückte seine Wange an sein Gesicht. "Mach' das nie wieder, bitte, Heiner ..." Mehr als ein Flüstern brachte er nicht zustande. "Ich bin ja vor Angst gestorben. Und in den Herbstferien fliegen wir nach Hollywood."

Über die Schulter seines Vaters schaute Heiner zu Ruth hinunter. Seine Augen waren feucht. Er grinste.

ENDE