Einen Augenblick saßen sie alle da, nur das Licht, das wie von Zauberhand angegangen war, hatte Elisabeth schnell ausgeschaltet, aber das Radio ließ sie laufen. Das Fenster war immer noch zugeschneit, und so lauschten sie, neben dem knisternden Kamin sitzend, den Glocken im Lied der Iren, der Liebeserklärung an eine Stadt, so weit weg, einer Frau, so verzweifelt, dachten an ein richtiges Leben im falschen. Der Song hatte gar nichts mit ihnen zu tun und ging ihnen an diesem Abend doch so nahe. Nicht nur Cleo weinte, auch Cords Augen wurden feucht, und Elisabeth saß neben Dora, und sie hielten einander an den Händen.
Als die letzten Töne verklungen waren, stand Pascal auf und ging in die Küche. Minuten später kam er mit zwei Flaschen Champagner wieder, dann brachte er auf einem Tablett die Gläser. Für die Kinder hatte er wie in alten Zeiten Kindersekt da, den Gesine auf Grund des hohen Zuckergehaltes natürlich ablehnte.
Doch Gesine war nicht mehr im Wohnzimmer, als er wiederkam. Sicher war sie auf den Schreck heimlich eine Zigarette rauchen gegangen – jeder wusste, dass sie immer eine Packung dabeihatte, auch wenn sie es auf Gedeih und Verderb abgestritten hätte.
»Na endlich«, sagte Cord und grinste, »hau raus, das gute Zeug, Papa. Wer weiß, wann du wiederkommst.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass ich das in meinem Leben jemals sagen würde – aber jetzt kann ich: Nicht für mich bitte, ich bin schwanger.« Alle mussten lachen – und Cleo lachte am lautesten, obwohl ihre Augen auch ein wenig feucht waren. Samy nahm sie wieder in den Arm.
Diesmal ließ Pascal den Korken ein wenig lauter aus der Flasche, es gab ein vernehmbares Plopp, dann schenkte er ihnen allen ein, bevor er den Kindern und Cleo Kindersekt eingoss. Beim ersten Schluck verzog Ronja das Gesicht. »Boah, ist das süß.« Mats hingegen trank sein Glas in einem Zug aus. Die Erwachsenen stellten sich im Kreis auf und erhoben ihre Gläser. Es klirrte, ein lautes, zusammenhängendes Klirren, als sie alle miteinander anstießen.
»Auf dich, Cleo«, sagte Pascal.
»Nein, auf dich, Papa, und auf deine Reise«, erwiderte Cleo.
»Auf Elisabeth und auf Dora«, sagte Pascal nun, der auf keinen Fall im Mittelpunkt stehen wollte.
»Auf die ganze Familie«, sagte Elisabeth, und nun wiederholten alle: »Auf die ganze Familie.«
Es war ein kitschiger Moment, dachte Pascal bei sich, während er den ersten Schluck nahm, so ein Augenblick, den er früher nur Leuten zugestanden hätte, die pathetisch veranlagt waren – aber heute passte alles irgendwie, musste er zugeben.
»Wartet mal«, sagte er, »wir haben noch jemanden vergessen.«
Er goss das einzige leere Glas auf dem Tablett voll, dann sagte er zu Christoph: »Mensch, du kümmerst dich aber gut um deine Frau.« Da erst fiel Christoph wohl auf, dass Gesine fehlte. Pascal klopfte ihm auf die Schulter. »Ich geh mal raus zu ihr.«
Dann griff er sich seine Jacke, die schon für den Weg zum Flughafen bereithing, öffnete die Tür und trat hinaus in die nächtliche Kälte. Doch es war gar nicht so dunkel. Der Schnee ließ das ganze Tal leuchten, und auch die Wolken hatten sich fast verzogen, sodass sogar einige Sterne zu sehen waren. Pascal legte den Kopf in den Nacken und nahm das Leuchten da oben wahr, all diese kleinen funkelnden Lichter, die glitzerten, als hätten sie sich für die Heilige Nacht besonders zurechtgemacht. Er fragte sich, ob es auf der Südhalbkugel wirklich mehr Sterne zu sehen gab als hier. Er würde es herausfinden.
»Störe ich?« Pascal trat zu Gesine, die im Windschatten des Hauses mit Blick aufs Tal stand und gerade ihre Kippe in den Schnee warf.
»Nee«, murmelte sie.
»Hier.« Er gab ihr das gefüllte Champagnerglas, dann hielt er ihr seines hin, und sie stießen an.
»Danke«, sagte sie leise und klang auf einmal gar nicht mehr so unhöflich.
»Gibst du mir auch eine?«
Verwundert blickte sie ihn an, doch dann zog sie ihre Packung aus der Tasche, klopfte ihm eine Zigarette raus, reichte ihm das Feuerzeug.
