LITERATURSTUNDE

Normalerweise lief mir Kevin in der Schule nicht über den Weg, aber an diesem Tag nach Halloween suchte ich ihn überall.

Schließlich gab ich die Suche auf. Ich wusste, ich würde ihn beim Mittagessen sehen, bevor er und die andern übers Wochenende fortfuhren.

Irgendwie hatte ich es geschafft, noch schnell meinen Aufsatz über das latente schwule Begehren zwischen Nick und Bill für Mr Wellins hinzuhauen, und ihm lief förmlich die Spucke aus dem Mund, als ich ihm den am Anfang der Literaturstunde aushändigte.

So ein Hohlblock.

Was für eine kriminelle Papierverschwendung.

Ich setzte mich.

Annie lächelte, aber JP nahm mich gar nicht zur Kenntnis.

Ich wünschte, er würde sich einfach woanders hinsetzen und uns beide in Ruhe lassen.

Ich hatte getan, was ich konnte. Ich hatte Scheiße gebaut und mich mit einem geschlagen, der einer meiner besten Freunde war. Und ich wusste, dass JP diese Schmollnummer das ganze restliche Jahr abziehen würde, vielleicht sogar die ganze restliche Schulzeit.

Dann fing Mr Wellins an, über Halloweenkostüme als Ausdruck verdrängter Sexualität zu reden, und ließ über jeden einzelnen Schüler in der Klasse sein bearschtes Blabla ab von wegen, er hätte sich beim Ball gestern Abend zu uns allen Notizen gemacht, und Ryan Dean West wäre in Verbindung mit seinen atavistischen männlichen Urtrieben – und apropos, gehen wir doch mal der Reihe nach die einzelnen Hemingway-Aufsätze durch.

Klar, dass Annie und ich das weitgehend ausblendeten, unsere Bänke zusammenschoben, in meinem Schoß Händchen hielten – es lebe der Atavismus! – und leise tuschelnd unser eigenes unbeobachtetes Gespräch führten. Und die ganze Zeit betete ich, der alte Perversling möge nicht seinen Lieblingshöhlenmenschen auffordern, den armen Nick Adams und seinen Freund zu outen.

»Mir hat das unheimlich Spaß gemacht gestern Abend«, sagte ich.

»Mir auch. Du bist ein klasse Tänzer.«

»Sei bloß still.« Ich verdrehte die Augen und drückte ihre Finger. »Das wird hier am Wochenende stinklangweilig werden. Frag mal deine Eltern wegen Thanksgiving. Ich würde schrecklich gern kommen.«

»Ich weiß, dass sie sich freuen würden. Das wird bestimmt super, Ryan Dean. Es sind nur noch wenige Wochen.«

»Mir kommt es unendlich lang vor. Ich werde dieses Wochenende durchdrehen ohne dich.«

Sie beugte sich näher heran und sah mir mit diesem Wahnsinnsblick, den sie hat, direkt in die Augen.

Ich weiß, wir hätten uns geküsst, wenn wir in dem Moment nicht im Unterrichtszimmer gesessen hätten.

JP hüstelte, warf uns einen bösen Blick zu und rückte seine Bank weiter von Annies ab.

Gut.

»Mit wem fährst du zum Flughafen?«, fragte ich.

»Kevin fährt. Mit einem Arm. Dazu Megan und Joey.« Sie fügte hinzu: »Chas fährt nicht mit, du wirst also nicht völlig einsam sein, Ryan Dean. Stell dir nur vor, was für einen Spaß ihr zwei zusammen haben werdet.«

Sie lachte leise.

Kacke.

»Hast du Joey heute schon gesehen? Er war weder in Analysis noch in Ökonomie.«

»Er kommt am Mittag dazu.«

»Ich bring dich zum Auto, wenn du fährst.«

»Okay.«

»Und damit kommen wir zum jungen Mr West«, verkündete Mr Wellins und riss damit Annie und mich aus unseren Träumereien.

Er fuhr fort: »Ryan Dean hat eine besonders interessante Theorie über die sexuelle Spannung, die Hemingway in ›Drei Tage Sturm‹ leise anklingen lässt, wie ein dringliches Flüstern.«

Würg.

Die Klasse unternahm einen lahmen Versuch, ihr Gelächter zu dämpfen.

Eine einzige Kacke, und das bloß, um auf einen blöden Halloweenball gelassen zu werden. Und was dachte er sich eigentlich bei seinem Gesülze vom »jungen Mr West«? Ich hatte diesen Scheiß so satt, und jetzt kriegte ich ihn auch noch von perversen alten Lehrern aufs Brot geschmiert.

»Sei doch so gut, das etwas näher auszuführen, Ryan Dean«, sagte Mr Wellins.

»O ja, bitte, junger Mr West«, flüsterte JP spöttisch auf der andern Seite von Annies Bank, ohne mich anzuschauen.

Kacke.