DIE NACHT IN DER O-HALL
Joey tauchte nicht auf.
Irgendwas war passiert, das wusste ich. Es fetzte mir die Nerven wie das Klirren der leeren Whiskeyflasche, gegen die ich am Abend zuvor im dunklen Flur getreten war.
Am Nachmittag war ich gegen vier Uhr in der O-Hall zurück.
Das Haus war still und leer, wie freitagnachmittags meistens. Unten waren sämtliche Spuren der Nacht beseitigt worden. Aber das beklemmende Gefühl wie nach einem schrecklichen Albtraum, das man beim Aufwachen einfach nicht abschütteln kann, hing mir immer noch nach – die Erinnerung an die schmutzigen Schuhabdrücke, das Wasser auf dem Fußboden, die im Waschraum laufende Dusche und die unheimlichen Töne aus dem Wald, die ich gehört hatte.
Aber es war kein Traum. Kevin Cantrell wusste das. Aber er kannte die O-Hall und die Typen, mit denen wir zusammenwohnten, ziemlich gut, und deshalb regte es ihn nicht besonders auf.
Mich regte es auf, ich konnte es nicht ändern.
Nach allem, was passiert war, war ich gestresst und schlecht gelaunt, und ich wünschte mir, ich wäre nicht so allein und hätte Annie bei mir.
Als ich an der Tür zur unteren Etage vorbeiging, beschloss ich, vor dem Abendessen noch laufen zu gehen.
Ich erstarrte, als ich hinter der Tür Mrs Singer sah, die mich beobachtete. Ich hatte nicht vor, die Tür zu öffnen, aber irgendwie erschreckte die Frau mich nicht mehr so sehr wie sonst. Ins Gesicht guckte ich ihr aber trotzdem nicht.
Ich beobachtete nur den Türknauf und lauschte, ob sie herauskam.
Sie kam nicht.
Ich ging auf mein Zimmer und zog meine Laufsachen an.
Ich lief nicht ganz bis zum Buzzard’s Roost hinauf. Es wurde zu dunkel dafür, und ich musste umkehren. Aber ich machte in Stonehenge halt und setzte mich eine Weile auf den umgestürzten Baum, auf dem ich so viele Male mit Annie Altman gesessen hatte.
Sie fehlte mir so sehr. Obwohl sie erst wenige Stunden fort war, war mir, als würde ich sie niemals wiedersehen.
Ich schritt den Wunschkreis ab.
An dem Abend guckten Chas und ich mit Mr Farrow fern. Voll der Krampf. Es war, als würden wir zusammen nackt in der Sauna sitzen. Wir waren die einzigen verbliebenen O-Hall-Bewohner, aber wir sprachen weder mit ihm noch miteinander. Es war allerdings deutlich, dass meine Anwesenheit Mr Farrow unangenehm war, und ich hätte das wohl amüsanter gefunden, wenn ich das mulmige Gefühl vom Vorabend irgendwie losgeworden wäre.
Als wir später im Bett lagen, war ich so unglücklich und das Schweigen so leid, dass ich mir einen Ruck gab und tatsächlich anfing, mit Chas Becker zu reden.
»Und, hast du jetzt mit Megan Schluss gemacht oder sie mit dir?«
Ich hörte Chas schnaufen und sich herumwälzen.
Eine Minute ungefähr sagte er gar nichts und schließlich: »Was juckt dich das?«
»Ich halte diese Stille einfach nicht mehr aus.«
»Sie hat mit mir Schluss gemacht. Kannst du dir was drauf einbilden, kleiner Muschibubi.«
»Ich hab’s dir doch schon gesagt, Chas«, sagte ich. »Es tut mir leid. Mit mir und Megan läuft gar nichts.« Ich verschränkte die Hände hinter dem Kopf und seufzte. »Haben die Bullen mit dir geredet?«
»Ja.«
»Was hast du gesagt?«
Chas knurrte. »Was soll ich schon sagen? Dass wir saufen und pokern und irgendwelchen beknackten Scheiß abziehen? Dass Joey vielleicht gerade irgendeine blöde Strafe ableistet oder so? Ich weiß rein gar nichts über Joey. Er ist einfach abgehauen.«
»M-hm. Ich hoffe, ihm ist nichts passiert. Ich hoffe, er kommt wieder.«
»Mir hat’s immer so ausgesehen, als ob ihr zwei miteinander rumschwulen würdet«, sagte Chas.
Ich wollte schon sagen, frag deine Freundin, wie schwul ich bin, Betch, aber mir reichte es fürs Erste mit Streiten.
»Du bist ein …« Doch ich hielt mich zurück, weil ich ihn nicht angiften wollte. »Das ist doch hirnrissig, Chas. Kann Joey nicht einfach so Freunde haben, ohne dass es gleich darum geht? Du bist doch auch sein Freund, oder?«
»Ich?«, sagte Chas. »Fuck, Mann, ich habe keine Freunde.«
Echt jetzt.
Wenigstens war er schlau genug, das zu erkennen.
Zu erkennen, wie armselig sein Leben war, darin war Chas Becker echt genial.