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von Thomas Ziebula
"Grüningen Rebberg!" Zischend öffnen sich die Türen. Ein Mann steigt ein. Ächzend. Behäbig. Schwarze Aktenmappe, blaues Jackett, brauner Cordhut, schwere Lider. Lässt sich sinken in die Bank vor mir. Wieder Zischen. Der Motor brummt auf. Dann huscht sie dämmrig an der Scheibe vorbei, die Welt: Häuser, Autos, Bäume, Plakate, Wolken, Menschen, Laternen. Allein das Licht des heraufdämmernden Morgens ruht still über den dunklen Konturen der Hügelkette.
Das Brummen des Motors, das Flimmern der Heizungswärme, die leeren, dunkelroten Sitze, das Schweigen der wenigen Fahrgäste – alles konzentriert sich zu ruhigem Warten auf den erwachenden Tag. Cordhut entfaltet raschelnd eine Zeitung.
"Grüningen Bergring!" Das Genuschel des Busfahrers wird vom Zischen der Türen abgewürgt. Einige Schüler poltern herein. Schwatzen, Rufen, Kichern. Dazwischen ein paar junge Frauen. Eine setzt sich neben mich. Jeansanzug, blondes Langhaar, Geruch von Teakholzöl, Zahnpasta und Dusche. Höchstens fünfzehn Minuten her. Trübe, plastikblau eingerahmte Augen in blassem Gesicht. Arzthelferin vermute ich. Angestrengt starrt sie geradeaus auf Cordhuts faltigen Specknacken. Die Schlagzeile prangt zwischen seinen Fäusten: "Wieder Asylanten-Wohnheim in Flammen!"
"Donaueschingen Aufen!" Nuschels Stimme. Und dann ergießt sich ein Strom von Schülern in den Bus – von vorne, von hinten. Kreischen, Schnattern, Schreien, Stoßen.
Rot und leuchtend hat sich der Morgen auf den Wipfeln des Waldes und den Dachfirsten der Stadt aufgerichtet.
Ich steh auf, geh zum Busfahrer. "Käferbrücke muss ich raus. Bin fremd hier. Sagen Sie Bescheid?" Klar! Wird gemacht. Noch drei Haltestellen. Nuschel nickt freundlich. Danke. Zurück zur Arzthelferin. Durch Johlen, Kreischen und Schnattern der Schüler. Vorbei an Sekretärinnen, Lehrern, Lagerarbeitern, Verwaltungsangestellten. Vorbei an den Knien des Mädchens. Sie schaut kurz auf. Müde, leer. Ich lasse mich neben sie auf den Sitz fallen.
"Neue Wolterdingerstraße!" Wieder quellen Schüler, Arbeiter und Angestellte herein, pressen sich in Sitze und Gang. Die Arzthelferin rückt näher zu mir. Duft von Wasser und Deodorant. Sie drückt ihren Schenkel an meinen. Keine Scheu vor der Berührung mit dem Fremden. Auch ihr Arm zuckt nicht zurück. Sie kramt einen Zettel hervor und beginnt etwas aufzuschreiben. Cordhut hat die Zeitung umgeblättert. Das Porträt des neu gewählten Präsidenten von Amerika strahlt mich an. Die Morgenröte glitzert durch die Feuchtigkeit, die sich an den Busfenstern niedergeschlagen hat.
Die Schüler vorne rechts erzählen Judenwitze. Ein Halbwüchsiger in der Nachbarbank erklärt die Funktion der Waffe von Terminator II. Er zielt auf Nuschel. "Womm!" Die Fahrgäste auf den Stehplätzen im Gang stieren stumm vor sich hin. Oder belauschen die beiden Frauen hinter mir. Tomaten aus Holland schmecken nach Wasser und Bananen kann sich bald niemand mehr leisten. Sie wollen zum Wochenmarkt.
