»Ihr habt einen wirklich schönen Baum«, sagte Christoph, ohne von seiner Zeitung aufzusehen.
Stimmt, dachte Pascal und betrachtete das Werk, das Elisabeth und er gestern gemeinsam vollbracht hatten: dunkelrote und perlmuttglänzende Kugeln, Strohsterne, ein kleines Holzrentier für Mats und der große Weihnachtsstern obendrauf. Sie hatten viel gelacht, als sie den Baum geschmückt hatten, zwischendrin aber auch einmal kurz innegehalten. Elisabeth hatte einfach seine Hand genommen und sie sanft gedrückt. Der Augenblick war schnell verstrichen, aber wenn er jetzt daran dachte, musste er schlucken.
Dieses Jahr hatte er wirklich einmal ein glückliches Händchen bewiesen. Die Nordmanntanne vom Weihnachtsmarkt in Brig war von einem tiefen und edlen Grün, die Nadeln schön dicht und gleichmäßig, die Spitze perfekt gewachsen. Wenn er da an den Baum aus dem Vorjahr dachte, den sie aus Düsseldorf mitgebracht hatten … Der Händler musste sie damals angeschmiert haben. Denn auf dem Markt hatte der Baum wunderschön ausgesehen, ebenso gerade und gleichmäßig wie der, der jetzt vor ihm stand. Allerdings war er dann noch kurz im Baumarkt gewesen und hatte den schon eingenetzten Baum erst eine halbe Stunde später abgeholt. Als er ihn dann im Haus in den Bergen aufstellen wollte, konnte er es kaum glauben: Der Baum, den er auspackte, war ein ganz anderer als der, den er meinte gekauft zu haben: auf der einen Seite voller dünner Äste, auf der anderen Seite ausgefranst und kahl, die Spitze war sicher dreißig Zentimeter lang und vollkommen nackt gewesen. Zu gerne wäre er wieder losgefahren und hätte dem Mann seine Krüppelkiefer vor die Füße geschmissen. Aber dazu wäre er selbst dann zu gutmütig gewesen, wenn er in Düsseldorf gewesen wäre und nicht eine Tagesreise weit entfernt vom Ort des verhängnisvollen Kaufs. Sie hatten den Baum also auf der bewachsenen Seite mit Schmuck behängt, dass er unter der Last der Kugeln fast zusammenbrach. Die nackte Seite hatten sie so nah an die Wand geschoben, dass sie niemandem auffiel. Und in der Tat hatte niemand etwas gesagt. Cleo hatte den Baum sogar bewundert – nur Gesine konnte sich eine stichelnde Bemerkung nicht verkneifen: »Na, hattest du beim Baumkauf deine Brille nicht mit?« Als ihm dieser Satz wieder einfiel, war er kurz davor, die Sahnesoße für die Nudeln gleich selbst zu kochen.
Aber es war schon zu spät, Elisabeth goss gerade den Topf mit kleinen, länglichen Trofie, gekochten Bohnen und Kartoffelstückchen ab, bevor sie sie mit ein wenig Kochwasser in eine Schüssel mit Pesto gab. Sofort breitete sich ein Aroma in der Küche aus, das ihn an einen Sommer in Italien erinnerte, der so lange her schien, dass er gleich wieder wehmütig wurde.
Er liebte es, dass Elisabeth so gut kochte. Es hatte ihn immer mit Dankbarkeit erfüllt, in der Küche zu stehen und ihr zusehen zu dürfen, für den Wein zu sorgen und vielleicht für die richtige Musik und einfach zu versinken in diesem Meer von Düften, von Aromen, von Kräutern und Gewürzen – und sich daran zu erinnern, wie viele gute Gespräche sie schon in dieser Küche geführt hatten. In ihrem Ferienhaus hatten sie sich stets mehr Zeit genommen fürs Kochen als in ihrem Alltag in Deutschland.
»Wir fangen an – wenn Cord und die Bande kommen, ist das Essen bestimmt noch warm.«
Elisabeth nahm die Schüssel und trug sie ins Wohnzimmer. »Mittag!«, rief sie so laut, dass es auch Gesine im ersten Stock würde hören können. Christoph ließ die Zeitung sinken und schnupperte. »Das riecht aber gut«, sagte er.
»Machst du schon einmal den Kamin an?«, fragte Elisabeth ihren Sohn. »Bei dir geht das immer schneller – dein Vater hat gestern wieder ewig gebraucht.« Sie zwinkerte Pascal zu, der ganz genau wusste, warum sie diese kleine List angewandt hatte. Elisabeth hatte eine große Fingerfertigkeit, wenn es um die Klaviatur der menschlichen Gefühle ging.
Christoph legte beflissen die Zeitung weg, stand auf und ging zum Kamin. Dann schichtete er fein säuberlich drei Hölzer auf, stopfte Zeitungspapier darunter und zündete den Haufen an. Fachmännisch schob er die Regler hin und her, dann schloss er die Scheibe. Im Inneren loderte jetzt eine schöne Flamme.
»So, das wäre geschafft«, sagte er zufrieden, als er sein Werk betrachtete.
»Oh nein«, tönte es von der Treppe. »Hast du das etwa gemacht? Du weißt doch, dass mich dieser Qualm umbringt. Ich hab so schon Kopfschmerzen.«
»Das ist doch gemütlich«, erwiderte Christoph und ging zu Gesine. »Und Mama hat mich darum gebeten.« Der Blick, den sich Elisabeth nun von Gesine einfing, ließ ganz und gar nicht auf eine besinnliche Stimmung schließen.
