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Gott sei Dank hatte es nichts mit nackt ausziehen zu tun.
Und abermals Gott sei Dank hatte es etwas mit pinkeln zu tun.
Ich musste so dringend pinkeln, dass ich in einem halb katatonischen Zustand hin und her schaukelte, die Hand zwischen die Beine gepresst.
Dann sagte Joey zu mir: »Du musst Folgendes tun, Ryan Dean. Eher eine leichte Übung. Du musst nur nach unten ins Erdgeschoss gehen und im Mädchenklo pinkeln.«
»Aber Mrs Thinger ist da unten.«
(Ihr richtiger Name fiel mir nicht ein.)
»Singer«, verbesserte Chas.
Ich schaukelte. Ich dachte, er meinte, dass ich auch singen müsste. Von mir aus. Mir war irgendwie nach Singen zu Mute.
O ja, 64,5 Kilo Lebendmasse können ziemlich dämlich werden, wenn man 0,7 Liter Bier hineinkippt.
»He«, sagte ich, unverdrossen in meiner Dämlichkeit, »weiß einer von euch meine Telefonnummer zu Hause? Ich glaube, es ist eine Vierundzwanzig drin.«
In dem Moment hatte, glaube ich, alles in meinem Universum eine Vierundzwanzig drin.
»Mach schon, du Spasti, bevor du dir in die Hosen pisst«, sagte Kevin, fasste mich unter die Achseln und zog mich hoch. Mir war, als stände ich auf Schlittschuhen, und beinahe wäre ich hingefallen, aber Chas stand direkt hinter mir und hielt mich fest.
»He, danke«, sagte ich. »Ihr seid wirklich spitze.«
Ich hätte jedem von ihnen die Hand gegeben, aber ich traute mich nicht, meinen Schniedel loszulassen.
Sie knipsten die Taschenlampe aus und schoben mich zur Tür.
»Weißt du noch, was du tun musst?«, sagte Chas.
»Klar«, sagte ich zuversichtlich. »Was?«
»Unten im Mädchenklo pinkeln gehen«, erinnerte mich Joey.
»Ja, genau«, sagte ich. »Und singen.«
Ich weiß nicht genau, wo ich das mit dem Singen herhatte, aber Chas, Joey und Kevin wollten mich nicht daran hindern, meine Blödsinnigkeit noch zu steigern.
»Mach schon«, flüsterte Chas und schob mich zur Tür hinaus. »Und ich rate dir, mach es wirklich, denn wir kommen hinterher.«
»Ihr seid so was von klasse«, sagte ich, und alle drei machten »Pssst!«, während wir durch den unbeleuchteten Flur zur Treppe schlichen.
Bei jedem Schritt, den ich tat, fühlte ich mich wie ein zum Platzen voller Wasserballon. Ich war fest überzeugt, ich würde gleich explodieren und Pisse und Gedärme über die ganze Treppe verspritzen. Aber so weh es auch tat, mich zu bewegen, jeder Schritt brachte mich der Erleichterung näher.
Ich schwitzte wie ein Heroinschmuggler an einem Grenzübergang, als wir vorsichtig die Tür zur mädchenlosen Mädchenetage öffneten. Ich schlitterte in meinen Socken den staubfreien Linoleumflur hinunter. Es war ein schönes Gefühl an den Füßen, so schön, dass ich fast gelacht hätte, aber so dumm, das zu tun, war ich auch wieder nicht. Chas, Joey und Kevin gingen außen um das Gebäude herum. Sie schärften mir ein, das Fenster aufzumachen, sobald ich im Waschraum war, damit sie mir helfen konnten abzuhauen, falls es nötig werden sollte.
Und ich dachte, kein Wunder, dass ich meine Telefonnummer zu Hause nicht mehr weiß (aber es bedrückte mich trotzdem), weil ich im Geiste ein Kuchendiagramm für die Ryan-Dean-West-Hirnkapazitätsnutzung zeichnete, das folgendermaßen aussah:
So ungefähr. Ein Wunder, dass ich nicht zu atmen vergaß.
Ich bin voll der Loser.
Ich fand den Waschraum. Als ich hineinging und die Tür schloss, streckte ich die Hand aus, um das Licht anzuknipsen, aber der Schalter war links statt rechts wie im Jungenwaschraum, und das gab mir Zeit zu erkennen, wie dumm es gewesen wäre, das Licht anzumachen.
Aber betrunken oder nicht, wenigstens war ich schlau genug, die Tür hinter mir abzuschließen.
Dann dachte ich: Wow, das ist echt ein schöner Waschraum, so sauber und fleckenlos, mit schönen sauberen Vorhängen vor den Duschkabinen. Er war so schön, dass ich mir fast wünschte, mich auf den kühlen, sauberen Boden zu legen und ein Nickerchen zu machen. Aber ich musste so dringend pinkeln! Also drehte ich mich zur Wand gegenüber den Duschen um und zog hastig den Reißverschluss auf.
