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Nebel und Asche

Sandric griff nach der Liane, die vor der Hütte seiner Familie hing, und schwang sich an ihr durch das Blattwerk. Der Baumbewohner stieß einen Freudenschrei aus, als er die erste Liane losließ und sich die nächste schnappte. Schwungvoll sauste er an einer Gruppe Frauen vorbei, die aus Rindenstoff Kleider nähte. Das verborgene Waldland lag versteckt in einem Tal von Avantia, das sich wie eine Falte an den Fuß eines Vulkans schmiegte. Nur selten kamen Besucher zu den Baumbewohnern. Ihre Hütten, Brücken und Lianen hingen weit oben im Blätterwerk der Bäume und so war das Baumvolk seit Generationen ungestört. Sandric hatte noch nie jemanden getroffen, der nicht zu seinem Stamm gehörte.

Äste schnalzten und krachten, als Sandric sich durch die Baumkronen schwang. Als er die Lichtung im Zentrum des verborgenen Waldlands erreichte, griff er nach einer aus Ranken geflochtenen Leiter. Er kletterte die Leiter hoch und ließ sich keuchend auf einem dicken Ast nieder. Da war er, genau vor ihm – ein Baum so ungewöhnlich wie kein anderer.

Er war riesig. Die Äste streckten sich weit über das Blätterdach der umstehenden Bäume. Die Blätter waren frisch und von einem wächsernen Grün. Sandric ließ seinen Blick über den breiten Stamm gleiten. Die Erde rund um den Stamm war locker. Der Baum musste in voller Größe aus dem Boden geschossen sein.

„Warum ist er hierhergekommen?“, wunderte Sandric sich. Eine große graue Flocke landete auf seinem Handrücken. Er roch daran. Sie stank nach Flammen und Rauch.

„Der Feuerberg ist wach“, murmelte Sandric.

Er stellte sich auf den Ast und spähte über die Baumkronen. In der Ferne, direkt über dem Vulkan, hing eine dunkle Wolke am Himmel. Orangerote Flammen loderten aus dem Krater und die Wolke wurde größer. Unerbittlich schwebte sie auf das verborgene Waldland zu. Noch mehr Ascheflocken regneten herunter und legten sich auf Sandrics Kleider und die Blätter und Zweige.

Sandric kletterte die Leiter wieder hinunter und griff nach einer Liane. Im Eiltempo schwang er sich zurück zu den Hütten. „Orangerote Flammen lodern! Der Feuerberg ist wütend!“, schrie Sancric, als er näher kam.

Die Baumbewohner jagten auseinander, sprangen von Ast zu Ast und zogen sich in die Sicherheit ihrer Hütten zurück. Rauch zog zwischen den Bäumen hindurch und Sandric musste husten, als der Qualm seine Lungen füllte. Dann verlor er den Halt und rutschte an der Liane fast bis zum Boden hinunter.

Plötzlich trat eine Gestalt aus dem Rauch. Sie hatte den untersetzten Körper eines kräftigen Manns, aber grüne Haut. Der Umhang des grünen Manns schien aus Federn und Fell gemacht zu sein und wehte hinter ihm her, während er näher kam. Sandric erkannte auf einer Schulter einen Fuchsschwanz, vorne einen Hasen und hinten eine Krähe. Ein ausgehöhlter Stierkopf mit glänzenden Hörnern bildete die Kapuze.

„Er ist aus toten Tieren gemacht“, dachte Sandric. Schweiß rann ihm den Rücken hinunter.

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