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Auf dem Weg in die Analysisstunde war mir, als würde der Durchfallfluch samt Kater langsam abklingen, aber dadurch merkte ich auch, dass ich mich unbedingt wieder schlafen legen musste. Den einzigen richtigen Schlaf in der Nacht hatte ich bekommen, als ich kurz einnickte, bevor das Spiel überhaupt losging.
Ich war jedoch noch nie im Unterricht eingeschlafen, und ich hatte zwei grässliche Befürchtungen, was mir in dem Fall passieren würde. Erstens würde ich von der Hexe im Erdgeschoss träumen (nach zwei weiteren Klogängen – Ich werde zusammenklappen! Ich muss dreißig Prozent meines mickerärschigen Körpergewichts verloren haben! – war ich der festen Überzeugung, dass Mrs Singer wirklich und wahrhaftig eine Hexe war), und zweitens würde sich meine Haftzeit in der O-Hall verlängern. Nach dieser Nacht begriff ich, dass ich dort rausmusste, bevor die Warnungen meiner Freunde wahr wurden und es Chas gelang, ein Arschloch aus mir zu machen.
Als ich auf dem Korridor der Analysis-Ödnis entgegenschlich, konnte ich gar nicht vermeiden, über das Thema nachzudenken. Dabei ging mir auf, dass außer mir (dem Handyhacker) und drei notorischen Schwänzern die meisten wegen Schlägereien in der Opportunity Hall brummten. Acht von uns zwölfen hatten sich geprügelt: fünf Footballspieler, außerdem Kevin, Chas und Joey.
Wenn man von einem schwören würde, dass er sich niemals prügelt, dann wäre es Joey. Ich hatte ihn nie danach gefragt, aber ich dachte mir, dass irgendeiner ihn provoziert haben musste und er sich dann gewehrt hatte. Wahrscheinlich.
Und weil die Höhere Analysis in Mathe so ziemlich das Ende der Fahnenstange ist (es sei denn, man macht noch Statistik, was ich mir für die zwölfte vorgenommen hatte), waren nur acht Schüler im Kurs. Ich trat als Letzter ein.
So viele Bänke waren leer. Der Druck, mich für einen Platz zu entscheiden, machte mich völlig fertig. Und jeder Einzelne in dem verdammten Zimmer, sogar die Lehrerin Mrs Kurtz, die auf ihre Lois-Lane-mit-Brille-mäßige Art auch nicht unheiß war, schien sich die Ryan Dean West Show anzuschauen und den inneren Dialog mitzukriegen, der sich in meinem bematschten, durchfalldehydrierten Brummschädel abspielte:
RYAN DEAN WEST 1: Setz dich ganz hinten hin. Dicht an die Tür.
(Ryan Dean West guckt auf die einsame Bank neben der Tür.)
RYAN DEAN WEST 2: Alter, da wären … drei … vier … fünf leere Bänke zwischen dir und dem nächsten andern. Alle werden denken, du wärst ein armseliger vierzehnjähriger Loser ohne jede soziale Kompetenz.
RYAN DEAN WEST 1: Na und? Sind wir doch auch.
(Ryan Dean West lässt sein Analysisbuch fallen. Es wiegt fast so viel wie er. Unterdrücktes Gelächter unter den Schülern im Raum. Er wird rot.)
RYAN DEAN WEST 2: Wirst du etwa rot? Du bist voll der verfickte Loser.
(Ryan Dean West hebt das Buch auf.)
MRS KURTZ: Wie wär’s, du kommst nach vorn und setzt dich zu den andern?
RYAN DEAN WEST 1: Wie zum Fuck ist die in das Stück gekommen?
RYAN DEAN WEST 2: Keine Ahnung, aber sie ist ziemlich heiß.
(Ryan Dean West betrachtet die Plätze weiter vorn.)
RYAN DEAN WEST 2 (weiter): Wenn du dich neben Joey setzt, könnten die andern denken, du wärst schwul.
RYAN DEAN WEST 1: Sie könnten auch denken, dass ich selbstsicher bin und mit meiner Sexualität im Reinen.
RYAN DEAN WEST 2: Alter, »Ryan Dean West«, »selbstsicher« und »Sexualität« sind unvereinbare Größen, die nicht gleichzeitig in ein und demselben Universum vorkommen können. Das könnte ein schwarzes Loch verursachen oder so.
RYAN DEAN WEST 1: Fick dich. Ich setze mich neben Joey.