Die Urinale waren fort!
Gibt’s nicht.
Und wie ich da halb blankgezogen mit offener Hose stand, musste ich gleich noch viel dringender pinkeln. Ich hätte buchstäblich fast zu weinen begonnen. Da hörte ich ein Kratzen am Fenster und lief hin und klinkte die Hebel auf.
Chas drückte das Fenster hoch und schob den Kopf hinein.
Mir rutschte die Hose bis auf die Füße.
Ich stieß eine Kabine auf.
Die verdammte Klobrille war unten!
Sehr bedauerlich. Ich konnte mich jetzt nicht mit zarten Rücksichten abgeben, wie eine Klobrille hochzuklappen (wofür ich etwa seit meinem siebten Lebensjahr nicht mehr angebrüllt worden war).
Eilige Mutter Gottes, war das schön zu pinkeln. Das war nicht bloß pinkeln, das war mehr: Es war der höchste Pinkelhimmel, es war Zen-Bogenschießen, aber mit einem Pissestrahl statt mit Pfeil und Bogen.
Und es war so laut und klang so melodisch, was mich daran erinnerte, dass ich singen sollte. Mann, der Strahl würde sowieso nicht vor Morgengrauen nachlassen. Das natürliche Geräusch des Zen-Pinkelns war bestimmt allein schon laut genug, um Mrs Singer, die Erzieherin auf der Mädchenetage, aus dem Schlaf zu reißen, aber mit dem Lied meiner Wahl war das endgültig todsicher.
Ich fing an, das Rugbylied »Proper Ranger« zu singen, dessen Text einige der geschmacklosesten Schilderungen von Geschlechtsakten enthält, die man sich vorstellen kann. Dabei taugen die Reime nicht einmal besonders, weil sich auf einige der verwendeten Wörter einfach nicht so richtig was reimt. Die Sache mit dem Lied ist allerdings die, dass dafür Gruppenzwang besteht, mit andern Worten, wenn du Rugbyspieler bist und ein anderer Rugbyspieler fängt an, es in deinem Beisein zu singen, musst du mitsingen … und deshalb fielen Chas, Joey und Kevin alle im richtigen Moment ein, während ich mich weiter um die Freisetzung meines unaufhaltsamen Pinkelschwalls verdient machte.
Und wie im Zen fügte sich am Ende eins zum andern. Ich schlenkerte nach, zog die Hose hoch (scheiterte allerdings an den Tücken des Reißverschlusses), das Lied endete (mit Worten, die ich hier nicht wiederholen will), und die höchst unheiße Mrs Singer rüttelte an der Türklinke und begehrte heftig bummernd Einlass.
»Was machst du da drin?«, herrschte sie mich durch die Tür an.
Dumme Frage, dachte ich und musste kichern. Wer im Umkreis von fünfzig Metern kriegte nicht mit, was ich da drin machte, ob die Tür nun auf war oder zu?
Bumm bumm bumm.
»Wer ist da drin?«
Da sagte Chas: »Mach schon, Winger!«
Und gerade als Chas und Kevin mich bei den Handgelenken packten und durchs Fenster zogen, hörte ich die über-die-Maßen-unheiße-und-garantiert-immer-schon-unheiß-gewesene Mrs Singer durch die Tür sagen: »Ich belege dich mit einem Durchfallfluch.«
Na ja, ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, aber so hörte es sich für mich jedenfalls an.
Ich plumpste kichernd in ein Büschel Farne unter dem Fenster.
»He. Wo sind meine Schuhe?«, fragte ich. Ich betrachtete meine Füße, mit denen ich mich an der Blockhauswand der O-Hall abstützte.
Jaja, ich war ultrabescheuert.
»Du hattest gar keine an, du Spasti«, flüsterte Chas.
»Warum bin ich dann nach draußen gegangen, wenn ich keine Schuhe anhabe?«
Es war, als hätte ich alles vergessen, was in den zwei Stunden davor geschehen war, und wollte nun gern ein Gespräch darüber führen, um die Gedächtnislücken zu stopfen. Ich merkte, dass das Kuchendiagramm meiner Hirnaktivität eine leere Springform war. Nicht einmal ein Krümel vom Kuchenrand war noch in diesem Schädel übrig.
Zum Glück hatte ich meine Teamkameraden, die auf mich aufpassten.
Na ja, wenigstens hatte ich Chas, denn Joey und Kevin hatten bereits die Außenwand der O-Hall erklommen und sich durch ihr Fenster gezwängt.
»Mach schon, Winger. Wir müssen los«, sagte Chas. Er begann, an den Eckbalken im Erdgeschoss hochzuklettern, und flüsterte über die Schulter: »Ich werde dich nicht tragen, also schwing dich auf, oder du bist am Arsch.«