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Nachtruhe war jeden Abend um zehn, nur freitags und samstags nicht, da durften wir bis Mitternacht aufbleiben. Meistens hingen wir im Gemeinschaftsbereich ab, wo wir keine Uniform tragen mussten, sondern einfach im T-Shirt rumlaufen konnten, wenn wir wollten, und guckten bis zur Schlafenszeit fern. In den normalen Häusern gab es für je zwei oder drei Zimmer einen Gemeinschaftsbereich, aber in der O-Hall gab es nur ein einziges Fernsehzimmer für die ganze Etage, und zu dem Zeitpunkt wohnten wir zu zwölft dort, neben Mr Farrow und Mrs Singer, die das Wohnzimmer im Erdgeschoss ganz für sich allein hatte, da aktuell keine Mädchen in der O-Hall waren.

Daher gingen wir alle auf unsere Zimmer, als der Fernseher um zehn abgeschaltet wurde. Ich schloss hinter uns die Tür und sah dabei, dass Chas schon ein Kartenspiel bereitgelegt hatte (normale, keine »Betch«-Karten, die es bestimmt gar nicht gab, es sei denn, Seanie hätte sie selber gemacht, was ihm durchaus zuzutrauen wäre), außerdem lag auf einem der Schreibtische ein Koffer mit Pokerchips, dreizehn Gramm schwer. Profiqualität.

Ich gebe zu, dass mir bei dem Gedanken an Chas’ Pokerrunde ein wenig mulmig war. Ich wollte wirklich nicht schon am Tag minus eins meines elften Schuljahrs an der Pine Mountain Stress kriegen.

In dem nervösen Versuch, Konversation zu machen, deutete ich auf den leeren Schreibtisch.

»Soll das mein Schreibtisch sein?«, fragte ich.

»Ja, klar«, sagte Chas sichtlich ohne jedes Interesse, sich auf ein Gespräch mit seinem neuen Zimmerkameraden einzulassen. »Wurscht. Mach das Licht aus und geh ins Bett.«

»Aha. Okay.«

Ich machte das Licht aus und begann mir die Hose auszuziehen.

»Was soll das, du Depp?«, flüsterte Chas. »Lass die Sachen an. Wir wollen pokern, Stinksack.«

Ich hatte wirklich gedacht, wir würden zu Bett gehen.

Ich zog mir die Hose hoch.

»Ah ja. Klar. ’tschuldigung.«

Ich stieg da nicht ganz durch, aber eines wusste ich: Wenn Chas wollte, dass ich meine Sachen anließ, dann ließ ich sie an. Ich kletterte auf das obere Bett und schlief sofort ein.

Ich erwachte vom grellen Strahl einer Taschenlampe, der mir in die Augen stach. Joey Cosentino zog eines meiner Augenlider hoch und flüsterte: »Nö, er lebt noch.«

Ich brauchte einen Moment, um zu kapieren, wo ich war und was abging. Ich guckte auf die roten Ziffern des Digitalweckers. Es war Mitternacht. Genau gesagt 12:04.

Die fangen um Mitternacht an zu spielen, wenn früh am Morgen Schule ist?

»Wach auf, Bubi. Ich dachte, du wolltest spielen«, sagte Chas.

Ich setzte mich auf.

Wir waren zu viert: ich, Chas, Joey und Kevin Cantrell. Die drei Knaben, mit denen ich spielte, waren alle in der letzten Klasse. Das machte es irgendwie besonders mulmig. Ich schwang die Beine über die Bettkante und sprang mit weichen Knien hinunter.

Chas zog von jedem zwanzig Dollar ein und legte das Geld in den Chipkoffer. Er teilte Chips aus und erklärte die Einsätze. Gespielt wurde Hold ’Em. Ich rieb mir die Augen. Die andern machten einen hellwachen Eindruck, als ob Mittag wäre oder so. Ich strich mir über die Haare, aber sie wollten sich so wenig legen wie sonst.

