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Alle Jungen aus der O-Hall gingen vor mir los. Bestimmt genossen sie ihr Joghurt und unterhielten sich über ihre Kurse oder darüber, wie Ryan Dean West sich in der Nacht betrunken und sein Leben ruiniert hatte.
Irgendwie schaffte ich es, mich anzuziehen: graue Strümpfe, hellbraune Hose, langärmliges weißes Hemd, schwarz-blau gestreifter Schulschlips, dunkelblauer Pullunder, schwarze Schuhe. Und ich dachte, was für eine blödsinnige Energieverschwendung, denn die erste Stunde war Konditionstraining 11M (sprich, für Schüler männlichen Geschlechts in der elften Klasse), und dafür musste ich diese ganzen blödsinnigen Klamotten umgehend wieder ausziehen, aber an der PM durfte man sich während der Schulzeit ohne die korrekte Uniform auf dem Campus nirgends blicken lassen.
Ich dachte daran, zum Arzt zu gehen, denn ich musste noch zweimal aufs Klo, bevor ich vollständig angezogen war, aber ich hatte Angst, der Arzt würde feststellen, dass ich ein Vierzehnjähriger mit Alkohol im System war, und das Risiko wollte ich denn doch nicht eingehen. Also beschloss ich, die Zähne zusammenzubeißen, wie Annie es mir geraten hatte, und die Sache durchzustehen, selbst wenn ich mich fühlte, als ob ich krepieren würde.
Ich achtete diesmal darauf, dass unser Zimmer absolut sauber war und die Betten gemacht, bevor ich mir Stundenplan und Rucksack schnappte. Es war 7:45. Ich fragte mich, was Chas mit den ganzen Bierdosen gemacht hatte, und allein bei dem Gedanken merkte ich schon, dass ich mich gleich noch einmal auf die Toilette begeben musste.
Als ich unten im Erdgeschoss durch die Flügeltür in den großen Vorraum der O-Hall trat, sah ich die vor-lauter-Unheißheit-im-verkaterten-Zustand-überhaupt-nicht-auszuhaltende Mrs Singer direkt hinter dem Fenster in der Tür zur mädchenlosen Mädchenetage stehen und die Scheibe anatmen, die Arme über den verschrumpelten Brüsten verschränkt. Sie beobachtete mich beim Hinausgehen.
Nichts auf der Welt konnte mich in dem Moment davon überzeugen, dass sie nicht wusste, welcher kranke Schweinehund Schuld hatte, dass sie fünf Stunden zuvor wach geworden war.
Sie musste es wissen!
Ich raste zur O-Hall hinaus, was ein Fehler war, denn die Geschwindigkeit hatte zur Folge, dass mir schon wieder übel wurde.
Ich hielt den Kopf gesenkt, während ich durch die Scharen uniformierter Schüler ging, die auf dem Haupthof zusammenstanden, und mir die ganzen Brechreiz erregenden Gerüche brandneuer Klamotten, brandneuer Schulrucksäcke, brandneuer Schuhe und gegelter Haare in die Nase stiegen. Ich kam mir vor wie ein gefangener Käfer in einem Kaufhausbeutel. Mir war, als wüsste jeder einzelne der achthundert Schüler an der PM darüber Bescheid, was ich in der Nacht getan hatte und was für ein Loser ich war, deshalb konzentrierte ich mich einfach auf den Weg, der mich zur Umkleide in der Sportanlage führen sollte.
Ich schwankte der ersten Schulstunde entgegen und ging dabei innerlich meinen Stundenplan durch:
- Konditionstraining 11M. In dem Kurs waren auch Seanie und JP.
- Höhere Analysis. Die zum Fürchten heiße Megan Renshaw und Joey Cosentino, der wusste, was für ein »Stinkarsch« ich war, waren beide in dem Kurs.
- Makroökonomie. Zweite Stunde mit Megan und Joey.
- Amerikanische Literatur. Die ultraheiße Annie. Ach, und JP.
- Mittagspause. Ich konnte mir ein schattiges Plätzchen abseits von meinen Freunden zum Sterben suchen.
- Mannschaftssport. Der erste Tag Rugby, ein möglicher Grund, aus dem Grab der Mittagspause aufzuerstehen.
»He! West! Warte!«
Es war zu spät, um einfach den Kopf zu senken und so zu tun, als hätte ich sie nicht bemerkt. Annie kam hinter mir her gerannt, unglaublich perfekt in ihrem Schulrock. Ich wusste, dass ich voll schuldbewusst guckte, als ob ich mich ihr gegenüber falsch verhalten hätte. Es ging mir schlecht. Und ich hätte am liebsten geweint, als ich sie sah, obwohl ich keine Ahnung hatte, warum.
»Wo warst du? Ich habe dich heute Morgen gesucht«, sagte sie. Dann bemerkte ich, wie sich ihr Ausdruck veränderte, als sie nahe genug war, um meine Augen zu sehen.
»Tut mir leid, Annie. Mir geht’s echt dreckig.«
»O mein Gott, Ryan Dean, du siehst schrecklich aus!«
Es war ein wunderbares Gefühl, von ihr beim Vornamen genannt zu werden.
Ich seufzte. »Danke für die Blumen.«
Ich schaute auf meine Uhr. Es gab keine Schulglocke an der PM. Man musste einfach erscheinen, wo und wann man zu erscheinen hatte. Es war 7:55.
»Vielleicht solltest du zum Arzt gehen«, sagte sie. »Was fehlt dir?«
»Wird schon gehen«, sagte ich. »Ich wollte nicht gleich am ersten Tag fehlen. Ich bin eh schon spät dran zum Sport. Wir sehen uns in Literatur, okay?«
Ich wandte mich ab, und sie strich mir über die Haare und sagte: »Gute Besserung.«