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Eintritt

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von Thomas Ziebula

Wie oft schon aufgestanden von diesem Stuhl! Nach dem Glas gegriffen, in die Runde geprostet – wie oft schon.

Jetzt klirren sie, alle sechs Gläser, und Wilhelms Bariton intoniert: Hoch soll sie leben. Zum zehnten Mal heute Abend, grob geschätzt.

"Der Wein." Maria mit der leeren Flasche in der Hand. "Gehst du?" Ihre Stimme, ihr Blick unter fragend hochgezogenen Brauen. Wie oft schon!

Nicken, auf dem Weg zur Tür ihre Hand berühren und hinaus in den Flur. Den Getränkekorb mit den leeren Flaschen in der Rechten, mit der Linken nach dem Lichtschalter tasten.

"Bring’ den Vierundachtziger mit hoch!"

Licht flammt auf, natürlich, wie immer, wenn diese Hand den Schalter kippt. Wie oft schon.

"Den von Laubes?"

Vor zwei Jahren allerdings, am Tag nach Julius’ Auszug, merkwürdiger Zufall, ist die Glühbirne durchgebrannt.

"Nein!" Marias Stimme noch einmal hinter nur angelehnter Tür. "Den sie dir in der Klinik zum Zehnjährigen geschenkt haben!"

Unter den Füßen das grobe Gewebe des Läufers. Wie oft diesen Weg gegangen, wie oft in diese Latschen geschlüpft! Hier an dieser Stelle und an keiner anderen.

"Den wollten wir doch für eine besondere Stunde aufheben!"

Dann der Blick in den Spiegel über der Kommode. Ein Gesicht lächelt zurück. Wie Vater. Je älter das Gesicht im Spiegel wird, desto deutlicher lächelt Vater zurück.

"Ist das etwa keine besondere Stunde? Fünfzig wird man nur einmal, Schatz! Gerade du müsstest das doch wissen."

Nur einmal. Verharren vor dem Spiegel. Um genau zu hören: "Nur einmal." Um genau hinzusehen: ein Gesicht. Das Jungenhafte um die Augen hatte Vater auch. Allerdings verschmitzter, verschlagener, nicht so weich. Nur einmal.

"Eine ganz besondere Stunde, mein Lieber!" Wilhelms Stimme. Er zieht die Tür auf, bleibt im Rahmen stehen. "Sieh also zu, dass du zurück bist vor Mitternacht." Albern ist er. Wie meistens, wenn er gerührt ist. Und Wein genug hat im Bauch. "Wir wollen eine besondere Stunde feiern!"

Er hebt sein Glas. Genauso hat er es gehoben, als er den Posten im Vorstand bekam, im November vor zwei Jahren. Und bei der Silbernen. Im Hotel damals. Vater und Mutter haben die Tränen in den Augen geglänzt nach seiner Rede.

"Oder müssen wir bis zu deiner Beerdigung warten mit dem Vierundachtziger?" Gelächter. "Von mir aus. Würde schon eine halbe Flasche mehr für alle ausmachen, die dich überleben werden!" Lauteres Gelächter. Nur Marias Stimme lacht nicht. Humor ist nie ihre Stärke gewesen.

Der Mann im Spiegel dreht sich um und sieht Wilhelm im Wohnzimmer verschwinden. Immer noch Gelächter. Nur einmal. Die vier Stufen hinunter, die immer gleichen. "Also gut, dann eben den Vierundachtziger für diese besondere Stunde." Die Stimme klingt eher wie Mutters. Eine Stufe, zwei. Unvergesslich, wie der Große den Kinderwagen mit Julius hier hinunterstieß. Drei, vier.

Nur einmal.

Als Kind, in den Bergen, klang das Echo, als würde sie rufen, Mutter. Früher. Als Kind.

Dann das Schränkchen, darauf das Telefon, Adressbuch daneben, Julius’ Nummer aufgeschlagen. Nicht erreicht vorhin, wenigstens am Geburtstag seiner Mutter könnte er eigentlich von sich aus anrufen. Später noch einmal versuchen.

Zwischen Haustür und Ölgemälde die Digitaluhr. 23.28 Uhr. Scheußliches Ding! Hätte Julius sie nicht eigenhändig gebaut in dem Jahr, bevor er auszog, sie hinge schon nicht mehr dort. Schön das Bild mit den Kindern beim ...

Was liegt denn da neben dem Adressbuch? Die Rechnung für die Buchung der Ferienwohnung! Verdammt. Morgen ist Samstag. Die Banken zu. Ein Ball neben dem Telefontisch. Wilhelms Jüngster. Schläft bereits. Gut so. Hand auf die Brust. Verfluchtes Stechen! Seit Tagen schon. Macht nichts. Und noch immer kein Online-Banking. Macht nichts. Überweisen wir’s am Montag. Die Franzosen nehmen’s nicht so genau.

... das Gemälde mit den Kindern am Mittagstisch. Von der Tschechin mit dem unaussprechbaren Namen. Wilhelm lacht schon wieder. Oder war’s eine Polin? Das kleinste Mädchen dreht sich zum Betrachter. Mit der Hand im leeren Teller. Wo gehst du hin?

In den Keller. Zum Vierundachtziger. Nur einmal.

