MORGENS UM SIEBEN

Ich wachte um sieben auf.

Als ich aus dem Bett kletterte, wälzte Chas sich herum und sagte: »Was soll der Fuck? Es ist Samstag, du Depp.«

Ich hätte ihm am liebsten in die Fresse getreten.

»Ich weiß. Ich will einfach nicht mehr liegen bleiben.«

Chas drehte sich zur Wand und zog sich das Kissen übers Gesicht.

Ich zog den Trainingsanzug und die Laufschuhe an.

Draußen trat ich in einen kalten Nieselregen. Es fühlte sich an, als wollte es schneien, und die weißen Wolken hingen so tief, dass ich nicht einmal die Wipfel der Bäume um mich herum erkennen konnte. Es sah aus, als läge ein Kissen über dem Gesicht der Welt.

Ich ging zum Speisesaal.

An den Wochenenden war an der Pine Mountain praktisch Selbstversorgung angesagt. Für die Schüler, die dablieben, gab es in den Kühlbehältern immer reichlich Portionen von diesem und jenem, die man sich in der Mikrowelle warm machen konnte, aber es gab keine richtigen Mahlzeiten und auch keine Leute, die sie austeilten.

Aber bevor ich zum Frühstücken kam, sah ich am Haupteingang der Schule ungefähr hundert Polizisten, Ranger und Schulangestellte stehen.

Jetzt suchten sie richtig nach Joey.

Ich ging zur O-Hall zurück.

Chas Becker war nicht sehr erbaut, als ich ihm die Decke vom Gesicht zog und ihn ohne weiteres am nackten Arm anfasste und schüttelte.

»Wach auf, Chas.«

»Du bist total die Schwuchtel, Muschiluschi. Dir ist klar, dass du mich gerade anfasst, richtig?«

»Sie veranstalten eine Suchaktion wegen Joey. Im Wald. Schwing deinen verfickten Arsch aus dem Bett und komm mit, unseren Kapitän suchen helfen.«

Ich widerstand dem Drang, die Augen zu schließen. Weh würde es sowieso tun, wenn Chas mir die Zähne einschlug, ob ich ihm nun dabei zusah oder nicht.

Aber er holte einfach tief Atem, rieb sich die Augen und setzte sich auf.

Als er die nackten Füße auf den Boden stellte, blickte er sich in dem trüben Licht im Zimmer um und sagte: »Es ist fuck kalt.«

»Genau.«

Er hielt mir die Hand hin, damit ich ihn auf die Füße zog.

Chas streifte die Schlafsachen ab und zog Thermounterwäsche und Sportkleidung, Handschuhe und Mütze an. Er sah aus, als wollte er zum Schneeschuhwandern aufbrechen, und ich muss zugeben, ich wünschte, ich hätte auch mehr Schichten an.

Wenigstens hatte ich mir zwei aufgewärmte Frühstückssandwiches in die Taschen gestopft. Sie waren noch warm, deshalb musste ich mich überwinden, eines davon Chas abzugeben, als wir in den Nieselregen hinaustraten.

Sie schmeckten scheußlich, aber Chas bedankte sich, dass ich ihm Frühstück ans Bett gebracht hatte, selbst wenn das nach seinem Weltbild nur bewies, was für ein Homo ich war.

Wir kannten die Stellen, an denen man suchen musste.

Auf halbem Weg zwischen der O-Hall und dem Highway nach Bannock gab es einen großen Abzugskanal. Dort gingen die O-Hall-Bewohner manchmal hin, um mit ihren Freunden Gras oder Zigaretten zu rauchen oder, wenn sie allein waren, zu ekligen alten Pornoheften zu wichsen, die jedermann dort zu deponieren schien.

Niemand war da.

Chas pinkelte an das Abflussrohr und fragte, ob ich Zigaretten oder Kautabak hätte.

Ich schüttelte den Kopf.

Er sagte: »Na klar. Hab ich mir schon gedacht.«

»Du denkst du wirklich, ich bin eine Pussy, stimmt’s?«

Chas stierte mich unverwandt an wie ein Nashorn oder etwas ähnlich Bedrohliches, und während er knapp einen Meter vor mir seinen Schwanz wieder in der Thermounterhose verstaute, sagte er: »Fuck. Du? Du bist so ziemlich der unpussigste Kacksack von Winger, den ich im Leben je auf einem fuck Rugbyfeld gesehen habe. Ich schätze mal, die Hälfte von dem Pupsgewicht, das du auf die Waage bringst, sind deine Eier. Winger.«

Ich nickte.

Da wünschte ich, ich hätte eine Zigarette für ihn gehabt.

Wir gingen um den See herum Richtung Stonehenge.

Es fing an zu schneien, und wie häufig im pazifischen Nordwesten fiel der Schnee in unangenehmen schweren Klumpen, die einen bis auf die Haut durchnässen. In der Nähe von Stonehenge stießen wir auf zwei Forst-Ranger. Sie waren ganz aufgeregt, als sie uns sahen, und sie zückten die Fotokopien von Joeys Passbild, die sie mithatten, und hielten sie zwischen sich und uns, als wären sie eine Art Prisma, das Lüge von Wahrheit trennen konnte.

Nichts.

Aber wir suchten weiter.