von Thomas Ziebula
Ein Dorf an der polnischen Grenze. Es ist kalt. Schneematsch auf dem Feldweg, Hundegebell ringsum. Es regnet. Dort hinten am Zaun steht ein Mann in schwarzem Mantel. Steht und schaut über den Zaun des letzten Grundstückes vor dem Waldrand.
Steht er? Nein, er tanzt. Tänzelt von einem Fuß auf den anderen, dreht sich, wirft die Arme hoch, kreuzt sie wieder über der Brust, schlägt die Hände vor's Gesicht.
Schaut er? Es zuckt um seinen Mund, er spricht, er ruft. Seine Augen sind mit Tränen gefüllt. Klagt er?
Ich werde zu ihm gehen, werde ihn fragen.
"Fremder", frage ich, "du weinst? Tanzt und klagst am Zaun vor diesem Grundstück? Tanzt und klagst und weinst?"
"Ja, ich weine", sagt der Fremde, "ich schau' auf dieses Grundstück zum ersten Mal nach vielen Jahren wieder, tanze hier am Zaun und weine."
"Was aber, Fremder, stimmt dich traurig? Was an dieser Scheune, dieser Stallung, diesem Haus und Garten macht dich weinen?"
"Hier bin ich aufgewachsen. Hier wollte ich groß sein, um endlich gut zu werden."
"Du gingst als Kind über diesen Hof, durch diesen Garten?"
"Ja, bis die Mauer trennte. Ich ging als kleines Kind über diesen Hof. Sechs Jahre lang. Ich ging durch diesen Garten, mit einer Säge des Vaters in der kleinen Hand. Ein warmer Frühlingstag ist’s gewesen."
"Dein Vater war ein Handwerker?"
"Mein Vater war ein Zimmermann. Tagsüber baute er Scheunen und Häuser und richtete Dachstühle auf. Abends kam er heim und köpfte Hühner, stellte seine Holzpantoffeln vor die Treppe, prügelte seine Kinder, badete sie, schwängerte seine Frau und hörte geheimnisvollen Stimmen aus dem Radio zu. Und schrieb in ein schwarzes Buch, was sie sagten. Abends kam er heim und strafte seine Kinder und fütterte das Schwein, sein Lieblingshuhn und auch die weiße Ziege, und sein Rohrstock lag auf dem Küchenschrank. Abends kam er heim und stritt sich mit seiner Frau und zeugte neue Kinder und goss die Blumen und grub Löcher in die Erde und pflanzte junge Bäume."
"Und gestern, Fremder, gestern Abend hat dein Vater, der Zimmermann, ein Pfirsichbäumchen eingepflanzt?"
"Ja, wie gestern scheint’s mir, das mein Vater es getan hat: ein Pfirsichbäumchen einpflanzen."
"Und du gehst mit der Säge in den Garten zu dem jungen Pfirsichbäumchen."
"Ja, der kleine Junge mit der großen Säge geht zum Pfirsichbäumchen in den Garten. Er ist so stolz, der kleine Junge mit Vaters Säge, so stolz und beinahe so groß, wie der Vater. Er ist so stark, ganz fest kann er den Stamm des Pfirsichbäumchens ergreifen, und wie ein großer, starker Zimmermann kann er ihn durchsägen."
"Das hast du wirklich getan?"
"Ich hab ihn abgesägt, wahrhaftig."
"Und dann bist du erschrocken, Fremder, nicht wahr? Das Herz schlug dir im Hals, oder?"
"Wo denkst du hin? Der kleine Junge nimmt den Baum in seine Linke und hält die Säge in der Rechten und denkt: Wie stark ich bin! Stark wie mein Vater, wie der große Zimmermann!"
"Und dann geht er stolz zu seinem Vater?"
"Ja, stolz und froh. Es winkt von weitem mit dem Pfirsichbaum und mit der Säge."
"Und der Vater?"
"Vaters Wange blutet."
"Seine Wange blutet?"
"Ja."
"Wie das?"
"Früher, als der kleine Junge noch nicht laufen konnte, hat er hineingebissen."
"In die Wange?"
"In die Wange. Der Vater trug sein Söhnchen auf dem Arm, und es biss ihn in die Wange."
"Und sie blutet immer noch?"
"Sie blutet immer wieder. Sie wird niemals aufhören zu bluten."
"Und es schmerzt den Vater nicht?"
"Vaters Schmerz ist groß und voller Rätsel. Sein Schmerzgeheimnis bleibt in seiner Brust. Sein Junge wird es nie enträtseln."
"Und hat er mit seinem kleinen Söhnchen geschimpft?"
"O ja, böse ist er gewesen. ‚Wenn du groß bist, werde ich dich strafen’, hat er gerufen!"
"Und der kleine Junge mit dem abgesägten Pfirsichbaum – ist er schon groß genug, bestraft zu werden?"
"Sicher, das ist er. Groß genug, bestraft zu werden."
"Wie bestraft er ihn?"
"Die Strafe meines Vaters ist groß und voller Rätsel."
"Hat er seinen Pfirsichbaum beweint?"
"O nein, Tränen sog er immer tief in seine Brust, sein Schmerz war ein Geheimnis."
"Aber, Fremder, vielleicht hat er ja doch geweint!"
"O nein, nur ich weine. Ich weine für ihn."
Es hat aufgehört zu regnen. Der Fremde knöpft seinen Mantel auf und steckt die Hände in die Hosentaschen. Er nickt mir zu und geht. Die Märzsonne glitzert im Schneematsch auf dem Feldweg.
"Fremder", rufe ich dem Manne nach, "verstehe ich dich richtig? Der kleine Junge ist nun groß geworden und weint für seinen kleinen Vater?"
Der fremde Mann dreht sich um und sagt: "Er wird groß und er kann tanzen und weinen."
"Und ist der kleine Junge auch gut geworden, Fremder?"
"O ja. Ich werde immer größer und ich kann immer besser lachen." Er lacht wirklich. Und er winkt und geht. Und singt ein altes Lied. Ich höre es, und es ist mir vertraut:
"Leb wohl, mein Freund. Ich herrenlos, du tot.
Im Rücken die Ruine war mein Haus,
und Worte wachsen mir wie neue Zähne.
Mit ihnen säg’ ich Wege durch den stummen Wald."
ENDE