Sie hatten ein Handtuch unten vor die Türritze gelegt und ein anderes oben vor das komische Kippfenster gehängt, damit niemand sah, dass bei uns im Zimmer Licht brannte.

Keiner von uns hatte Schuhe an. Kevin und Joey mussten im Flur an Farrows Tür vorbei und daher natürlich so leise wie möglich schleichen. Ich hatte meine Schuluniformhose an, dazu meinen Gürtel, aufgeschnallt und halb nach hinten gerutscht, und ein zerknittertes T-Shirt. Chas war noch vom Abendessen in seinem Uniformhemd, aber ohne Schlips, und Joey und Kevin hatten lockere Trainingshosen und T-Shirts an. Dabei fiel mir auf, dass sie komischerweise auch ihre schwarz-blauen Rugby-Ringelsocken trugen, und ich dachte: Gott, entweder die beiden sind echt bescheuert, oder sie können es einfach nicht erwarten, dass die Saison beginnt.

Wir saßen uns auf dem kühlen Linoleumfußboden gegenüber, Chas an das untere Bett gelehnt. Der Platz am Boden reichte gerade so für uns aus, und die drei andern waren die reinsten Kolosse. Kevin spielte neben Chas Lock und war auch genauso groß wie er, und Joey, der eins fünfundachtzig war, war als Fly-half mit der Nummer zehn der zentrale Mann in der Hintermannschaft, was ungefähr dem Quarterback im American Football entspricht. Im Training und in Spielen hatte ich daher mehr mit Joey zu tun, da wir beide zur Hintermannschaft gehörten, und ich kam gut mit ihm aus und vertraute ihm. Es machte mir auch nichts aus, dass Joey schwul war.

Alle im Team wussten, dass Joey schwul war, aber niemand hatte ein Problem damit. Er machte daraus kein Geheimnis, und deshalb akzeptierten ihn alle, außerdem redete und verhielt er sich nicht wie die stereotypen Schwulen, die für die Leute im Allgemeinen bloß Witzfiguren sind. Aber mal ehrlich, wer verhält sich schon so?

Das ist noch so eine der Sachen beim Rugby: Ich glaube, weil es so eine Randsportart ist, die schon ans Wahnsinnige grenzt, halten Rugbyspieler meistens fester zusammen und tolerieren sich gegenseitig mehr als die Jungen in anderen Sportarten. Klar, manchmal rissen die andern Witze hinter Joeys Rücken, manchmal auch in seinem Beisein, aber das machten sie mit ausnahmslos jedem Spieler im Team, und ob man nun schwul oder unkoordiniert oder meinethalben auch erst vierzehn und in der elften Klasse war, spielte dabei eigentlich keine große Rolle, denn die Chancen, zur Zielscheibe gutmütiger Sticheleien zu werden, waren absolut gleich verteilt. Aber niemand in unserem Team nahm das je richtig krumm.

Chas war die Ausnahme im Team. Vielleicht war er nur deshalb immer so stinkstiefelig, weil er merkte, dass er sich nicht besonders gut einfügte, und das irgendwie überkompensieren musste, vielleicht fanden sich die andern und der Trainer auch bloß mit seiner kolossalen Arschlöchigkeit ab, weil er ein super Spieler war.

Ich gähnte und schlug die Beine auf Indianerart übereinander, während wir die ersten Einsätze in den Pot warfen und Chas die Karten mischte. Nein, die Karten waren ohne Betchbilder.

Chas beäugte Joey und Kevin und sagte: »Habt ihr die Erfrischungen mitgebracht?«

»Klaro.« Kevin grinste, und dann streckten er und Joey die Beine aus, so dass ich ihre Socken praktisch im Gesicht hatte, und zogen die Beine ihrer Trainingshosen hoch. Da wurde mir klar, warum sie die Rugbysocken anhatten. Beide hatten an jedem Bein zwei hohe Bierdosen in ihre Ringelstrümpfe gewürgt.

