»War der Weihnachtsmann jetzt endlich da?« Mats hatte zu seinem alten Selbstbewusstsein zurückgefunden, als er ihnen entgegenrannte.

Elisabeth sah erst Pascal und dann Gesine panisch an. »Mist«, flüsterte sie. »In dem Chaos hab ich ganz vergessen, die Geschenke rauszustellen.«

»Na super«, murmelte Gesine und wandte sich dem Haus zu. »Dann mach ich das jetzt schnell.«

Elisabeth warf Pascal einen Blick zu, der besagte: Gleich dreh ich ihr den Hals um. Doch dann räusperte sie sich und sagte: »Nein, lass doch. Pascal geht oben mit ihm spielen, und dann machen wir das zusammen – mit dem Glöckchen.«

»In Ordnung.«

»Es gibt eh erst Geschenke, wenn der beschissene Autoschlüssel wieder da ist.«

»Wirklich?« Mats sah seinen Onkel in einer Mischung aus Angst und Wut an. »Stimmt das, Mama? Ich hab doch aber nicht …«

»Cord – also, das ist doch die Höhe.« Gesine verdrehte wütend die Augen, dann streichelte sie ihrem Sohn über den Kopf. »Mats, alles in Ordnung. Onkel Cord macht nur Spaß …«

»Macht er nicht«, sagte Onkel Cord. »Wir müssen schließlich irgendwie nach Hause fahren. Mit dem Zug kommen wir von hier jedenfalls kaum nach Genf.«

»Kannst du dich jetzt mal zusammenreißen?«, fragte Elisabeth, die neben Cord herging.

»Eigentlich hat er doch recht«, bemerkte Pascal vorsichtig. »Der Junge hat einfach den Schlüssel …«

»Himmelherrgott, es ist Heiligabend. Dann nehmt ihr eben erst mal unser Auto, um nach Hause zu kommen – und wir machen uns bei Tageslicht noch einmal auf die Suche nach dem Schlüssel.«

Mats hatte als Erster wieder das Haus erreicht und sah missmutig auf den Teller. »Die Kekse sind immer noch da – und die Milch.« Dann schnappte er sich einen Keks und hatte – bevor jemand etwas einwenden konnte – die Schokolade davon abgenagt. »Der Weihnachtsmann weiß ja nicht, dass da welche drauf war. Oder?«

»Komm, ich geh mit dir spielen«, sagte Pascal und seufzte. Ihm blieb auch nichts erspart.

»Beeilt euch, ja? Ich brauche dringend einen Glühwein.«

»Weihnachten mit der Familie, und man wird zum Alki«, sagte Cord.

»Mit dir bin ich noch lange nicht fertig«, erwiderte Pascal. Mats stürmte schon voran, und Ronja folgte ihm, das Gepolter auf den Holztreppen ließ ihn innerlich aufstöhnen. Er stieg hinterdrein und fand sich schließlich in einem verwüsteten Kinderzimmer wieder. Die Schienen der Spielzeugbahn waren offensichtlich erst zusammengesetzt und dann wieder auseinandergerissen worden. Und daneben war ein riesiger Haufen roter und gelber Knetmasse auf dem alten Holzboden verteilt.

»Ist das da Blut und das da Schleim?«, fragte Pascal und stemmte mit gespielter Entrüstung die Hände in die Hüften.

»Jetzt sag das nicht immer, Mats«, tadelte ihn Ronja. »Opa, wollen wir puzzeln?«

»Opa spielt mit mir.« Mats sah sie wütend an.

»Opa spielt mit uns beiden«, erwiderte Ronja.

»Na, wenn du mich vorhin gegrüßt hättest«, sagte Pascal leise, »dann würde ich jetzt nur mit dir spielen.« Sogleich schämte er sich für seinen kindischen Ton, aber inzwischen waren seine Nerven arg angespannt. »Also, wollen wir puzzeln?« Er griff nach einer Packung. »Hier, das ist ein Puzzle mit Flugzeugen, das machst du doch gerne, oder, Mats?«

Ronja legte enttäuscht das Pferdepuzzle weg. »Nicht das?«

»Das ist doch Mädchenkram!«, schrie Mats. »Ja, das mit den Flugzeugen.« Er riss die Packung auf und kippte alle Teile aus, ungeachtet ihrer Bemusterung auf der Rückseite. Pascal runzelte die Stirn. »Nun, dann sortieren wir erst mal alle«, sagte er und atmete schwer. Er begann die Teile zu ordnen, während Mats lieber ans Fenster ging, feststellte, dass er aufgrund der Höhe des Fensterbretts nichts sehen konnte, einen Hocker holte und daraufkletterte, fast runterfiel und sich gerade noch fing. »Siehst du nach dem Weihnachtsmann?«, fragte Pascal. »Der ist doch so schüchtern.«

»Doofer Opa«, sagte Mats.

