19

»Was zum Fuck ist denn mit dir los?«, sagte Seanie.

Das Licht ging an, und ich wachte auf.

Meine Bücher waren um meinen Kopf verstreut, und ich lag mit dem Gesicht nach oben auf der Decke.

Seanie, JP und Joey standen an der Tür, alle mit Hemd und Krawatte, als kämen sie gerade vom Abendessen im Speisesaal.

Ich stützte mich auf die Ellenbogen und sah sie an.

Ich rubbelte mir die Haare und setzte mich auf. Mein Kopf stieß fast an die Decke, aber nicht ganz.

»Ich hab einfach Schlaf gebraucht«, sagte ich. »Wie spät ist es?«

Ich sah auf die Uhr. Es war Viertel nach acht.

»Alle haben gefragt, wo du bist«, sagte JP. »Du hast das Abendessen verpasst.«

Na klar. Ich wette, Casey Palmer hat auch nach mir gefragt.

»Ich hatte keinen Hunger.« Aber jetzt, wo sie davon sprachen, knurrte mir mächtig der Magen.

»Tja«, sagte Seanie halb flüsternd und blickte sich verstohlen um, »wir haben dir heimlich was zu essen mitgebracht, falls du doch welchen kriegen solltest.«

Aus dem Speisesaal Essen mitzunehmen war ein eindeutiger Verstoß gegen die Vorschriften. Aber Besuch aus den normalen Häusern in der O-Hall verstieß wahrscheinlich genauso dagegen.

Seanie packte eine zerknüllte Serviette und einen Pappbecher auf das Analysisbuch neben meinem Kissen. »Ein Schinkenbrot und eine Kelle Tomatensuppe.«

Wow, das war krass. Es hörte sich zu gut an.

»Danke, Seanie«, sagte ich. »Und vielen Dank auch, dass du es nicht in deinen Ausdruck von Caseys MySite eingewickelt hast.«

JP lachte.

»Hast du schon mal Caseys MysSite gesehen, Joey?«, fragte ich.

Seanie zog eine angesäuerte Miene.

»Nein. Warum?«

»Na, wenn du am Wochenende nach Hause fährst, guck sie dir mal an«, sagte ich.

»Okay.«

Joeys Eltern waren ultrareich. Sie wohnten in San Mateo und flogen ihn jeden Freitag nach der Schule nach Hause. Ich erwiderte Seanies bösen Blick mit einer »Ätsch bätsch reingelegt!«-Grimasse. Schreib doch ein Haiku darüber, dass Joey sich deine Eier angucken wird, Fucker, sollte die Mimik sagen.

Aber ob das nun ganz rüberkam oder nicht, Seanie und ich hatten jedenfalls einen intensiven wortlosen Austausch über japanische Dichtung, seine Eier und unseren schwulen Freund Joey Cosentino.

»Ich hab dir was zu trinken mitgebracht«, sagte Joey.

Ich sah ihn an. Vielleicht hatte ich immer noch den Eier/Haiku-Ausdruck im Gesicht, und Joey meinte wohl, ich traute seiner Auswahl des Abendgetränks nicht ganz.

»Kein Bier«, fügte er hinzu und grinste. Er holte eine Flasche Wasser und eine Flasche Gatorade aus seinem Schulrucksack.

Das war jetzt echt ein Wunder. Ich hatte so einen Durst, dass ich das Gatorade aufmachte und die Flasche leerte, ohne einmal Atem zu holen.

»Joey hat allen erzählt, was passiert ist«, sagte JP.

»Alter, du bist so was wie ein Superheld, dass du Casey Palmer hingeschmissen hast, um deinen Mannschaftskameraden zu verteidigen«, sagte Seanie.

»Ich hab nicht Joey verteidigt«, sagte ich. »Ich hab mich selbst verteidigt. Ich muss auch jeden Tag diesen Hügel hoch und runter. Das geht gar nicht, dass die schon am ersten Trainingstag mit so einem Kack anfangen. Da dachte ich einfach, was soll’s, Augen zu und drauf. Ich war eh so sauer auf alles und jeden. Ich hab echt Schwein gehabt, dass ich diese Riesendummheit überhaupt überlebt habe. Wie schon gesagt: Ich wollte jemanden umnieten, und Touch-Rugby hat es für mich heute nicht so ganz gebracht.«

»Was macht deine Nase?«, fragte Joey.

Ich hatte seit dem Duschen, als ich das Blut auf dem Boden gesehen hatte, gar nicht mehr daran gedacht. Ich biss von dem Brot ab – es schmeckte unvorstellbar gut – und berührte dann meine Nase.

»Sie ist nicht gebrochen oder so«, sagte ich tief einatmend. »Glaube ich. Bloß zugeschwollen. Mann, vielen Dank für das Essen. Ich glaube, ich fühle mich schon wieder richtig normal

Aber mit dem Normalgefühl kam sofort der Gedanke an Annie.

»Hat einer von euch Annie heute Abend gesehen?«

»Ich hab mit ihr geredet«, sagte JP. »Sie ist echt sauer auf dich, Ryan Dean.«

Vielleicht war mein Kopf noch ein bisschen daneben, aber ich hatte irgendwie das Gefühl, JP freute sich darüber, dass Annie sauer war.

»Alter, dass sie sauer ist, zeigt doch bloß, wie sehr sie dich mag«, sagte Seanie.

Das klang wie ein Spruch, den man seinem Kind sagt, bevor man ihm eine Tracht Prügel verabreicht.

»Ich glaube, sie denkt, du hast ihr nicht die Wahrheit gesagt«, erklärte JP.