Als sie die Strümpfe runterkrempelten und neben uns auf dem Fußboden einen kleinen Altar aus acht 0,7-Liter-Bierdosen errichteten, wurde mir richtig mulmig … denn acht ist nicht durch drei zu teilen, und ich hatte im ganzen Leben noch nie einen Schluck Alkohol getrunken.

Wenn es nun mein Wachstum hemmte?

»Sie sind auch noch ziemlich kalt«, sagte Joey. Er war offensichtlich der amtliche Bierverteiler. Er reichte Chas eine Dose, dann Kevin, dann nahm er eine vom Altar und neigte sie mit einem ruhigen und festen Rugbyblick in meine Richtung.

»Ich hab noch nie im Leben getrunken«, sagte ich.

»Schon gut, Winger«, sagte Joey. »War bloß ein Angebot. Verstehe ich.«

Ich war unheimlich erleichtert, und ich mochte Joey in dem Moment noch lieber, natürlich auf eine total unschwule Art, weil ich das Gefühl hatte, dass er für mich eintrat.

Chas und Kevin hatten ihr Bier schon auf und tranken vor dem ersten Geben, und Joey nahm das Bier, das er mir angeboten hatte, und ploppte es für sich selbst auf. Da langte Chas über unsere kleine Pokerrunde hinweg, griff sich eine Bierdose von Joeys Aufbau, zog die Lasche auf, so dass ich hören und riechen konnte, wie das Bier aus der Dose quellen wollte, und stellte sie neben mein Knie.

»Wird Zeit, dass du wenigstens mal biermäßig entjungfert wirst, Winger«, sagte er. Er streckte seine erhobene Dose in die Mitte und sagte: »Prost.«

Alle stießen wir an. Sechs Augen beobachteten mich, und ich schloss meine, so fest ich konnte, und nahm meinen allerersten Schluck Bier.

Während Chas die Karten austeilte, stürzten mehrere Eindrücke gleichzeitig auf mich ein:

  1. Der Geschmack. Wer trinkt denn so eine Pisse, wenn er Durst hat? Das kann doch nicht wahr sein, oder? Echt jetzt … das kann nicht wahr sein.
  2. Kleines bisschen Kotze hinten im Rachen. Es steigt in die Nasengänge. Es brennt höllisch, und jetzt riecht auch alles voll nach Kotze. Schick. Echt schick.
  3. Ich hab Schiss. Ich bin fest überzeugt, dass gleich was ganz Grauenhaftes mit mir passieren wird. Ich stelle mir Mom und Dad und Annie (in Schwarz ist sie einfach zu heiß) auf meiner Beerdigung vor.
  4. Mom und Dad? Ich mache mir schreckliche Vorwürfe, dass ich sie enttäuscht habe und mit vierzehn schon ein toter Jungalkoholiker bin.
  5. Aus irgendeinem Grund gucken Chas, Joey und Kevin mich alle an und grinsen so verstohlen, wie sie es hinkriegen.
  6. Juhuu! Chas hat mir ein Bubenpaar gegeben.

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Eine Stunde später hatte ich ein ganzes Bier ausgetrunken. Ich musste so dringend pinkeln, dass ich schon Tränen in den Augen hatte. Ich wusste nicht mehr, wie meine Telefonnummer zu Hause war – ich weiß nicht, warum mir das wichtig war, ich weiß nicht einmal, warum ich mir in Gedanken die Frage stellte: He, Ryan Dean West … welche Telefonnummer hast du zu Hause?, aber die Erkenntnis: Ich habe meine Telefonnummer vergessen, machte mich fix und fertig – und ich war auch der erste Spieler, der alle seine Chips los war.

Gegen zwei Uhr morgens war das Spiel zu Ende. Joey hatte allen das Geld abgeknöpft, was ihm das Recht gab, die Strafe zu bestimmen.

Genau … die Strafe.