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Das Ruder

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von Thomas Ziebula

Als ich Micha zum ersten Mal begegnete, wollte er nicht mehr leben. Viel mehr wusste ich damals nicht von ihm.

Ich zog mir einen Stuhl an sein Bett und stellte mich vor. Er wandte mir sein blasses Gesicht zu. "Der Klinikpsychologe sind Sie?" Ein bitteres Lächeln huschte über seine Züge. "Geben Sie sich keine Mühe, ich werd's wieder tun. Sobald ich hier 'rauskomme."

Und dabei blieb er. Er würde eben von der Autobahnbrücke springen, sagte er, oder sich unter den Zug legen, statt Tabletten zu nehmen. Das wäre sicherer. Und einer wie er hätte sowieso keine Chance im Leben.

Micha war sechsunddreißig Jahre alt, aber seine Augen waren die eines Greises. Und er sprach, als würde er nicht in der Mitte, sondern am Ende seines Lebens stehen. Bedrückt verließ ich ihn.

*

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AUS SEINER KRANKENAKTE erfuhr ich die hässlichen Fakten seines Lebens: Abgebrochene Schulausbildung, zerbrochene Ehe, lange Krankheit, Schulden, seit zwei Jahren arbeitslos. Als ich ihn am nächsten Tag wieder in der geschlossenen Abteilung aufsuchte, beklagte er sich bitter: Über seine Frau, die ihn nie verstanden hätte, über seine Eltern, die ihm das Gefühl gegeben hätten, ein Versager zu sein, über seinen Chef, der ihn ausgenutzt hätte, und über das Arbeitsamt, das ihn hinhalten würde.

"Das Leben ist ein Schatztruhe", zitierte er einen bekannten Schriftsteller, "eine Schatztruhe voller Scheiße."

Ich hörte nur zu. Kein Wort sagte ich. Nur drei Sätze, bevor ich ging. "Das Leben ist wie ein Fluss, Micha. Die einen lassen ihren Kahn einfach treiben, bis er irgendwo strandet oder an einem Stein zerschellt. Die anderen nehmen das Ruder in die Hand und steuern ihren Kahn."

Er mimte den Zyniker. "Und wohin?"

"Wohin sie wollen."

"Nein." Er feixte bitter. "In die Scheiße."

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NACH DREI TAGEN KONNTE Micha aufstehen. Er kam zu mir ins Büro. Auf Gott und die Welt schimpfte er. Auch auf mich. Von klein auf habe man mir Zucker in den Arsch geblasen und ich sei realitätsfern und viel zu arrogant, um zu kapieren, dass man in dieser Welt kein Chance habe, wenn man nicht Millionär sei, oder Lehrer, oder Arzt, oder Tom Cruise. Und er versprach mir, es auf jeden Fall wieder zu tun.

Ich betrachtete den kleinen, etwas korpulent geratenen Mann. Er war sehr erregt. Schweiß stand auf seiner Stirn. Er roch nach Angstschweiß. "Niemand kann Sie daran hindern, Micha", sagte ich, "außer Sie selbst."

"Korrekt", sagte er und verließ wütend mein Büro.

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NACH DIESEM GESPRÄCH sah ich ihn mehrere Tage nicht. Als ich auf der Station, wo er lag, einige Patientenakten studieren wollte, entdeckte ich einen Osterkranz aus Trockenblumen. Er hing an der Glasscheibe vor dem Stationszimmer.

"Wie schön! Von welchem Künstler stammt der?" Die Stationsschwester verriet mir, dass der Kranz ein Geburtstagsgeschenk sei. Für sie. Von Micha.

In den folgenden Tagen entdeckte ich überall Osterkränze: In Patientenzimmern, an der Tür der Oberärztin, im Aufenthaltsraum, sogar an der Pforte. Die seien alle von Micha, erklärte man mir.

Ich besuchte ihn. Er saß am Tisch und flocht einen Kranz. Neben seinem Stuhl stand ein Wäschekorb mit Trockenblumen und bunten Schleifen. "Muss länger bleiben", knurrte er. "Die haben noch ein verdammtes Magengeschwür entdeckt."

Ich bewunderte seine Kränze. Er zuckte nur mit den Schultern. "Wenn man sonst nichts zu tun hat? Ich sterb’ ja vor Langeweile."

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ZWEI WOCHEN SPÄTER klopfte er an meinem Büro, um Lebewohl zu sagen. Er schenkte mir ein Fensterbild – einen Scherenschnitt – und ein farbiges Seidentuch. "Selbst gemacht", grummelte er verlegen, "zum Abschied. Nichts Besonderes."

Die Dinge sahen aus wie aus einer Profi-Werkstatt. Wir schwiegen eine Zeit lang. "Und nun?", fragte ich mit klopfendem Herzen. "Geht's nun auf die Autobahnbrücke?"

Er lachte nervös. "Jetzt schaue ich erst mal, wo das Ruder ist an meinem Kahn." Er ging den Gang hinunter. An der Glastür winkte er mir noch einmal zu. In diesem Augenblick hätte ich viel dafür gegeben zu erfahren, was aus ihm werden wird.

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EINES TAGES, FAST EIN Jahr später, hastete ich durch die Gassen der Altstadt. Ich war auf der Suche nach einem Geburtstagsgeschenk für meine Frau. Vor dem Schaufenster eines Kunsthandwerk-Ladens betrachtete ich die Auslagen: kleine Lederwaren, Halbedelsteine, Poster, Glaskugeln, Fensterbilder, Seidentücher, Osterkränze.

Ich hielt den Atem an. Und las das Ladenschild: Michas Schatztruhe. Ich stürzte hinein. Drinnen stand er. Hinter der Ladentheke. Seine Augen leuchteten. "Na so eine Überraschung! Der Herr Psychologe kommt mich besuchen!"

Vor einem halben Jahr hatte er das Geschäft eröffnet. Und es lief. "Gut genug jedenfalls, es muss ja nicht alles märchenhaft laufen im Leben, oder?" Micha grinste. Beim Abschied wollte er meine Hand gar nicht mehr loslassen. "Vielen Dank für den Tipp mit dem Kahn. Oder besser: Für den Tipp mit dem Ruder."

ENDE