von Thomas Ziebula
Es klingelt. Ich öffne. Der König steht vor der Tür. Warum nicht. Warum sollen nicht mal Nachbarn vor der Türe stehen, wenn es klingelt?
Vor der Tür steht also der König. Sein Ball sei wieder auf das Garagendach, und ob ich nachher mal mit der Leiter, und ob er vorher mal bei mir könnte.
Dies ist das dritte Mal, dass der König bei mir klingelt. Während ich in seine fragenden Blauaugen schaue, erinnere ich mich: Das erste Mal hat ihn Venus geschickt – seine Mutter. Wegen Zucker und der Nummer von der Erziehungsberatung. Das zweite Mal hat der König mir ein Bild vorbeigebracht, selbst gemalt: Ein Leopard auf einem Baum liegend. Um sich herum, im Geäst, lauter totes Viehzeug. Gnus, hat er gesagt.
Während er pinkelt, schaue ich durch's Küchenfenster in den Hof hinunter. Weit und breit kein Ball. Schon gar nicht auf dem Garagendach.
Der Leopard wäre er, hat er gesagt. Das ist der Tag gewesen, an dem ich ihn auf dem Schulweg abgepasst hatte. Um mich zu entschuldigen. Weil ich ihn morgens wegen der halb aufgefressenen Maus in der Zeitungsröhre angeschnauzt hatte.
Die Spülung rauscht. Kurze, rasche Schritte im Flur. Er nimmt an meinem Tisch Platz. Ich schenke ihm Johannesbeersaft ein. Beethovens fünftes Klavierkonzert strömt aus den Lautsprecherboxen an der Wand. Hellwach wandern seine Augen über meine Küchenwände und mustern die zufälligen Niederschläge meiner Existenz: Kakteen, Gewürzregal, Weinflaschen, Zeitungen, Aschenbecher, Wanduhr, Zettel mit abgeschriebenen Sprüchen, Fotos über der Spüle, und das Ölbild über dem Lehnstuhl: Der seiltanzende Clown.
Wer schon genauso oft wie der König an meiner Tür stand, ist Hamster. Dreimal. Merkwürdiger Zufall. Nur dass Hamster und ich drei Jahre im gleichen Haus wohnen, der König und ich drei Monate.
Das erste Mal bat Hamster um Oregano, das zweite Mal um eine Flasche Bier, und als ich ihm das dritte Mal die Tür öffnete – ich glaube das ist erst drei oder vier Monate her – dachte ich zunächst, er will mir endlich die leere Bierflasche vom letzten Jahr zurückbringen. Stattdessen hat er mir offenbart, dass ich meinen Müll in seine Tonne gestopft hätte, und was für'n Idiot ich bin. Berauschende Neuigkeit.
Als wären Beethoven und ich gar nicht anwesend, beginnt der König herumzubuchstabieren: Die Markennamen des Kaffees, des Tabaks und des Spülmittels, die Schlagzeile der Zeitung, den Spruch unter der Wanduhr: "E-ss - i-ss-t - ei-n-f-a-ch - zz-u l-e-e-benn" Meine eigenen Kinder haben das im ersten Schuljahr auch getan.
Wer übrigens schon unzählige Male, jedenfalls öfter als der König und Hamster, vor meiner Tür stand, sind Stadtfee und ihr Priester. Meistens haben wir danach die halbe Nacht Skat gespielt, ein paar Flaschen Wein geleert, oder wenigstens über Gott und die Sozialdemokraten diskutiert. Nun gut, einmal habe ich mich hinreißen lassen, Dias von meiner Skandinavien-Tour zu zeigen. Da gingen die beiden schon vor Mitternacht. Dafür jedenfalls, dass Stadtfee und ihr Priester erst knapp zwei Jahre hier wohnen, pflegen wir ein eheähnliches Verhältnis.
Der König erhebt sich. Er geht zur Spüle, stellt sich auf die Zehenspitzen, beugt sich ganz nah zu dem einzigen Foto mit Rahmen. "Sind deine Kinder bei deiner Frau geblieben?"
Tropfen war noch nie an meiner Tür. Der Einzige im Haus. Von Dr. Aichstätt abgesehen. Zu viele Treppen, kommt er ins Keuchen, schickt er lieber Wolke, seine Frau, wenn wirklich mal was sein sollte. Wenn er mal 'ne Adresse, Gesetzestexte oder einen Lexikonband braucht. Kommt aber höchstens ein Mal im Jahr vor. Also etwa sieben Mal bisher. Da hat der König schon öfter geklingelt. Relativ gesehen, mein' ich.
Ich schweige und die Blauaugen wenden sich fragend an mich. Wie er mich anschaut. Nicht mal Hamster, wenn er Bier pumpt oder mir eröffnet, dass ich ein Idiot bin, guckt so furchtlos. Ich nicke.