Neben ihrer Bank im Mittelgang steht ein Farbiger. Er bückt sich, um seine Plastiktüte abzustellen. Dabei stößt er mit dem Ellenbogen gegen die Schulter der außen sitzenden Frau. Erschrecken, offen stehender Frauenmund. "Excuse me, Schulligun", verlegenes Entblößen weißer Zähne.
Gute Obsternte dieses Jahr. Die Wochenmarktfrauen haben sich wieder gefasst. Letztes Jahr um die Zeit vierneunundneunzig das Kilo Äpfel. Schweigen. Ein verstohlener Blick zu dem Farbigen. Der beobachtet Schwarzenegger. "Womm! Womm!" Beim Aldi gibt's Kaffee im Sonderangebot. Rot liegt der Sonnenball auf der Silhouette der Hügelkette.
*
"AMTSGERICHT!" NOCH eine Haltestelle. Ein Schwung Schüler steigt aus. Die Stehplätze lichten sich. Der Afrikaner versucht seinen Blick von Schwarzenegger fernzuhalten. Der hat seinen Kumpel im Würgegriff. – Kaffee soll jetzt sowieso wieder billiger werden.
Von rechts wird mir ein Zettel gereicht. Auf den Wangen der Arzthelferin glänzt es feucht. Ich nehme den Zettel aus ihrer zitternden Hand und wische die beschlagene Scheibe mit dem Jackenärmel ab. Der rote Glutball hat sich von den Hügeln gelöst. Strahlend lehnt sich der neue Tag an das Busfenster.
Cordhut studiert jetzt das Sportteil. Erschüttert schüttelt er den Kopf. Der VFB hat schon wieder verloren.
"Mein Vater hat mich vergewaltigt", in zierlicher, ordentlicher Mädchenschrift stehen diese Worte auf dem Zettel in meiner Hand. Es ist unerträglich heiß. Viel zu schnell fährt der Bus. Ich lese ein zweites Mal: "Mein Vater hat ...". Meine Haltestelle müsste längst erreicht sein. Das Stimmengewirr schwillt an. Schreien, Lachen, Singen, Schnattern, Seufzen, Grunzen.
Die Arzthelferin schluckt zwei Tabletten. Jetzt sehe ich die schwarzen Ringe unter ihren Augen. Im Blondhaar erkenne ich graue Strähnen. "Ekelhaft!", ruft die Aldikundin hinter mir. Sie entfaltet ein Papiertaschentuch. "Der riecht ja aus dem Mund!" Sich bückend breitet sie das Taschentuch irgendwo zu ihren Füßen aus. Mein Gedärm krampft sich zusammen. Ich muss aufstehen. Die Arzthelferin hat ihr Gesicht in den Händen vergraben und zuckt. Schwarzenegger kniet auf der Brust seines Banknachbarn und schlägt dessen Kopf gegen die Seitenwand. An den zusammengepressten Knien der Arzthelferin vorbei dränge ich mich in den Mittelgang. Ich stolpere über die entblößten, dürren Beine des Afrikaners. Den nackten Arm im Gang und den taschentuchbedeckten Kopf zu Füßen der Aldikundin liegt er da. Haut und Knochen. Der Bauch aufgebläht wie eine Schweinsblase.
Ein Endvierziger in dunklem Trenchcoat schiebt sich grob an mir vorbei und beugt sich zur Arzthelferin hinunter. Sie solle ihr hemmungsloses Geheule einstellen. Das störe den Busfahrer. Cordhut, der jetzt Totoscheine ausfüllt, dreht sich halb herum und nickt zustimmend.
Ich will zum Busfahrer. Meine Haltestelle müsste längst erreicht sein. Ein Vorhang verdeckt jetzt die Sicht auf Nuschel. Noch bevor ich ihn beiseite ziehen kann, werde ich von zwei Polizisten zurückgedrängt. Ob ich einen Termin hätte und ich solle mein Ticket vorweisen. Wo es das denn gäbe. Ganz hinten im Bus. Ach ja, richtig. Ich dreh' mich um und versuche das Busende zu erkennen: Ein Dschungel aus Haltestangen, roten Sitzpolstern, Gepäcknetzen und Menschen. Zögernd taste ich mich durch die Menge bis zu meinem Platz. Den hat jetzt Cordhut eingenommen. Die Arzthelferin hält ihm das Sportteil und deutet auf den Totoschein. Noch einmal versuche ich das Busende ins Auge zu fassen. Wieder vergeblich. Dann mache ich mich auf den Weg.