RYAN DEAN WEST 2: Hast du etwa ein schlechtes Gewissen, weil Seanie der Stalker sich über sein Schwulsein lustig gemacht hat?
RYAN DEAN WEST 1: Ich habe kein schlechtes Gewissen. Und ich werde mich neben ihn setzen. Es ist mir egal, was du denkst oder sonst jemand, denn du weißt ganz genau, dass ich nicht schwul bin.
RYAN DEAN WEST 2: Volltreffer! Direkt hinter Megan Renshaw (fünf von fünf überwürzten Hühnerpasteten auf der Ryan-Dean-West-Scharfheitsskala). Vielleicht streift sie zufällig mit den Haaren über deine Hand.
RYAN DEAN WEST 1: Hühnerpasteten? Überwürzt?
RYAN DEAN WEST 2: Wurscht.
(Ryan Dean West setzt sich neben Joey.)
»He, Ryan Dean.«
»He, Joey.« Ich räusperte mich. »Hi, Megan.«
»Hi, Ryan Dean!« Sie lächelte und drehte sich auf ihrer Bank um. Ihre weichen blonden Haare strichen über meinen Tisch und über meine Hand. Was für ein cooles Gefühl.
Volltreffer.
Dann legte sie sogar ihre Hand auf meine und sagte: »Schau einer an! Du musst einen Kopf größer geworden sein. Du siehst absolut heiß aus! Wie war dein Sommer?«
Ich wäre beinahe in Ohnmacht gefallen. Ich fühlte, wie alles Blut in meinem mickerärschigen dehydrierten Körper nach unten in eine nutzlose Region unter der Gürtellinie schoss.
»Wahnsinn.«
»Was hast du gemacht?«
»Hab ich vergessen.«
»Ich habe von gestern Nacht gehört.« Megan tätschelte mir die Hand. »Klingt so, als hättet ihr ein bisschen auf den Putz gehauen.«
Ich blickte Joey an.
»Von mir hat sie’s nicht«, sagte er. »Alles okay bei dir?«
»Gott. Mir geht’s echt dreckig. Lass mich das nie wieder tun.«
»Ich wollte dich abhalten. Du weißt schon. Chas hat mich nicht gelassen.«
»Ich weiß.«
In Makroökonomie saßen wir genauso: Megan vor mir, Joey rechts von mir. Ich fragte mich, warum Jugendliche sich an so was halten, aber ich erlebe das im Unterricht immer wieder, seit ich zurückdenken kann. Vermutlich ist es irgendwie der unbewusste Versuch, das Universum in eine feste und verlässliche Ordnung zu bringen, selbst wenn deine Fixpunkte in der Wirklichkeit im ersten Fall wahnsinnig heiß und unerreichbar und im zweiten Fall schwul sind.
Nach Ökonomie hatten wir zwanzig Minuten Pause. Ich suchte mir eine Bank im Schatten und streckte mich darauf aus. Ich legte mir den Rucksack übers Gesicht, damit ich niemanden sehen musste, vielleicht auch, damit mich niemand sah. Ich hätte ewig so liegen können, aber ich hörte, wie Seanie und JP auf einmal vor mir standen und über irgendwas lachten.
»He, Suffnase, wir suchen dich überall«, sagte JP. »Mach schon. Steh auf. Jetzt noch Literatur, dann haben wir’s geschafft und es ist Mittagspause.«
Ach ja, es gibt noch etwas, was die PM so bezaubernd macht. Da niemand Handys und so haben darf, reden die Schüler hier tatsächlich miteinander. Und sie tauschen schriftliche Mitteilungen aus. Ich weiß, das sind beides vorsintflutliche Verhaltensweisen, aber was soll man machen, wenn die Schule die Leute zu einem so fuck primitiven Leben zwingt wie auf einem Siedlertreck?
Ich erwähne das deshalb, weil Seanie mir ein zusammengefaltetes Stück Papier mit Blümchen und Herzchen darauf zusteckte, als ich den Rucksack von meinem verschwitzten Gesicht nahm, und sagte: »Hier. Lies das. Ich hab dir ein Haiku darüber geschrieben, wie schwul es ist, zwei Stunden hintereinander neben Joey zu sitzen.«
»Ich sitze außerdem direkt hinter Megan Renshaw.«
»Das nennt sich Kompensation.«
Ich schob die Hand unter meinen Pullunder und steckte Seanies Zettel in meine Hemdtasche.
»Schick«, sagte ich. »In Literatur schreibe ich dir ein Sonett darüber, dass es nichts Schwuleres geben kann, als einem Freund ein Haiku zu schreiben.«