Obwohl Stock auch ganz schön hartnäckig gucken kann. Eine Art Platzhirsch. Stock, meine ich. Wohnt seit fast dreißig Jahren im Haus. Klingelt immer dann, wenn ich vergessen habe, die Haustür abzuschließen, obwohl ich Kehrwoche habe. Wenn ich die Treppe nicht gründlich genug geputzt habe, wenn ich zu laute Musik höre, wenn meine Gäste gegen Morgen zu geräuschvoll das Haus verlassen, und so weiter und so fort. Fünfzehn Mal im Jahr schätze ich. Die obligatorischen Neujahrs- und Osterbeglückwünschungen nicht mitgezählt.
Immer noch schaut mich der König an. Ein dunkles Schimmern zieht durch seinen Blick. Er wendet sich wieder dem Foto mit meinen Kindern zu. Sein Rücken. Niemand im Haus hat so einen geraden Rücken. Die Geradheit Stocks im Vergleich zur Geradheit des Königs ist wie die eiserne Starre der Straßenlaterne vor der Haustür gegenüber dem aufrechten Wuchs der Tanne vor meinem Schlafzimmerfenster.
Feierlichkeit und Trauer aus den Lautsprecherboxen. Beethoven. Der zweite Satz hat begonnen. Lange schweigen wir.
"Mama geht weg."
Aufstehen, zum Kühlschrank. Nicht zu schnell. Flasche raus, wo ist der Öffner? Nicht zittern. Glas aus der Spülmaschine. Bier einschenken. Seine Augen. Verfolgen jede meiner genau geplanten Bewegungen.
Venus – zwei Mal bis jetzt. Jedes Mal suchte sie den König. Ihr Mann, Dr. Aichstätt, grüßt nicht mal. Der Einzige im Haus, für den mir kein Name einfallen will. Uns beide gibt es nicht füreinander.
"Wohin?" Ich setze mich wieder und erinnere mich an den Moment, in dem ich begann, ihn >der König< zu nennen. Stock hatte ihn aufgefordert einen Fetzen Bonbonpapier im Treppenhaus aufzulesen und in die Mülltonne zu werfen. Der König schaute Stock ins gestrenge Angesicht und sagte "Nein". Einfach "Nein". Und fügte noch hinzu: "Hab' ich nicht hingeschmissen". Da habe ich ihn >der König< getauft.
Ich stand gerade am Briefkasten und musste lachen. Nicht wegen Stocks blödem Gesicht. Sondern weil mir in dem Moment bewusst wurde, dass wir Erwachsene dazu neigen, die Begriffe >Erwachsener< und >Kind< als Wertangabe zu missbrauchen; und wie kindisch das ist.
"Wohin?", frage ich noch einmal. Doch der König buchstabiert schon wieder. Den Spruch unter der Wanduhr: "Es ist einfach zu leben. Jeder muss nur entdecken, was genau dieses Einfache für ihn ist." Es dauert lange, bis er den Satz gelesen hat.
"Papa hat geweint gestern Abend".
Ich verstecke mein Gesicht hinter dem Bierkrug. Langsam trinken, ganz langsam. Nachschenken, Tabak aus der Hosentasche kramen, Zigarette drehen, Aschenbecher rüberziehen, die Streichhölzer vom Gewürzregal holen. Mein Weltbild gerät ins Wanken. Ich überlege mir, ob ich dem Vater des Königs, dem Aichstätt, nicht doch einen Namen gönnen sollte. >Prinzessin< vielleicht.
Beethovens Töne perlen durch die Küche. Der dritte Satz hat begonnen. Der König ist schon wieder bei den Fotos über der Spüle. Auf einmal fällt mir auf, dass seine Schultern nach vorne gesunken sind, ganz leicht. Und dass der Verlauf seiner Wirbelsäule eine Krümmung aufweist, eine kaum wahrnehmbare.
Wir sitzen lange. Ich schenke Saft ein, und ich schenke Bier ein, und ich frage, wohin Venus gehen wird, und ich frage, wohin der König gehen wird, und der König sagt "weiß nicht", und der seiltanzende Clown kommt mir zum ersten Mal lächerlich vor, und ich verpasse das Finale von Beethovens Fünftem Klavierkonzert, und ich kann dem König den Spruch unter der Wanduhr plötzlich nicht mehr erklären, und er betrachtet wieder die Fotos über meiner Spüle, und er schaut mich wieder an, und nicht mal die rot geränderten Augen von Tropfen sind so dunkel vor Trauer.
Irgendwann steht er auf. Er steuert die Wohnungstür an. Ich folge ihm. Ich sage: "Jetzt holen wir den Ball vom Garagendach."
"Ich suche ihn erst nochmal im Garten", seine Augen sind Schlitze und funkeln. Der dunkle Schimmer hat sich versteckt. In den Abgründen hinter den Blauaugen. "Vielleicht hat ihn der Wind inzwischen heruntergerollt."
Ich nicke. "Wenn was ist, klingele. Freu' mich wenn du mich besuchst."
Später stehe ich am Küchenfenster. Der König donnert mit dem Ball gegen das Garagentor. Lange sehe ich ihm zu. Irgendwann erscheint Stock. Hinter einem steifen, wackelndem Zeigefinger eilt er herbei. Der König dreht sich um und schaut zu meinem Küchenfenster hoch. Ich winke ihm zu. Dem König.
ENDE