Dürft' ich mal vorbei? Danke. Ich such' mein Taschentuch. Pardon. Dürft' ich ...? Es stinkt nach Aas. Mit vor den Mund gepresstem Taschentuch bitte ich einen Tennisspieler um Durchlass. Er unterbricht sein Training, lässt mich vorbei. Meine Füße stoßen wieder an etwas Weiches. Ein Schwarm Schmeißfliegen summt auf. Gleißendes Sonnenlicht an den Busfenstern. Die Welt rast vorbei: Berge, Dächer, Hängebrücken, Eisenbahnen, Flugzeuge, Eiffeltürme, Flüchtlingstrecks, Panzerkolonnen, Öltanker, Pyramiden, Vulkane, Seen.
Dann eine Menschenmenge in gespanntem Schweigen. Alle Augen starren auf ein Busfenster. Die Übertragung eines Fußballspieles flimmert über die Scheibe. Ich drängele mich durch die Zuschauer. Niemand nimmt Notiz von mir. Im Gepäcknetz, links oben, liegt eine olivgrün gekleidete Gestalt.
Wieder eine Menschentraube. Beifallgrölende, glatzköpfige Lederjacken. Im Busfenster hier eine Parlamentsdebatte. Ein Redner mit unglaublich schönem Gebiss brüllt in ein Mikrofon: "Der Bus ist rassisch durchmischt", und wie lange die Hygienischen unter uns den Knoblauchgeruch noch ertragen wollen ...
Der Uniformierte im Gepäcknetz robbt über Taschen, volle Einkaufsnetze und Skiausrüstungen. Auf dem Rücken ein Gewehr. "Scheiße, Scheiße, Scheiße!", zischt ein Junge zwischen zwei Sitzen auf dem Boden hockend. Wie wild sticht er mit dem Zeigefinger auf seinem Gameboy herum. Über ihm, auf der Bank, liegt ein Herr in dreiteiligem Nadelstreifenanzug. Er reicht dem Jungen eine Flasche mit bernsteinfarbener Flüssigkeit herunter.
Ich versuche mich an den Glatzköpfen vorbeizudrücken. "Was sollen wir tun?!", fragen sie den Politiker im Busfenster. "Achtet auf alle, die rote Schnürsenkel tragen! Stöbert sie auf, jagt sie ...".
"Pardon, würden Sie bitte Ihren Absatz von meinem Fuß nehmen ...",
"... kreist sie ein, merzt sie aus ...!",
"... ich muss nämlich ans Busende, wegen meiner Aufenthaltserlaubnis, wissen Sie ...". Glatzkopf starrt auf meine Schuhe. "Ich meine, könnten Sie mich ...".
"... und achtet vor allem auf die, ..."
Ich drücke mich vorbei, muss dann aber eine vielköpfige Familie aus der Sitzbank lassen, die ängstlich und hastig ihre Kisten und Bündel zusammenrafft und Richtung Busende huscht. Zuletzt die Mutter in langen Kleidern und Kopftüchern, einen Säugling auf dem Rücken, Körbe auf dem Kopf.
"... die keine roten Schnürsenkel tragen! Sie könnten sich getarnt, die roten Schnürsenkel geschluckt, die braunen, weißen, schwarzen geraubt, und die guten Plätze im Bus ohne Ticket besetzt haben ...!" Ein Baseballschläger trifft mich schmerzhaft an der rechten Schulter.
"Hey! Spielst Du Skat?" Ein blauer Anton baut sich vor mir auf. "Wir brauchen 'nen dritten Mann ..." Das Busende, wann kommt endlich das Ende .... Der Uniformierte im Gepäcknetz hat sein Gewehr auf einen Geigenkasten gestützt und späht durch das Zielfernrohr.