»Kommt, wir essen«, sagte Pascal, und alle nahmen am Tisch Platz. Mats stellte den Hamsterkäfig neben sich auf die Tafel.
»Ähm, Mats …« Elisabeth wies auf den Käfig.
»Aber Willi will auch was sehen.«
»Doch nicht beim Essen.«
»Du hast gesagt, er muss drinbleiben. Jetzt ist er drin.«
»Der Käfig muss beim Essen vom Tisch. Sagt denn auch mal ein Erziehungsberechtigter etwas?« Pascals Stimme war etwas lauter geworden.
»Doofer Opa. Doofe Oma.« Dann stellte Mats den Käfig widerwillig auf den leeren Stuhl neben sich.
»Wie war eure Fahrt?«
»Ach, es ging doch superschnell«, antwortete Christoph. »Münchner Ring, dann Bregenz und Feuer frei, immer geradeaus bis ins Wallis.«
»Wollt ihr nach Weihnachten noch weiter? Ihr habt ja gepackt, als hättet ihr eine längere Reise vor.«
»Nein, das ist alles für die zwei Tage hier. Gesine wollte auf Nummer sicher gehen, weil sie letztes Jahr so gefroren hat. Und Mats braucht sein Spielzeug – und Futter für Willi.«
Elisabeth warf Pascal einen genervten Blick zu.
»Wie gefällt es Mats in der Kita?«
»Er ist doch noch nicht in der Kita. Meint ihr, ich will alle drei Tage Schnupfen, Husten oder Magen-Darm haben? In München bringen die meisten ihre Kinder erst dann in die Kita, wenn es gar nicht mehr anders geht. Das ist für Familien – na ja, in denen die Frau arbeiten muss.« Gesines Stimme war etwas schrill geworden.
»Was ist denn das in den Nudeln?«, rief Mats aus.
»Das sind Pesto, Bohnen und Kartoffeln«, antwortete Elisabeth. »Dein Papa liebt dieses Gericht. Wir haben es früher immer im Urlaub in Italien gegessen.«
»Kartoffeln und Nudeln zusammen?« Mats verzog das Gesicht. »Das ist bäh.«
»Hmm, aber das gibt es jetzt nun einmal. Wir wollten zum Mittag etwas Einfaches essen.«
»Ich will das nicht.«
»Aber …«
»Hast du auch Nudeln pur?«, fragte Gesine.
»Nein, sie sind gemischt.«
Genervt stand Gesine auf. »Dann koch ich dir schnell noch ein paar Nudeln, Matsi, du sollst ja nicht verhungern. Außerdem werden meine Kopfschmerzen hier sowieso immer schlimmer.« Und schon war sie in der Küche verschwunden, Mats im Schlepptau.
»Wie läufts in der Bank?«, fragte Pascal seinen ältesten Sohn.
»Es war ein gutes Jahr, trotz der gestiegenen Zinsen. Wir kriegen einen mörderischen Bonus.«
»Also so wie jedes Jahr?«
»Ganz genau. Augen auf bei der Berufswahl, wie ich immer sage.«
»Und wird Gesine wieder arbeiten?«
Bevor Christoph antworten konnte, tönte es aus der Küche: »Ja, ich werde Mats noch ein Jahr betreuen – und dann habe ich vor, einen kleinen Laden aufzumachen, im Zentrum von München, irgendwo in Schwabing oder so. So für ausgewählten Modeschmuck und Accessoires, Handyketten und derlei. Alles, was mir selbst gefällt.«
»Wow, ein eigener Laden, und dann noch mitten in München, ist das nicht teuer?«
»Ach, woher denn? Wir werden das schon machen. Christoph finanziert den Anschub – und dann wird das Kind schon von alleine laufen. Die Münchner Frauen sind verrückt nach solchen Dingen, die das Leben schöner machen.«
»Und liegt dir das … na ja, so diese Art Service?«, fragte Pascal in Richtung Küche. »Wo man freundlich sein muss zu den Kunden?«
»Natürlich«, erwiderte Gesine und sah durch die Tür zu ihnen. »Ich glaube schon, dass ich ziemlich gut beraten kann.
»Meinst du echt?«, flüsterte Pascal nach einer Weile und sah seinen Sohn drängend an. »An Gesines Job in der Stadtverwaltung ist doch eigentlich nichts auszusetzen. Den einfach aufzugeben in diesen Zeiten, ist das nicht arg unvorsichtig?«
»Sie macht, was sie will – und das finde ich auch richtig, mein lieber Herr Papa. Wir sind doch nicht mehr im Mittelalter, wo ich meiner Frau befehle, was sie zu tun oder zu lassen hat. Und wenn sie einen Schmuckladen aufmachen will, dann soll sie das machen. Außerdem ist es bestimmt schön für Mats, wenn er nach der Kita oder nach der Schule bei ihr im Laden spielen kann.«
»Oh ja, die Damen von Welt stehen bestimmt auf Hamster, die an ihrem Modeschmuck nagen.« Elisabeth grinste. Pascal legte seinen Kopf schief und sah seine Frau an. »Vielleicht machen wir dann einen Laden für Kaminholz und leckere italienische Nudeln auf, was meinst du? Wenn Christoph uns eine Anschubfinanzierung gibt …«