„Wer ist das?“ Elenna zeigte zu einem Hügelkamm. Dort stand ein Mann. Er trug bäuerliche Kleidung und winkte den Freunden zu.
„Vielleicht hat er gesehen, was passiert ist“, überlegte Tom laut. Er und Elenna ritten den Hügelkamm entlang.
„Ihr habt sie gefunden, Gott sei gedankt!“, rief der Mann und deutete auf das weiße Pferd, als die Freunde vor ihm stehen blieben. „Ihr Name ist Blizzard und ich heiße Abraham. Ich habe nach ihr gesucht.“ Abraham runzelte verwundert die Stirn. „Aber sie war verletzt. Die Krallenspuren …“
„Wir haben keine Zeit, das zu erklären“, sagte Tom, dem das nervöse, neugierige Flackern in den Augen des Manns nicht entgangen war. Er hatte es schon einmal gesehen – aber wo? „Hast du etwas Ungewöhnliches auf der Grasebene bemerkt?“
„Ich habe in meiner Heimat den reinsten Horror erlebt“, erwiderte Abraham mit verzerrtem Gesicht. „Ich bin von einem Tigerbiest angegriffen worden.“ Die Augen des Pferdeflüsterers weiteten sich. „Aber dann habe ich etwas ganz und gar Unglaubliches gesehen. Es war ein fliegendes Segelschiff! Ein riesiges Ungetüm mit Männern an Bord, die Krummsäbel und Dolche trugen.“
„Wir haben sie auch schon einmal getroffen“, erklärte Tom. „Es sind Piraten und ihr Anführer ist ein Mann namens Sanpao. Hast du gesehen, wo sie hingeflogen sind?“
„Das Schiff flog in Richtung meines Hofs“, sagte Abraham. „Ich habe Angst, dass sie mein Haus plündern und meine Pferde stehlen.“
„Ist dein Hof weit weg?“, fragte Tom.
„Im Galopp kann man sehr schnell dort sein“, erwiderte Abraham.
„Elenna, steig hinter mir auf“, sagte Tom. „Abraham kann auf Blizzard reiten.“ Er wandte sich an den Mann. „Bring uns zu deinem Hof.“
Sie waren noch nicht lange über die Grasebene geritten, als Tom vor ihnen einen einsamen Bauernhof entdeckte. Er bestand aus einem Haus, einer Scheune und einigen Koppeln mit hohen Zäunen und dicken Holzgattern.
Doch die Gatter standen weit offen und von den Pferden war weit und breit nichts zu sehen.
Abraham riss scharf an den Zügeln und stieg von Blizzards Rücken. Er fiel auf die Knie und hob verzweifelt die Fäuste gegen den Himmel. „Sie waren schon hier!“, rief er. „All meine Pferde sind weg!“
Die Freunde stiegen ebenfalls ab. Elenna sah Tom an und er wusste genau, was sie dachte: „Zu spät, schon wieder!“
Abraham rappelte sich auf und stolperte auf eine der Koppeln. „Alles ist verloren!“, jammerte er. „Ich bin ruiniert.“
Tom und Elenna folgten ihm in die Umzäunung.
„Du bist am Leben, das ist schon viel wert“, sagte Elenna zu Abraham. „Das Biest oder die Piraten hätten dich töten können!“
Der Mann drehte sich mit flammendem Blick zu ihr um. „Das hätten sie“, erklärte er. „Aber sie haben es nicht!“ Plötzlich sprang er zwischen die beiden und schleuderte sie zur Seite. Tom war sofort klar, dass hier etwas nicht stimmte, aber noch bevor er sein Schwert ziehen konnte, war Abraham durch das Gatter gestürmt und hatte es hinter den Freunden zugeworfen. Der eiserne Riegel klapperte laut, als er einrastete.
„Du hast uns getäuscht!“, rief Tom wütend und warf sich gegen das Gatter. Er konnte Abrahams glänzende Augen durch die Holzbretter sehen. Jetzt fiel ihm wieder ein, wo er das seltsame Leuchten schon einmal wahrgenommen hatte: in Aduros Augen!
„Lass uns raus!“, schrie Elenna.
„Mit ihm zu sprechen hat keinen Zweck“, sagte Tom. „Er steht unter Sanpaos Bann!“
Draußen vor der Koppel wieherte Storm verzweifelt.
„Wir werden nicht lange hier eingesperrt sein!“, rief Tom Abraham zu. Er begann, über das Gatter zu klettern. Elenna war direkt hinter ihm.
„Das macht nichts“, rief Abraham. „Hört ihr es nicht? Sie kommen!“
Tom zog sich auf den obersten Balken hoch und ein schrecklicher Anblick bot sich ihm von dort aus dar. Eine große Truppe Piraten galoppierte auf Pferden aus allen Richtungen auf sie zu. Die zusammengebundenen Haare wehten ihnen im Nacken. Sie hoben ihre Krummsäbel über die Köpfe und stießen grausame Kampfschreie aus.
Tom und Elenna stiegen über das Gatter und sprangen auf der anderen Seite zu Boden. Abraham sah den Piraten mit einem triumphierenden Grinsen entgegen. Die Pferde mussten die fehlenden Tiere aus den Koppeln sein.
„Bleib dicht neben mir“, sagte er eindringlich zu Elenna, zog sein Schwert und hob den Schild. „Wir müssen Storm erreichen. Vielleicht können wir dann zwischen den Piraten hindurchreiten.“
Elenna spannte einen Pfeil in den Bogen und sie und Tom rannten los zu dem wartenden Hengst.
Die Piraten kamen sehr schnell näher. Ihre Augen blitzten und ihre Säbel glänzten im Sonnenlicht hell und tödlich. Sie hatten den Bauernhof umzingelt. Um an ihnen vorbeizukommen, musste Tom um sein Leben kämpfen.
Als die beiden fast bei Storm angelangt waren, legte sich auf einmal ein dunkler Schatten über sie und eine Stimme dröhnte zu ihnen herab: „Halt!“
Das Schiff des Piratenkönigs sauste vom Himmel herunter. Es sah aus wie eine fliegende Burg mit Wehrtürmen und Geschützmauern. Die roten Segel waren gebläht und die Fahne mit der Skelettpranke flatterte im Wind. Tom sah nach oben und erblickte den Piratenkönig, der zu ihnen hinunterstarrte.
„So sehen wir uns also wieder!“, rief Sanpao. „Glaubt mir, dieses Mal wird es das letzte Mal sein!“