»Wenn du das noch einmal sagst, dann esse ich deinen Hamster zum Abendbrot.« Pascals Ton war ernst. »Ist das klar?«

Mats sah ihn an wie vom Donner gerührt. »Du machst Quatsch, Opa.« Doch dann legte er den Kopf schief. »Oder? Du machst doch Quatsch, oder, Opa?«

»Ich würde es nicht drauf ankommen lassen.« Pascal gab sich ungerührt, auch weil er Ronja grinsen sah.

»Du isst doch keinen Hamster, oder?«

Mats ließ den Blick durch den Raum schweifen, als bräuchte er Zeit zum Überlegen.

»Wirst du wirklich Willi essen?«

»Mit Ketchup«, erwiderte Pascal.

»Okay«, sagte Mats. »Kein doofer Opa.«

»Gut. Wollen wir puzzeln?«

Sie setzten sich auf den Fußboden, und Pascal sagte: »Wollen wir erst mal die Eckteile suchen? Dann haben wir einen Anfang.«

Mats besah sich lieber das Bild auf der Packung. »So sieht es aus?«

»Ja. Wenn wir fertig sind. Zu Silvester vielleicht«, erwiderte Pascal.

»Im Ernst? Doofer Opa.«

Nun musste Pascal doch kurz grinsen, zumindest innerlich. Doch Mats hatte schon einen anderen Gedanken.

»Was ist das für ein Flugzeug?«

»Eine Boeing 747«, erwiderte Pascal.

»Und woher weißt du das?«

»Weil es da steht.« Er wies auf den Schriftzug unterhalb der Maschine mit der Aufschrift Air France, der auf der Schachtel stand.

»Papa sagt, du bist noch nie geflogen.«

»Das stimmt doch gar nicht. Ich bin sehr viel geflogen, zu Kongressen und so …«

»Zu was?« Mats’ Nachfrage zeigte Pascal, dass er immer wieder vergaß, dass er mit einem Fünfjährigen redete.

»Na ja, für die Arbeit …«

»Papa sagt, du bist nie in den Urlaub geflogen. Und dass du immer zu Hause sein willst.«

»Also, ich bin gerne im Urlaub«, sagte Ronja schnell. »Da scheint immer die Sonne – und ich kann ganz viel Eis essen und Karussell fahren und im Meer baden. Magst du keinen Urlaub, Opa?«

»Doch«, erwiderte Pascal. »Urlaub ist toll. Wir sind ja hier im Urlaub. Wir schlafen lange und lesen und …«

»Aber das ist doch kein Urlaub!«, rief Mats, »das ist doch euer Zuhause.«

Und Ronja nickte. Pascal gab sich geschlagen.

Plötzlich war zuerst ein quietschendes und dann ein mahlendes Geräusch zu hören. Mit einem Satz war Pascal am Fenster und sah gerade noch, wie der alte VW Golf mit dem rostigen Kotflügel um die Ecke schleuderte, an Christophs Prius ebenso vorbeiglitt und dann einen halben Meter vor dem Haus zum Stehen kam. Erleichtert atmete er auf. Herrgott, sie war aber auch eine echte Abenteurerin.

Die Tür öffnete sich, und Cleo schälte sich vom Sitz, sie klappte die Lehne des Vordersitzes nach vorn, und dann sprang der Hund heraus – ein Hund von einer Größe, dass Pascal sich fragte, wie er es wohl die letzten elf Stunden auf der Rückbank hatte aushalten können. Der Dritte im Bunde war ein junger Mann mit dunklem Teint, der vom Beifahrersitz kletterte und sich erst mal eine Zigarette ansteckte. Na ja, dunkler Teint stimmt sicher nicht ganz, dachte Pascal, aber er wusste einfach nicht, wie man diese Dinge heute sagen und denken durfte.

»Ein Glück!«, rief Elisabeth, »wir dachten schon, ihr wärt in Andermatt hängen geblieben. Offensichtlich habt ihr es doch noch rechtzeitig auf den Autozug geschafft.«

»Es war echt knapp«, sagte Cleo und schloss ihre Mama in

»Bestochen?«

»Mit Schokolade.« Cleo verzog keine Miene.

»Echt jetzt? Nun kommt doch endlich rein.«

Sie betraten den Flur, und die Neuankömmlinge legten ab, während der riesige Hund gleich in die Wohnstube stürmte.

»Ich schwöre. Eigentlich war der Zug voll und die Schlange noch elendig lang. Aber ich bin einfach bis ganz nach vorne gefahren und habe behauptet, der Hund sei schwer krank und müsse in die Klinik nach Visp. Grinch hat extra ganz traurig geschaut. Und dann … Dann habe ich dem Mann am Terminal Schokolade angeboten.«

»Die Schweizer sind auch die Einzigen, die sich im Land der Schokolade ausgerechnet mit Schokolade bestechen lassen.«

»Jaja, Eulen nach Athen tragen und so.«

»Du meinst Euros

»Was?«

»Was?«

»Ach übrigens«, Cleo hob eine Hand, »der lag draußen rum. Sucht den jemand?«

Cord machte große Augen.

