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Das Training war leicht. Coach M meinte, er würde uns nicht richtig aufeinander loslassen, bevor er einen ersten Eindruck von uns hatte. Was mir ganz recht war, weil ich nach den Erlebnissen der Nacht noch ganz schwach war und mich voll scheiße fühlte.
Wir absolvierten das übliche Aufwärmtraining: gemütlicher Dauerlauf, Dehnübungen, schnelles Fangen und Passen, verschiedene Laufübungen, und dabei fiel Coach M auf, dass ich definitiv nicht der Schnellste auf dem Platz war.
Er sagte: »Bist du über den Sommer langsamer geworden, Winger? Du wirst deutlich Tempo zulegen müssen, wenn du deinen Platz halten willst.«
Darauf ging es mir gleich noch schlechter, denn nicht genug damit, dass ich mich bei Annie in die Scheiße geritten hatte, jetzt enttäuschte ich auch noch Coach M. Bevor wir uns für ein paar Touch-Spiele in Siebenergruppen aufteilten, fragte ich Coach M, ob ich mal kurz mit ihm reden könnte.
»Tut mir leid, Coach, mir geht’s heute echt schlecht. Morgen bringe ich wieder Tempo.«
»Was ist los, Ryan Dean?«
»Ach, ich …« Und dann: »Gestern war meine erste Nacht in der Opportunity Hall. Ich konnte überhaupt nicht schlafen. Es geht mir grauenhaft.« Das war nicht einmal richtig gelogen.
Er legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: »Verstehe, Ryan Dean. Hoffen wir mal, dass du deinen Scheiß dieses Jahr auf die Reihe kriegst und wieder aus der O-Hall rauskommst.«
Seht ihr? So redet er immer, aber mit diesem englischen Akzent klingt es voll melodisch und einschmeichelnd. Dann fügte er noch hinzu: »Bevor Chas Becker ein Arschloch aus dir macht.«
Coach M bestimmte vier Jungen zu Mannschaftskapitänen, und dann spielten wir ein kleines Siebenerturnier. Siebener-Rugby ist eine abgespeckte Version des normalen Rugby mit nur sieben Spielern statt fünfzehn in einer Mannschaft. Und wir spielten Touch statt Tackle, so dass es die ganze Zeit eher um Schnelligkeit und Ballbehandlung ging.
Ich war trotzdem überrascht, als Joey, der unser regulärer Mannschaftskapitän war, mich als Ersten in sein Team wählte. JP war auch in unserem Team, außerdem zwei Center und zwei Loose Forwards aus der B-Auswahl.
Seanie landete in einem Team mit Chas und Kevin, so dass klar war, dass es in den Spielen richtig zur Sache gehen würde, und zu guter Letzt bestritten unsere beiden Teams das Endspiel. Den ersten Treffer erzielte ich nach einem tollen angetäuschten Loop Pass von Joey, denn kaum hatte ich den Ball in der Hand, war ich auf und davon. Aber mehr hatten wir nicht zu bieten, und Chas’ Team kam mit drei Treffern zurück, die wir nicht ausgleichen konnten, und gewann das Turnier.
Manchmal macht es im Rugby mehr Spaß zu verlieren, als zu gewinnen. An dem Tag ließ Coach M nach dem Training die drei Verlierermannschaften zu den andern Übungsplätzen traben und dem Footballteam ein Lied singen. Joey lief vorneweg, und wir beschlossen, »Oh! Susanna« zu schmettern, aber statt »Susanna« sangen wir »Casey«. Und wir sind zwar grauenhafte Sänger, aber wir singen richtig laut, und Casey und die andern Footballspieler konnten nichts dagegen machen. Sie versuchten uns zu ignorieren, aber das half nichts, und so konnten sie bloß Kommentare abschießen wie: »Was für ein Haufen Schwuchteln!«
Als wir fertig waren, klatschten einige der Footballspieler tatsächlich. Wenigstens kapierten sie, dass es nur Spaß war und dass die Rugbyjungs sich revanchierten, wenn man ihnen blöd kam. Aber es war eine Revanche ohne Drohgebärden und Einschüchterungsgehabe – sie sollte nur zeigen, dass wir einen Jux abkonnten und selbst nicht aufs Maul gefallen waren.
Casey hatte mit seinen »süßen Höschen« vor dem Training angefangen, und jetzt musste er es hinnehmen, dass wir ihn mit unserem Ständchen verarschten. Nach der ersten Strophe und einem Refrain trabten wir zur Umkleide zurück.
Der Schultag war endlich vorbei, und als ich mich auf die Bank setzte und meine Stollenschuhe auszog, ging mir noch mal das ganze Grauen dieses Tages auf, und ich dachte mir wieder, dass ich mich schon am ersten Tag meines elften Schuljahres voll als Loser erwies.