»Ich hatte gar nicht die Gelegenheit dazu. Ich hatte keinen Moment Zeit, mit ihr darüber zu reden.« Das hörte sich vermutlich ziemlich weinerlich an.

Da ging die Tür auf. Ich dachte, es wäre Chas, und erwartete, dass er meinen Freunden sagte, sie sollten sich zum Teufel scheren, aber es war Mr Farrow. Er sah auch sauer aus. Offensichtlich hatte er vor, ihnen das zu sagen.

»Was macht ihr zwei denn hier?«, sagte er. Er warf mir einen missbilligenden Blick zu, wie ich da auf meinem Bett saß und mein Abendessen verzehrte. Ich zog mir das Laken über die Beine. Mr Farrow verstand es, einem ein voll unbehagliches Gefühl zu geben.

JP sagte: »Ryan Dean ist krank. Wir haben ihm bloß was zu essen gebracht.«

Mr Farrow trat einen Schritt auf das Bett zu und betrachtete mich genauer, was mir, wie gesagt, echt nicht ganz geheuer war, weil er praktisch meine Brust anatmete und ich nur Boxershorts anhatte.

»Bist du krank, Ryan Dean?«

»Jetzt geht’s mir schon besser. Ich bin grade aufgewacht.«

»Vielleicht solltest du dich morgen früh mal vom Arzt anschauen lassen.«

»Nein. Wirklich. Es geht schon wieder«, sagte ich.

Da holte Farrow einen Zettel und einen Stift aus der Tasche und blickte JP streng an.

»Ihr beiden seid offensichtlich nicht neu an der Schule. Ihr kennt die Vorschriften«, sagte er. »Wie heißt ihr?«

JP schluckte einmal und antwortete: »John-Paul Tureau und Sean Flaherty.«

»Mr Farrow, bitte machen Sie ihnen keine Unannehmlichkeiten«, sagte ich. »Wirklich, sie wollten sich bloß um mich kümmern.«

»Ryan Dean, wenn Schüler es sich herausnehmen, sich um einen anderen zu kümmern, hat das manchmal unangenehme Konsequenzen.«

Scheiß die Wand an, wenn das nicht das Resümee meines ersten Tages hier war. Dann dachte ich, die müssen ihn und Mrs Singer ausgewählt haben, dieses Haus zu leiten, weil sie so was wie die Schergen des Satans sind oder so.

Mr Farrow fuhr fort: »Aber, Tureau und Flaherty, ich erkenne an, dass ihr etwas Gutes für Ryan Dean tun wolltet. Allerdings erwarte ich, dass ihr sofort geht und dass ihr das nicht noch einmal macht, ohne mich vorher zu fragen.«

Damit steckte Farrow seinen Zettel wieder ein und trat in den Flur hinaus, ohne die Tür zu schließen.

»Wir haben nämlich noch viel Platz hier in der Opportunity Hall«, fügte er hinzu, während er auf dem Gang in die Richtung unseres Gemeinschaftszimmers verschwand.

»Ich denke mal, das heißt, wir gehen jetzt lieber«, sagte Seanie.

»He. Danke noch mal«, sagte ich, als Seanie und JP sich zum Gehen wandten. Draußen auf dem Flur drehte sich Seanie um und streckte mir mit einem Grinsen den Mittelfinger entgegen, begleitet von einer Grimasse, die wohl so was sagen sollte wie: Fick dich, dass du Joey angestiftet hast, meine Eier anzugucken.

Ich aß mein Brot auf. Ich sagte nichts, aber mir war auf einmal ganz krampfig dabei zu Mute, hier mit einem schwulen Jungen allein im Zimmer zu sein, noch dazu im Bett. Und dann ärgerte ich mich augenblicklich über mich selber, weil ich so einen Scheiß dachte und Joey denselben Schwachsinn antat wie alle andern, denn ich wusste sehr gut, wie es sich anfühlt, nicht wie alle andern zu sein. Das heißt nicht, dass ich wusste, wie es sich anfühlt, schwul zu sein, überhaupt nicht, aber ich weiß genau, wie es sich anfühlt, bei etwas »der Einzige« zu sein. Herrje, ich wette, es gibt bestimmt mehr schwule Elftklässler als vierzehnjährige Elftklässler.

Ich fragte mich allerdings, ob es Kevin Cantrell etwas ausmachte. Joey und Kevin waren seit zwei Jahren Zimmergenossen, und niemand verriss sich das Maul über Kevin oder spekulierte, ob er schwul war, weil alle genau wussten, dass er nicht schwul war.

Ich bin voll der Loser.

»Mir geht’s schon viel besser«, sagte ich. »Willst du das Wasser haben, Joey?«

Ich hielt Joey die Flasche hin.

»Nein, danke. Ich gehe jetzt mit den andern bis Lichtaus fernsehen. Kommst du auch?«

»Nein«, sagte ich. »Ich glaube wirklich, ich brauche bloß Schlaf. Und überhaupt, werden Casey und Nick nicht da sein?«

»Na und?«, sagte Joey. »Vor denen habe ich keine Angst.«

»Hab ich auch nicht behauptet.«

»Die können mich mal«, sagte Joey. »Die werden nichts mehr machen. Glaub mir. Du hast doch keine Angst vor denen, oder?«

Ich dachte darüber nach.

»Ehrlich gesagt, doch.«

»Mach dir deswegen keine Sorgen«, sagte Joey. »Das war ein Wahnsinnstackling. Aber mach so einen Scheiß nie wieder. Soll ich das Licht ausmachen?« Er war schon halb zur Tür hinaus.

»Ja. Danke. Bis morgen in Mathe.«