»Nicht dein Ernst.« Es war Christoph, der die Sprache zuerst wiederfand. Pascal stand immer noch ungläubig da.

Cleo, die keine Ahnung hatte, worum es hier ging, hielt immer noch den kleinen Autoschlüssel mit dem Löwen aus Plüsch und dem grünen Band in der Hand, selbst überrascht, welch heftige Reaktion sie damit ausgelöst hatte.

»Na Mann, da würde ich mir doch wünschen, dass ihr euch immer so doll freut, wenn ich komme«, sagte sie. »Der lag draußen im Schnee, direkt vor der Haustür.«

»Sag ich doch, direkt vor der Haustür.«

»Das heißt, Mats hat ihn gar nicht auf dem Berg verloren?«

Cords Blick fiel auf den kleinen Jungen.

»Und wir haben ganz umsonst die halbe Alpensüdseite abgesucht«, erwiderte Elisabeth.

»Sag ich doch – Matsi ist unschuldig.« Gesine war wieder mit sich im Reinen.

Cord verzichtete auf eine Erwiderung und schüttelte einfach nur ungläubig den Kopf.

»Wir erzählen dir nachher von der besten Schlittenpartie des Jahres, okay?«, sagte Elisabeth und öffnete die Tür noch ein Stückchen weiter. »Nun kommt schon rein. Schönen guten Abend.«

»Und wer ist dieser junge Mann?«, fragte Pascal, wofür er sich sofort einen satten Schulterhieb seiner Frau einfing. »Nun lass sie doch erst mal reinkommen«, zischte sie.

»Das ist Samy.«

»Hallo, Samy.«

Der junge Mann mit dem Wuschelkopf strahlte in die Runde. Cleo sah ihren Vater fragend an.

»Erkennst du ihn nicht?« Pascal schüttelte den Kopf. Doch Elisabeth sagte: »Papa war doch damals immer in der Klinik. Er hat … Er hat Samy vielleicht wirklich nie kennengelernt.«

»Oh ja, das kann sein, na ja, dann gleich. Also: Das sind Christoph und seine Frau Gesine – Mats da hinten ist ihr Sohn.« Cleo gab ihrem Freund ein Zeichen, woraus jeder im Raum schließen konnte, dass der Junge schon auf der Herfahrt ein Thema gewesen war. »Und das da sind Cord und seine Frau …« Cleo sah sich um. »Hä? Wo ist Sylvie?« Diesmal war es Elisabeth, die Cleo vergeblich zu stoppen versuchte – bis Pascal sagte: »Wir wissen es auch noch nicht, Cord

»Guten Abend«, sagte Samy und streckte Elisabeth die Hand hin. Die schüttelte sie herzlich.

»Schön, dich wiederzusehen. Es ist lange her.«

»Oh ja, Lichtjahre – sagt man doch so, oder?«

Dann streckte Pascal ihm die Hand hin, doch Samy nahm ihn kurzerhand in den Arm, so voller Inbrunst, dass er sich nicht wehren konnte, auch nicht als Samy ihm dann drei Küsse auf die Wange drückte. »Cleo hat nur Gutes von Ihnen erzählt.«

Cord begann zu prusten, und auch Cleo grinste. Pascal war sichtlich überrascht.

»Ja, ich freue mich auch«, brachte er hervor. Und flüsterte dann Elisabeth zu: »Du kennst diesen Jungen?«

»Sie haben eine tolle Tochter«, sagte Samy.

»Ich habe da so eine Ahnung«, erwiderte Pascal. »Setzen Sie sich doch. Möchten Sie etwas trinken? Ah, ich weiß nicht …Woher kommen Sie – trinkt man da Alkohol?«

Samy wollte gerade antworten, doch Cleo kam ihm zuvor. »Er kommt aus Berlin«, sagte sie knapp.

»Na ja, ich meinte – woher kommt er ursprünglich.«

»Pascal«, zischte Elisabeth wieder.

»Papa«, setzte Cleo hinzu. »Er kommt aus Deutschland – auch ursprünglich.«

»Aber sein Deutsch … Herrgott, es ist aber auch alles umständlich geworden.«

»Das sind doch mal gute Nachrichten«, sagte Pascal und verschwand in der Küche.

»Jetzt sagt mir nicht, dass wir zu früh sind«, hörte er Cleo aus dem Wohnzimmer sagen.

»Wieso?«

»Müsste nicht längst Bescherung sein?«

»Nun, die ganze Schlüsselsuche hat etwas länger gedauert als geplant.«

»Herrje, komm, Samy, wir fahren noch mal Zigaretten kaufen.«

»Was sind Zigaretten?«, rief Mats.

»Gar nichts, mein Schatz.« Gesines Ton hörte sich irgendwie ertappt an.