"Vorsicht bitte! Platz machen!", tönt es von hinten, "Platz da!" Nacheinander tragen sie drei Särge vorbei. Zum Ende des Busses womöglich? Ich mische mich unter die Trauergesellschaft. Direkt vor mir schreiten drei schwarz gekleidete Frauen. Die Witwen. Dann peitscht ein Schuss. Eine der drei Frauen bricht zusammen. Tumult. Ein Hundertmarkschein wird zum Gepäcknetz gereicht. Sanitäter machen den Weg frei. Der Olivgrüne im Gepäcknetz legt sein Gewehr auf den Geigenkasten, steckt den Hunderter in die Brusttasche und zündet sich eine Zigarette an. Bewegung kommt in den Trauerzug. Es geht voran.
Da links kauern Kinder in Lumpen. Vor, neben und auf den Sitzbänken, mit Schuhputzzeug. Stopp! Der Leichenzug lässt sich geschlossen die schwarzen Schuhe wienern. Um nicht aufzufallen, strecke ich meinen rechten Turnschuh einem etwa siebenjährigen Mädchen hin. Das Kind kniet nieder und bürstet eifrig an meinem Schuh herum. Plötzlich steht es auf, zieht sein Kleidchen über das nackte Gesäß und zerrt an meiner Jacke. "Zehn Pesetas! Zehn Pesetas!" Eine der Witwen zieht mich weg. Es geht weiter. Richtung Ende. Ein Schuss peitscht. Das Ende, wann bin ich endlich am Ende des Busses? Ein Schuhputzjunge sinkt in sich zusammen. Mit feuchtrotem Loch auf der Stirn. Irgendwer reicht einen Fünfhundertmarkschein zum Gepäcknetz hinauf. Es geht voran.
Einige Bänke weiter stehen skelettdürre Frauen ans Fenster gelehnt auf den Sitzen. Vor sich halten sie kleine, leere Schüsseln. Vereinzelte Reiskörner kleben an den Rändern. Säuglinge hängen seitlich an den meisten Frauen, von Tüchern gehalten. Gegenüber eine Hochzeitsgesellschaft. Einige Männer und Frauen in Abendgarderobe stehen ebenfalls auf den Sitzen, andere knien zwischen ihnen am Boden, zwei junge Männer hängen weit aus dem Gepäcknetz. Alle versuchen sie Fünfmarkstücke in die Schüsseln der gegenüber ans Fenster gelehnten Frauen zu werfen. Der Bräutigam trifft drei Mal hintereinander. Beifall. Dann kippt eines der Skelette um. Keine verirrte Kugel. Gott sei Dank. Mitarbeiter des Roten Kreuzes tragen den Hungerleib fort. Eine Ersatzschüsselhalterin nimmt seinen Platz ein.
Die Witwen wollen auch mit Münzen werfen. Eine drückt mir zwei Geldstücke in die Hand. Ich werfe zweimal daneben. Dann wieder ein Schuss. Der mittlere Sarg senkt sich hinten und kippt nach rechts weg. Der Sargträger. Mit dem Sarg stürzt er in einen Sandkasten. Glücklicherweise öffnet der Sarg sich nicht. Allerdings begräbt das Duo einige Spielzeugpanzer unter sich. Einer der um den Sandkasten sitzenden Offiziere springt auf und protestiert energisch in mir fremder Sprache. Griechisch vermutlich. Die Witwen trösten ihn bedauernd. Ich nutze die Gelegenheit, springe über Sandkasten, Sarg und Träger, drücke mich am vorderen Sarg vorbei, dann durch die lange Reihe der Ersatzschüsselhalter, über Kisten, Koffer, Krüge, Kinderwägen, Brutkästen und Käfige, vorbei an sich weit über die Rückenlehnen beugenden Börsenmaklern, deren Zahlengebrüll immer wieder das allgemeine Lachen, Heulen, Seufzen, Stöhnen, Lallen und Singen zerreißt.
