Abraham ging langsam auf das schreckhafte Pferd zu. „Ganz ruhig, Blizzard“, wisperte er.
Das weiße Pferd beobachtete ihn nervös. Es riss die Augen auf und schnaubte kurzatmig. Abraham blieb stehen und lehnte sich auf seinen Stab. Seit seiner Kindheit arbeitete er im Grasland als Pferdeflüsterer. Doch diese prachtvolle Stute war der schwierigste Patient, der ihm bisher untergekommen war. Er konnte sehen, dass sie einen sehr starken Willen hatte.
„Deinen letzten Reiter hast du also abgeworfen“, murmelte Abraham. „Und jeden davor auch, wette ich. Und einen Zaun hast du niedergerissen, um zu entkommen.“
Die Stute bleckte die Zähne und stampfte mit den Hufen, als ob sie gleich durchgehen würde.
„Keine Angst, ich tue dir nichts“, sagte Abraham und ging wieder ein Stück vorwärts. Er war fast bei ihr und streckte die geöffnete Hand aus.
Die Stute senkte den Kopf und schnupperte an der Hand. Ihr Blick wurde sanfter. Abraham kam noch näher und strich ihr über den kräftigen Hals. Dann hob er die baumelnden Zügel auf.
„Das war doch nicht schlimm, oder?“, wisperte er. „Wir sind gleich wieder zurück im Dorf.“
Auf einmal fiel ein Schatten über sie und Abraham hörte ein schauderhaftes Knurren. Der Kopf der Stute ruckte hoch und ihre Augen blitzten panisch auf. Als sie auf die Hinterbeine stieg, traten ihre Hufe gefährlich nah an Abrahams Gesicht vorbei in die Luft. Er hatte Mühe, das Pferd festzuhalten. Die Zügel schnitten ihm in die Handflächen.
Dann drehte sich Abraham um und sein Blut gefror. Er starrte zu dem gigantischen Biest hoch, das auf ihn zusprang. Es war ein riesiger Tiger, allerdings war sein Fell schwarz mit blutroten Streifen. Er war mindestens dreimal so groß wie ein normaler Tiger.
Das Biest landete ein paar Schritte neben Abraham. Gebogene Krallen, so scharf wie Sensen, gruben sich in den Boden. Das Rückenfell des Biests stellte sich auf, die schwarzen Lefzen zogen sich zurück und eine Reihe dolchartiger Zähne wurde entblößt. Zäher Speichel tropfte von den Zahnspitzen. Wo er ins Gras fiel, zischte und qualmte es. Abraham versuchte zu begreifen, was er da sah, aber seine Augen waren wie gebannt auf den Rücken des Biests gerichtet. Ein dicker, schuppiger Skorpionschwanz ragte über dem Biest auf. Von dem Stachel troff grünes Gift.
Abraham stolperte rückwärts. Er wagte es nicht, den Blick von dem Biest abzuwenden, dessen muskulöser Körper sich langsam und kraftvoll vorwärtsbewegte. Abraham hörte Blizzard schnauben. War sie geblieben, um ihn zu beschützen?
Die Katzenaugen des riesigen Tigers durchbohrten Abraham. Er hörte den Atem des Biests, der laut wie ein Blasebalg durch dessen Hals strömte.
Das Tier brüllte und zeigte seine Zähne. Sein stinkender Atem schlug Abraham ins Gesicht. Plötzlich sprang das Biest los, flog hoch über sie und kam mit weit gespreizten Krallen und geiferndem Maul auf sie zu.
Mit einem Angstschrei wich Abraham zur Seite aus. Der Rand der riesigen Tatze traf seine Schulter und warf ihn zu Boden. Hilflos musste der Pferdeflüsterer mit ansehen, wie die Krallen des Biests sich in Blizzards Rücken gruben und ihre Haut aufschlitzten. Die Stute wieherte vor Schmerz und schleppte sich davon.
Abraham rappelte sich auf und schlug mit seinem Stab auf die Flanke des Biests ein. Der riesige Tiger drehte sich um, so geschmeidig wie eine Katze, und bevor Abraham etwas tun konnte, steckte der Stab zwischen den Zähnen des Biests.
Krack! Der Stab zersplitterte und die Augen des Biests hefteten sich auf Abraham. Das Tier riss gerade das Maul auf, um ihn in Stücke zu reißen, da erblickte Abraham Blizzard. Die Stute stand vom Biest abgewandt und schlug mit ihren kräftigen Hinterhufen nach ihm aus. Das Biest jaulte vor Schmerz und Wut und drehte sich mit erhobenem Giftstachel zu dem Pferd um.
„Lauf!“, schrie Abraham. „Lauf um dein Leben!“
Blizzard wieherte und galoppierte über die Grasebene davon. Mit einem Knurren raste der gigantische Tiger hinter ihr her, den Schwanz hoch erhoben.
Abraham holte keuchend Luft und beobachtete die beiden. Er zweifelte daran, dass Blizzard, obwohl sie sehr schnell war, dem Biest entkommen konnte.
Ein merkwürdiges flatterndes Geräusch ließ ihn nach oben sehen. Vor Staunen klappte ihm die Kinnlade herunter.
„Das kann nicht sein“, flüsterte Abraham.
Hoch aus dem Himmel kam mit geblähten Segeln und wehender Fahne ein fliegendes Schiff herabgesaust.