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Seanie und JP saßen zusammen im Speisesaal. Sie waren schon beim Nachtisch, oder vielleicht bestand ja ihr ganzes Abendessen ausschließlich aus Nachtisch.

Eine der wenigen guten Sachen an der PM war das Essen. Niemand hinderte einen daran, sich ungesund zu ernähren. Allerdings hatte unser Rugbyteam einen »Physio« (so nannten wir den Ernährungsberater-Schrägstrich-Arzt), und während der Saison durften wir nur bestimmte Sachen essen und trinken, und von November bis Mai überwachte er den Speisesaal.

Ich hatte bis dahin einen so rundum verkackten Tag gehabt, dass der Anblick von JP und Seanie meine Stimmung auch nicht sonderlich hob. Obwohl ich mich zu ihnen gesellte, fühlte ich mich ausgeschlossen. Mir war, als könnte ich ihnen nicht erzählen, wie sehr mich diese ganze Geschichte mit Annie mitnahm. Wir waren zwar in einer Klasse und machten halbwegs den gleichen Kack durch, aber Seanie und JP hatten mir zwei Jahre und ein entsprechend höheres Selbstbewusstsein voraus. Deshalb redete ich mir vergeblich ein, meine Freunde könnten vielleicht darüber hinwegsehen, dass ich erst vierzehn war, auch wenn ich es nicht konnte.

»He. Da bin ich«, sagte ich.

»Wird auch Zeit, Winger«, sagte JP. »Ich glaube nicht, dass mir diese neue Wohnsituation gefällt. Seanie und ich meinten gerade, dass wir nach dem Nachtisch gehen.«

Ich setzte mich mit meinem Teller Tacos und Salat ihnen gegenüber. Ich hielt im Saal nach Annie Ausschau. Sie war nicht da. Unter den gut hundert Schülern, die zu Abend aßen, sah ich Chas mit Megan weiter hinten bei den Zwölftklässlern sitzen. Das mit Megan kapierte ich nicht. Sie war voll intelligent; sie hatte wie ich den Kurs Höhere Analysis belegt, und Chas konnte kaum zählen.

Megan Renshaw benutzte Chas Becker, als hätte sie mit ihm ein Paar Asse auf der Hand. Sie wusste, was sein Alphastatus in Gruppenzusammenhängen wert war, aber in den höheren Kursen war allen klar, wie unverhohlen Megan Renshaw für intelligente und sensible Jungen schwärmte, die in den Wolfsrudeln mit den Chas Beckers der Welt an der Spitze keinerlei Paarungsrechte hatten.

Das war noch ein Grund, weshalb ich Megan Renshaw so unfassbar heiß fand. Sie machte Losern wie mir Hoffnung.

JP hatte die gestreifte Beanie auf, ohne die man ihn niemals sah, und sie wie immer so weit über die Ohren gezogen, dass sich nur die letzten drei oder vier Zentimeter seiner welligen hellen Haare über den Augen kringelten. Er war so beliebt wie intelligent und schien einfach von einem Mädchen zum andern zu wandern, ohne es je im Geringsten ernst zu nehmen.

»Na, ich hole mir noch einen Nachschlag«, sagte Seanie. »Also mach dir keinen Stress, dass du spät dran bist, Ryan Dean.«

»Alter«, sagte ich, »ich glaube wirklich, Betch wollte mir gerade den Kopf abreißen.«

Ich erzählte ihnen von meinem Lauf zum Buzzard’s Roost, behauptete aber, Annie und ich wären den ganzen Weg gemeinsam gelaufen. Sie hörten sich meine Geschichte über unsere Kreisbegehung in Stonehenge kommentarlos an. Ich wusste durchaus, dass sie irgendwie eifersüchtig waren. Keiner von uns hatte eine Freundin, und uns war allen klar, wie unerreichbar – und heiß – Annie Altman war. Ich beendete die Geschichte wohl oder übel mit meiner Rückkehr zur O-Hall und einem stinksauren Chas Becker.

»Das schaffst du nie, dass du bis zum Ende des Halbjahres überlebst«, lautete JPs Schluss.

»Habt ihr mal Betchs MySite gesehen?«, fragte Seanie.

Wir blickten ihn beide an. Seanie war der totale Videospiel-Internet-Nerd und hatte sehr was von einem Stalker. Ich vermute, er sah uns an, was wir beide dachten, denn er sagte in leicht verwundertem Ton: »Was jetzt? Habt ihr nun Betchs MySite gesehen oder nicht?«

»Ich nicht«, sagte ich.

»Ich auch nicht«, fügte JP hinzu.

»Da kann man das Gruseln kriegen«, sagte Seanie. »Nichts drauf als Bilder von Betch. Fast auf jedem ist Betch ohne Hemd zu sehen. Betch als Hintergrundbild. Betch vor einem Badezimmerspiegel. Ein Betch-Kalender zum Downloaden, den ich mir übrigens downgeloaded und ausgedruckt und bei uns im Zimmer liegen habe … nur für den Fall, dass sich mal die perfekte Gelegenheit ergibt. Und dann noch die ganzen Bemerkungen darüber, was Betch für ein Potenzbolzen ist. Ich habe einen Scheinaccount mit dem Bild eines heißen Mädchens angelegt, damit ich ihn dazu kriegen kann, sich mit mir anzufreunden.«

»Du bist echt krank, Seanie«, sagte ich.

»Ich weiß.« Seanie grinste, als ob er uns in ein dunkles Geheimnis einweihte.

Dann sagte JP: »Manchmal liege ich nachts wach und stelle mir vor, wie grässlich mein Leben sein könnte, wenn du was gegen mich hättest, du«, kurze Pause, »Stalker.«

Ich biss von einem Taco ab. »Vielleicht sollte das sein neuer Spitzname werden.«

Seanie starrte uns einfach mit seinen unbewegten Stalkeraugen an. Er hatte einen so abartigen Humor wie sonst kaum jemand, den ich kannte, denn man wusste nie so genau, ob er bloß rumblödelte oder ob man sich wirklich vor ihm fürchten sollte. So oder so war es ganz gut, dass Seanie unser Freund war.

»Alter, überhaupt, du musst uns dann erzählen, was beim Pokern abgeht«, sagte JP.

»He«, sagte Seanie, »ich könnte dir mein Betch-Kartenspiel leihen.«

Er sagte das, ohne die Miene zu verziehen, aber es musste ein Witz sein.

Mit ausdruckslosem Gesicht und totenstarren Augen atmete Seanie aus, stand auf und sagte: »Ich geh mir noch eine Portion Eis holen.«

Ich sah Seanie nach, wie er durch den Speisesaal ging und kurz stehen blieb, um etwas zweifellos Schräges und Krankes zu einer Gruppe Neuntklässler zu sagen, und JP grinste nur und schüttelte den Kopf. In dem Moment sah ich Annie hereinkommen. Sie hatte ihre Zimmergenossin Isabel Reyes bei sich, die auf ihre zarter-Damenbart-auf-der-Oberlippe-mäßige Art ebenfalls ziemlich heiß war. Annie lächelte und winkte mir zu, und ich winkte zurück. JP saß einfach da und beobachtete, wie ich sie beobachtete.