Schließlich gerate ich in ein Schachtournier. Die Bretter stehen ordentlich aufgereiht im Mittelgang. Die Spieler liegen rechts und links von ihnen bäuchlings auf den Sitzen. Mich unablässig entschuldigend balanciere ich über die nicht enden wollende Schachbrettstraße hinweg. Keiner der Spieler scheint mich wahrzunehmen.
Endlich lichtet sich der Mittelgang. Ich komme schneller voran. Noch immer nicht kann ich das Ende des Busses sehen. Der Geräuschpegel sinkt spürbar. Kein Mensch mehr im Mittelgang. Vor mir fünf, sieben, zwölf, ja fünfzehn leere Bänke. Oder fast leere. In der fünften Bank links bläst einer auf der Panflöte. Ganz in die rote Polster versunken, die Knie an die Rücklehne der Vorderbank gestemmt. Konzentriert geschlossene Augen, dunkelbraune Haut, dickes, schwarzes Langhaar, über den Brauen bis zu den Schläfen zum Pony gestutzt. Auf gleicher Höhe rechts des Mittelganges zwei uralte Männer in US-Army-Jacken. Der am Fenster presst die Stirn an die Scheibe. Sein Weißhaar ist zu zwei Zöpfen geflochten und mit einem zerbeulten, federgeschmückten Hut bedeckt. Ich gehe zögernd auf sie zu. Jetzt sehe ich in den schlaff auf die Oberschenkel gefallenen Händen des Weißzöpfigen eine Flasche baumeln. Johnny Walker. Der Alte starrt in irgendeine Ferne. Ich verharre kurz, um sein Namensschild über der Brusttasche zu lesen: Sitting Bull. Sein Nachbar – genauso zerfurcht, genauso weißhaarig – liest aus einem Buch vor. Seine Stimme klingt feierlich, seine schwarzen Augen leuchten, seine Züge sind von fremdartiger Würde. Ich erschrecke.
Er legt den rechten Arm um Sitting Bull, beugt sich zu seinem Ohr und hebt die Stimme ein wenig: "Vielgestaltig ist das Ungeheure ..." Auch er trägt sein Haar lang. Ein Biberpelz liegt um den Kragen der Armeejacke und hängt auf die Brusttasche herunter, sodass ich das Namensschild nicht lesen kann. "... doch nichts ist ungeheurer als der Mensch ..." Im Busfenster sehe ich mit einem Mal eine riesige Büffelherde vorbeiziehen. Schwarzauge lässt das Buch sinken und starrt ebenfalls schweigend in die Ferne jenseits der Scheibe. Eine feuchte Spur zieht sich über sein rotbraunes Furchengesicht. Nun verstummt auch die Panflöte. Ich reiße mich los, beschleunige meinen Schritt. Aus den Augenwinkeln sehe ich mindestens ein halbes Dutzend Olivgrüne links und rechts in den Gepäcknetzen über den leeren Sitzbänken.
Dann eine undurchdringliche Mauer von Menschenrücken. Daher also die vielen, leeren Sitzplätze. Eine Versammlung, ein Auflauf. Oder endlich das Ende des Busses? Ich dränge mich in die dicht stehende Menschenmenge hinein. Bereitwillig macht man mir Platz. Von Weitem höre ich eine Altmännerstimme: "Auctoritate Apostolorum ..." Was denn hier los sei. "Urbi et omnibus", antwortet man mir, während man mich immer weiter nach vorn schiebt. Ich verstehe kein Wort, ahne aber etwas. Die alte Stimme wird deutlicher. "... Petri et Pauli et omnium sanctorum ..." Dann erreiche ich die vorderste Reihe der Versammlung. Ich stehe vor einem Haufen aus Trümmern, Skeletten, Leichen und Autoreifen. Darauf, in goldbesticktem Ornat und rotem Umhang, mit mannshohem Krummstab und großem, nach oben spitz zulaufendem Hut, ein greiser Herr. "... benedicat vos ..." Gütig und kreuzschlagend streckt er seine gepflegten Hände über der andächtigen Menge aus. Ich versuche an ihm vorbeizurobben. Da die Leute sogar unter den Sitzen liegen und lauschen, kann ich es nicht vermeiden über Trümmer und Leichen zu kriechen. "... omnipotens Deus ..." Endlich erreiche ich die gegenüberstehenden Zuhörer. Sie zerren mich hoch und reichen mich nach hinten durch. "... Pater et Filius et Spiritus Sanctus!" Die Stimme wird wieder undeutlicher. Die letzte Reihe der Gesegneten. Ob hier das Ende des Busses sei, frage ich angesichts vieler, wieder leerer Bänke. Ja, gleich dort nach dem Vorhang. Ich löse mich von der Menge. Im Laufschritt eile ich durch den leeren Mittelgang. Im Gepäcknetz erkenne ich eine lange Reihe von Särgen.