Mit der Tür stimmt etwas nicht. Keine Klinke. Das ist doch die Kellertür? Nur angelehnt. Das ist doch die verdammte Kellertür! Wie von unsichtbarer Hand berührt, springt sie auf. Dieses Stechen, meine Güte. Dahinter noch eine Tür. Nie gesehen. Eine unbekannte Tür im eigenen Haus?

Schwindel. Elendes Stechen. Gegen die Wand lehnen. Luft holen. Der Getränkekorb schlägt irgendwo auf. "Wilhelm, kommst du mal?" Alles schwankt – die Kellertreppe, die Türschwelle, die Wand. Flaschen klirren Steinstufen hinunter. Und was soll der Nebel?

Die Augen schließen, die kühle Wand an der Stirn spüren, atmen, atmen, atmen. "Wilhelm?" Wessen Stimme ist denn das? Stechen im Rücken, in der Brust. Stechen, Angst, Vernichtung.

Der Nebel lichtet sich. Statt der Kellertreppe auf einmal ein blutroter Teppich. Und ein Gang zur fremden Tür hin. Und ein Spion an der nie gesehenen Pforte. Geh hin! Schau durch! Sieh den zitternden Lichtfleck!

Das Portal springt auf. Von allein. Ein Sturm von Orgelakkorden. Rauschen, Klänge, ein Orkan. Dunkelheit, zerspalten von farbigen Blitzen. Verflechten sich mit stürmenden Klängen, türmen sich auf zu hallendem Gewölbe, jäh aufleuchtend und dann wieder Schwärze.

Eine Wiege im Lichtergewitter. Darüber gebeugt ein Mann. Er weint. Vater. Vor Freude. Und da – Mutter! In ihrem grün geblümten Perlonkleid. Und die Orgel, die Orgel, die Orgel. Was riecht hier? Das ist doch Mutters Haarspray! Und der Sechsjährige, stolz über hölzernem Feuerwehrauto.

Bin das ich? Der Orgelorkan rauscht und schwillt und rauscht und schwillt. Stockender Atem, Vernichtung in der Brust. Ein Junge über einem Feuerwehrauto, grinst wie ein Sieger. Das bin doch ich. Farblichter glühen und kreisen. Wohin gehst du? Nur einmal, nur einmal. Die Orgel rast. Es riecht nach Lachgas. Das ist doch Ich.

Ich auf dem Zahnarztstuhl, Ich mit der Schultüte, Ich vor der Kirche, Ich mit dem Buch unterm Arm, Ich im schwarzen Anzug, Ich mit Maria an der Seite! Ich, Ich ...

Die Bilder zerfließen in flimmernde Farbwirbel, rinnen zu neuen Bildern ineinander, umrankt vom Brüllen der Orgel. Der Atem stockt, Blei kocht in der Brust und Pulsschlag galoppiert hart in den Ohren.

Glitzernder Lichtfleck tanzt zitternd über der Bilderbrandung, den Farbwirbeln, den wilden Akkorden, dehnt sich, pulsiert im rasenden Rhythmus der Orgelmusik, speit neue Bilder aus, immer neue: Wilhelm mit Ich im Kinderbett, Ich vor der Kote am Moorsee, Julius auf Ichs Arm, und Lachgas und Haarspray und Bratenduft, und feuchter Geruch nach Regen und Erde und Erde und Erde und Duft von so vielen Sommern.

Nur einmal. Wohin gehst du? Wohin?

Maria. Eine besondere Stunde. Nur einmal. Der Vierundachtziger. Ihre Haut, ihre Brüste, die Orgel wie ihr Stöhnen, Küsse und Samenduft und Blei in der Brust, so heiß, so heiß, so heiß.

Das Brüllen der Orgel schraubt sich in unerträgliche Höhe hinauf. Kreischen, Stechen in den Ohren, der tanzende Lichtfleck explodiert, saugt Farbfetzen, Bildertrümmer in sich auf, glühendes Blei zersprengt die Brust, Duft von Samen und feuchter Erde und Maria und Mutter und so vielen Sommern.

Ein Vogel löst sich aus dem Lichtgewirbel. Gewaltiger, blauer Vogel! Wird weiß, wird rot, wird wieder blau. Hebt die weiten Schwingen. Adler, Engel, Geier, Albatros. Senkt die Schwingen. Sanfter die Orgel, Töne fließen ineinander, vielstimmiges Summen. Leichtigkeit da, wo die Brust war. Hebt die Schwingen. Nur einmal. Senkt die Schwingen. Nur einmal. Wohin gehst du? Hebt die Schwingen. Leise die Orgel, zärtlich, heiter. Senkt die Schwingen ...

Funkelnde Spirale aus Licht, Sterne, Sterne, Sterne.

Leichtigkeit da, wo die Brust war. Leichtigkeit, Schweben, Verhauchen. Die Orgel flüstert, seufzt, lächelt, haucht. Gelächter, Leichtigkeit, Hauchen, Schweben, Sternenspirale, Andromeda, Stille, Nichts.

*

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"MARIA! RUF DEN NOTARZT! Schnell"

Wilhelm im Rahmen der Kellertür. Das Telefon plärrt. "Julius? Soll später noch mal. Den Notarzt! Beil dich!" Wilhelms Schritte auf den Stufen.

Im Spiegel eine Frau. Gefrorenes Gesicht. Die Digitaluhr über der Stelle, an der Wilhelm eben noch stand. Wo ist er jetzt? Was sieht er jetzt? Wohin gehst du? Nur einmal.

Die Digitaluhr. 23.29 Uhr.

ENDE