»Aber rauchen kann ich alleine«, murmelte er den alten Spruch, den sie, als er jung war, immer auf dem Schulhof gesagt hatten, wenn sich jemand durchschnorrte. Gesine grinste. »Na, dann ist ja gut.« Sie zündete sich auch eine Zigarette an, dann rauchten sie einen Moment lang schweigend.
»Was du da vorhast«, Gesine räusperte sich, »das ist sehr mutig. Ich weiß immer noch nicht, was ich dazu sagen soll.« Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Deshalb musste ich erst mal kurz raus. Ich … Ich wünschte, ich wäre auch so mutig.«
Pascal zögerte. Er hatte sie noch nie so offen sprechen hören. Sie wirkte auf einmal ganz anders. Nahbar, verletzlich. Aber auch tieftraurig.
»Weißt du, Gesine«, sagte er leise, »ich bin ja auch viel älter als du. Sieh, wie lange ich gewartet habe, bis ich den Mut fand. Sozusagen auf den letzten Drücker. Du hast noch so viel Zeit.«
»Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Ich habe das ja bei meiner Mutter gesehen. Sie hat ihre Träume ständig aufgeschoben. Später, später hat sie immer gesagt. Aber dann fehlte auf einmal das Geld, als sie ihren Job verlor und finanziell gar nichts mehr drin war. Und gerade als es dann ein bisschen besser wurde, sie einen neuen Job gefunden und ein bisschen gespart hatte, da wurde sie so krank, dass sie nicht mehr reisen konnte, Herrgott, sie konnte nicht mal mehr ins Restaurant gehen. Sie konnte gar nichts mehr. Und dann saß sie vor mir und sagte: Ich bin hier in meiner Wohnung, und ich sehe die Sachen um mich herum, die Bücher, die Möbel – und denke: Das ist alles, was von mir bleibt? Und was habe ich? Nur unerfüllte Träume. Ich habe meine Mutter nie so aufrichtig reden hören, sie war immer sehr kühl und sehr überlegt – und ich habe sie auch nie weinen sehen. Bis zu diesem Moment. Das hat mir … Das hat mir echt das Herz gebrochen.«
Pascal nahm einen tiefen Zug, er spürte Gesines Worten nach. Sie hob das Glas und trank einen Schluck Champagner, das Glas war schon beschlagen vor Kälte.
»Deshalb bin ich so.« Ein Satz wie ein Knall. Wie eine Erkenntnis.
»Heute, als du mich beobachtet hast, wie ich im Auto sitzen geblieben bin, weil ich so Kopfschmerzen hatte, erinnerst du dich?«
Pascal nickte.
»Wir hatten die Fahrt über kein Wort miteinander gewechselt. Christoph und ich, meine ich. Mats hat natürlich hinten im Auto die ganze Zeit mit Willi geplappert. Wahrscheinlich liebt er den Hamster so, weil er der Einzige ist, der mit ihm kommuniziert und ihm ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt. Na ja, ich habe jedenfalls gesehen, wie du mich angeschaut hast. Und ich habe wiederum euch angeschaut. Elisabeth und dich. Und habe mir gedacht: Warum hatte Mama das nicht? So ein glückliches Leben wie ihr. Diese bedingungslose Liebe. Das, was ihr habt, hätte ich ihr auch so gewünscht. Oder zumindest das, von dem ich dachte, dass ihr es habt.«
Sie wischte sich über das Gesicht, doch Pascal konnte nicht sagen, ob es eine Träne der Rührung war oder der Traurigkeit oder einfach nur von der Kälte kam.
»Und dann bin ich gleichzeitig neidisch gewesen, so neidisch – und ich hasse das Gefühl, weil ich es leider so gut kenne. Nicht nur neidisch auf euch wegen meiner Mutter, sondern auch meinetwegen. Warum habe ich nicht eine so gute Ehe, habe ich mich gefragt, obwohl wir uns bei weitem nicht so lange kennen wie ihr euch. Aber ich habe mir die Antwort auch gleich selbst gegeben: Ich habe nicht so ein großes Glück wie ihr, eine so tiefe Liebe – weil ich einfach eine unausstehliche Kuh bin. Ich bin selbst schuld. So ist es doch.« Sie warf die Zigarette weg, an der sie nicht einmal gezogen hatte. »Ihr habt euch noch so viel zu sagen. Ihr seid einander so nah. Ich kann das richtig körperlich spüren. Ich wusste das ja nicht, was ihr uns eben gesagt habt – aber selbst in so einem Moment seid ihr gut und respektvoll miteinander. Wahrscheinlich seid ihr euch noch näher, wenn du auf Weltreise bist, als Christoph und ich uns, obwohl wir nebeneinander im Bett liegen.« Sie lachte verbittert.