Der Vorhang. Dahinter Gebärstühle statt Sitze. Stöhnende Frauen auf einigen. Eine Hebamme mit Neugeborenem im Arm beugt sich über eine, die nicht stöhnt. Von ihrem Stuhl weg eilt jemand in weißem Mantel zu einem nächsten Vorhang. Ich hinterher. Gestöhne ebbt ab. Hinter dem Vorhang ein Mann mit zwölf roten Rosen in der Faust. Schwarzenegger. Der Weißmantel drückt ihm die rosenfreie Hand. Es sei ein Junge oder ein Mädchen. Schwarzenegger heult laut auf, sinkt vor dem Weißmantel auf die Knie und küsst seine Hände. "Ein Junge oder ein Mädchen ...!"
Mein Magen. Es sei nun genug. Ich drücke mich am freudeheulenden Terminator III vorbei. Schnell hinter den nächsten Vorhang.
Mein Fuß stößt an etwas Weiches. Ein Schwarm Fliegen summt auf. Der verhungerte Schwarze. Mit dem Taschentuch auf dem Gesicht. Über ihm testen zwei Frauen Schokolade, Salami und Wein. Auf Schwarzeneggers Sitz liegt der Kumpel mit blutendem Mund. Ob hier das Ende sei. Unverständliches Mümmeln. Auf dem Boden unter dem Nachbarsitz Jeans und ein Hut aus braunem Cord. Darüber ein schlafendes Paar. Mit Zeitung bedeckt. Vor dem Vorhang zur Fahrerkabine zwei Polizisten und der Endvierziger im Trenchcoat. Ebenfalls schlafend. Außer den plappernden Aldikundinnen und Cordhuts Schnarchen kaum noch Geräusche. Ganz weit weg Stöhnen der Gebärenden. Und jetzt wieder hörbar: sanftes Brummen des Motors.
Der Vorhang vor der Fahrerkabine ist durchgerissen. Von oben bis unten. Am ausgefransten Riss schiebe ich ihn beiseite, trete zum Fahrersitz. Mit dem Zurückfallen des Vorhangs gänzliche Stille um mich. Tiefe Schwärze hinter der Windschutzscheibe. Sterne funkeln. Unzählige. Manche rasen rechts und links vorbei. Nacht. Die Tachonadel zittert und biegt sich am rechten Anschlag. Das Lenkrad vibriert. Der Fahrersitz ist leer.
*
"IST IHNEN NICHT GUT?" Nuschels Stimme klingt besorgt. Die Arzthelferin hält mir eine Tüte unter's Kinn. Danke, es gehe schon. Danke. "Käferbrücke," das sei doch meine Haltestelle. Nuschel ist wirklich ein freundlicher Mann. Ich bedanke mich noch einmal: Ja es gehe schon. Ich wanke zum Ausgang und hangele mich auf den Bürgersteig hinunter. Zischend schließt sich die Tür. Die Morgensonne blendet mich. Hupend und rasselnd gleitet der Berufsverkehr an mir vorbei. Der Tag hat begonnen. Und ist nicht mehr aufzuhalten. Der Bus fährt weiter.
ENDE