Er berührte sie sanft an der Schulter, und sie ließ es geschehen.
»Weißt du, es ist jedes Mal eine Qual für mich hierherzukommen, in diese Familie – und zu sehen, wie ihr miteinander umgeht. Wie ihr miteinander redet und eure Geheimnisse teilt, wie ihr miteinander kocht und esst und Gesellschaftsspiele spielt. Hier taut sogar Christoph manchmal auf, er redet, er lacht sogar, es tut einfach so gut, das zu sehen – und ist gleichzeitig so schmerzhaft –, weil ich mir selbst nichts sehnlicher gewünscht habe. Und gleichzeitig bin ich so furchtbar zu allen, dass ausgeschlossen ist, dass ich das jemals erleben werde.«
»Aber …«, Pascal wog seine Worte vorsichtig ab, »aber warum ist das denn so … Ich meine …«
Er verzog das Gesicht, doch Gesine nickte ihm aufmunternd zu. »Du, keine falsche Scheu. Auch wenn du es nicht glauben kannst, ich werde dir nicht die Augen auskratzen – ich weiß selbst, wie ich bin –, also, nun sag schon.«
»Warum kannst du nicht ein bisschen netter sein? Wir haben dich aufgenommen, vor … vor acht Jahren, oder? Was haben wir denn damals falsch gemacht, dass du nicht einfach bei uns ankommen konntest?«
»Ihr habt gar nichts falsch gemacht. Ich kenne es nur einfach nicht, Teil einer liebevollen Familie zu sein. Ich konnte damit nicht umgehen. Vielleicht…«, sie überlegte, »vielleicht schieße ich mich immer wieder selbst ins Abseits, weil es der Ort ist, den ich am besten kenne.«
Sie hatte wieder feuchte Augen bekommen. »Dabei würde ich am liebsten mit euch allen am Kamin sitzen und quatschen. Ich mag euch nämlich wirklich gern.«
»Und Christoph?« Pascals Stimme war die des schützenden Vaters, prüfend, vorsichtig.
Sie nickte wieder. »Ich weiß, von außen sieht es so aus, als würden wir eine lieblose Ehe führen. Aber es ist nicht so. Ich liebe ihn sehr, auch wenn ich ihm das nicht so sagen würde, wie ich es jetzt dir sage – ich habe überhaupt seit Jahren nicht mehr so offen geredet. Keine Ahnung, was dieser Abend mit euch in mir ausgelöst hat. Wie eine …«, sie wies grinsend auf die Berge, »wie eine Lawine ist das. Na ja, aber ich bin mir auch sehr sicher, dass er mich ebenfalls liebt und wir auf unsere Weise eigentlich gut miteinander klarkommen. Ich meine, du weißt ja auch, dass Christoph mit seiner stillen und kühlen Art ganz anders ist als ihr …«
»Doch«, sagte Pascal leise.
»Was meinst du?« Sie bot ihm noch eine Zigarette an, die er dankend annahm. Das Feuerzeug glomm zweimal auf, dann zogen wieder kleine Rauchwölkchen in die kalte Luft.
»Ich war genauso, als ich so alt war wie er. Ich lebte nur für die Arbeit und habe Elisabeth zwar sehr gern gehabt, aber sie war die Einzige, die ihre Gefühle artikulieren konnte. Ich habe das alles von ihr gelernt. Und natürlich von den Kindern, als sie größer waren, als Mats es jetzt ist. Du wirst sehen, Mats wird das einfordern.«
»Na, das lässt mich hoffen. Aber nicht dass Christoph dann, wenn er in Rente geht, alleine eine Weltreise machen will.«
»Und wenn schon – dann suchst du dir eben eine sinnliche Tierärztin.«
Nun mussten beide lachen.
»Im Ernst, Pascal, ist das in Ordnung für dich? Dass Elisabeth nun eine Freundin hat?«
»Weißt du, Gesine, wir sind so lange zusammen, ich will einfach wirklich nur, dass es ihr gut geht und sie glücklich ist. Und ich möchte sie auf keinen Fall verlieren. Und das werde ich nicht – egal ob wir nun noch ein Bett teilen oder nicht. In Düsseldorf hat schon längst jeder von uns ein eigenes Schlafzimmer, weil ich so schnarche. In unserem Alter – na ja, vielleicht gibt es Paare, die noch richtig Liebe machen, aber wir … Nein, es ist in Ordnung so, wie es jetzt ist. Und vielleicht begegnet mir ja unterwegs eine Mittsechzigerin mit einem Weltreiserucksack, und dann laufe ich bald Hand in Hand mit ihr in Sydney an der Oper entlang …« Seine Stimme stockte. »Es ist merkwürdig. Früher hätte ich so etwas nicht mal zu träumen gewagt. Es schien mir unvorstellbar. Und jetzt ist es möglich. Morgen früh geht es …« Er hielt inne. »Sag mal, siehst du da unten auch jemanden?«
»Was meinst du?«
»Da unten. Da bewegt sich doch was.« Er wies auf den Schneeberg, der zwischen ihnen und dem Dorf lag. Und tatsächlich: Da war eine Gestalt, die sich den Weg durch den Schnee nach oben bahnte.
»Wer ist das?« Gesine kniff die Augen zusammen.
»Die Bergwacht?« Pascal hatte wirklich keine Ahnung. Er sah auf seine Armbanduhr, dann auf die Turmuhr. Eine Minute vor zwölf.
»Nein, das sieht aus wie eine Frau. Schau mal, sie hat einen Mantel an, einen schicken, ist das …«
»Sylvie«, sagte Pascal leise. Sie setzten sich in Bewegung und gingen der Gestalt entgegen, die mühsam, aber doch stetig den Berg erklomm. Bei jedem Schritt sanken ihre Füße tief ein, sodass sie sie immer wieder vom Schnee befreien musste. Ihre Beine müssen eiskalt sein, dachte Pascal. Es dauerte noch ein paar Minuten, und gerade begann die Glocke der Dorfkirche zu schlagen, zwölf Mal, da standen sie voreinander.
»Sylvie«, sagten Pascal und Gesine im Chor.
»Oh Mann«, stöhnte die junge Frau, »ich dachte schon, ich würde unterwegs erfrieren und nie wieder eine Menschenseele zu Gesicht bekommen.« Sie fiel erst Gesine in die Arme, dann auch Pascal. Sie war tatsächlich so kalt, dass er sich ernsthaft Sorgen machte. »Joyeux Noël, ihr Lieben.«
»Wo kommst du her?«
»Ich …« Sie ließ den Blick sinken. »Hat er es euch erzählt?«
»Nur Bruchstücke«, sagte Pascal und verzieh sich diese kleine Lüge selbst sofort.
»Ich … Ich war in Genf und dachte, ich würde es aushalten – ich würde diese Bestrafung hinnehmen, ich musste es einfach. Aber dann … Als ich hörte, dass hier im Tal so viel Schnee fällt, da habe ich mir erst Sorgen gemacht, und dann habe ich gedacht: Nein, so geht das nicht, ich kann nicht ohne meine Familie sein. Es ist Weihnachten. Da müssen wir einander verzeihen. Und Cord und ich, wir haben uns sehr viel zu verzeihen. Und ich wollte mit den Kindern morgen Schlitten fahren, mit Thea zum ersten Mal, ich wollte Fotos – und … Na ja, jedenfalls bin ich sofort in den Zug gestiegen und so weit gefahren, wie es ging, bis nach Visp, aber dann war Schluss, die Straßen sind alle dicht. Ich bin zu einem Betriebshof gelaufen, da war es schon nach acht, und dann habe ich den Fahrer eines Schneepfluges überredet, mich mitzunehmen. Der hat mich dann tatsächlich durch die Schneemassen bis nach Fiesch gebracht, es hat ewig gedauert. Aber dann musste er auf der Kantonsstraße weiterfahren. Und den Rest …«
Pascal sah sie schockiert an. »Du bist den Rest gelaufen, bei diesem Wetter?«
Sie nickte. »Doch. Es ist mein Büßergang. Siehst du? Und ich lebe noch. Sagt schon, ist er drin? Wird er …«, sie sah ihn ernst an, »wird er mir den Kopf abreißen? Ihr habt doch bestimmt ganz friedlich Weihnachten gefeiert, und jetzt bringe ich hier alles durcheinander.«
Pascal legte seinen Kopf schief. »Weißt du, Sylvie, heute war hier alles etwas anders als sonst – und deine Ankunft in tiefer Nacht ist zwar auch etwas Besonderes, reiht sich aber ein in eine Kette von sehr vielen unerhörten Ereignissen – deshalb glaube ich, dass Cord bestimmt …« Er brach ab und wies nach drinnen. »Nun geh schon, geh zu deinem Mann.«
Sie reckte sich auf die Zehenspitzen und gab Pascal einen Kuss auf die Wange. »Ich danke dir. Nein, ich danke euch. Gesine, wirklich, es ist so schön, dich zu sehen. Ich … Ich wollte mich das ganze Jahr melden. Wir müssen unbedingt einmal telefonieren. Ich hab mich letztes Jahr so gut mit dir unterhalten.«
Dann wandte sie sich um und ließ die beiden stehen, um zum Haus zu stapfen.
»Wollen wir?«, fragte Gesine.
»Das werde ich mir nicht entgehen lassen«, entgegnete Pascal.