20

Ich hörte Chas in der Nacht reinkommen, aber ich wurde davon nicht richtig wach. Ich war in so einem ohnmachtsähnlichen erholsamen Tiefschlaf, dass mein Körper sich anfühlte, als wäre er mit der Matratze verschmolzen. Als ich gegen zwei Uhr aufwachte, weil ich pinkeln musste, überlegte ich daher tatsächlich, ob ich die leere Gatorade-Flasche benutzen sollte, die noch vom Abendessen bei mir im Bett lag. Dann aber fand ich, dass es eine gute Gelegenheit war, frühzeitig in unserem Zusammenleben herauszufinden, ob ich aus dem Bett steigen konnte, ohne dass Chas sich veranlasst sah, mich krankenhausreif zu schlagen. Ich beschloss also, den Versuch zu wagen und die Gatorade-Flasche für künftige Gelegenheiten aufzuheben. Nur für den Fall.

Ich fühlte mich wie ein Ninja, der aus dem Bett kraxelt, ohne dass ihn jemand sieht und hört, nur dass meine geheime Mission mit Pinkeln zu tun hatte statt mit Mord.

Die O-Hall war vollkommen still und dunkel, als ich in den Flur hinaustrat. Jeder Teil meines Körpers fühlte sich ganz lebendig und geheilt an; ich hatte mich endlich von dem Schwachsinn der Nacht davor erholt, und meine nackten Füße fühlten sich herrlich an auf dem glatten, kalten Linoleumboden.

Ich streckte mich und gähnte. Ich freute mich richtig auf den Morgen, auf die Gelegenheit, Annie beim Frühstück zu treffen und vielleicht wieder alles auszubügeln. Ich musste es probieren. Ich brannte darauf. Nachdem ich sie im Sommer zweieinhalb Monate lang nicht gesehen hatte, hatten wir schon zweimal miteinander die »Ich bin sauer und will nicht mit dir reden«-Nummer abgezogen, und das kotzte mich an.

Nachdem ich fertig gepinkelt hatte, knipste ich das Licht im Waschraum aus und bewegte mich wieder Richtung Bett. In dem Moment sah ich durch das Fenster in der Tür zum Treppenhaus ein Licht aufleuchten. Es war eine dieser Sachen, die man nur aus den Augenwinkeln wahrnimmt, aber es hatte zur Folge, dass ich wie angewurzelt mitten auf dem dunklen Gang stehen blieb und regungslos die Tür beobachtete, ob es noch einmal leuchtete.

Ja, da war es wieder, aber nur eine Sekunde, vielleicht weniger.

Es war ein hellgrünes Licht, wie diese Leuchtstäbe es machen, die man durch Knicken aktiviert. Es erhellte kurz das Treppenhaus, und dann war schlagartig wieder alles dunkel.

Ich dachte, dass Chas und Joey und Kevin vielleicht die zweite Nacht hintereinander etwas machten, was sie nicht durften, aber das konnte nicht sein, denn ich war mir sicher, dass ich Chas in seinem Bett schlafen gesehen hatte. Ich gruselte mich auch ein bisschen, aber etwas an diesem Licht reizte mich, nachzusehen, wer dafür verantwortlich war und was er da eigentlich anstellte.

Ich weiß. Ziemlich dämlich. Dabei war ich nicht einmal betrunken.

Und während ich barfuß ans Ende der Jungenetage tappte, musste ich ständig an die ganzen Horrorfilme denken, die ich gesehen hatte, wo man dasitzt und innerlich schreit: »Mach nicht diese Tür auf, du elender Schwachkopf!«

Und was tat ich? Ich machte die Tür auf.

Beinahe hätte ich aufgekreischt wie ein kleines Mädchen, andererseits hatte ich viel zu viel Angst dafür, und wenn ich nicht unmittelbar vorher auf dem Klo gewesen wäre, hätte ich mir zudem in die Hose gepinkelt, denn als ich die Tür aufmachte, stand ich nur in der Unterhose dem wohl einzigen zweibeinigen weiblichen Wesen gegenüber, dem Ryan Dean West außer seiner Mom, nein, seine Mom sogar eingeschlossen, nicht begegnen wollte, wenn er in der Nacht nur Boxershorts und sonst gar nichts anhatte, sprich, der absolut unheißen Mrs Singer von unten.

Und ich dachte: Ich werde nie wieder keinen Durchfall haben, solange ich lebe.

Ich bin voll der Loser.

Sie stand nur Zentimeter entfernt in einem schwarzen Morgenrock da, ein schwarzes Kopftuch über den zurückgebundenen schwarzen Haaren, wie so ein kinderopfernder Druide oder eine hässliche Illustration aus einem endlos langen Dickens-Roman, und im ersten Moment war ich so erschrocken, dass ich erstarrte.

Ich hätte doch die Gatorade-Flasche benutzen sollen.

Als meine Knie auftauten, wirbelte ich herum, und ohne ein Wort zu sagen oder mich noch einmal umzuschauen, lief ich mit rasend trommelnden Füßen den Flur hinunter in mein Zimmer.

Ich fühlte etwas Kühles an der Brust. Meine Nase blutete wieder.

Okay, dachte ich, sie ist keine Hexe. Das Nasenbluten hast du von Casey Palmer, das war nicht die gruselige Mrs Singer. Ich hielt mir die Hand an die Nase, und sie war augenblicklich vollgeblutet.

Als ich zurück im Zimmer war, zog ich das blutbefleckte Hemd, das ich bei Caseys Schlag angehabt hatte, aus dem Schulrucksack und hielt es mir vors Gesicht. Das Hemd war an dem Punkt eh nicht mehr zu retten. Dann hangelte ich mich einhändig auf das obere Bett zurück.

Zu allem Überfluss trat ich Chas auf dem Weg nach oben an den Kopf, nicht ohne unter anderem auch eine tiefe Genugtuung dabei zu empfinden, schließlich hatte er mich gezwungen, mich zu betrinken, und obendrein Annie gegen mich aufgebracht. Noch mehr Genugtuung hätte es mir wahrscheinlich verschafft, wenn er aufgewacht wäre, aber er grunzte nur und wälzte sich herum, während ich mich auf mein Bett zog.

Mir klopfte das Herz. Ich keuchte. Ich rubbelte mir die Haare, während ich an die Decke starrte und mir das zusammengeknüllte Hemd auf die Nase drückte, damit sie zu bluten aufhörte. Ich schwitzte regelrecht. Ich fand keine bequeme Lage, und ich nehme an, ich zappelte ein wenig herum, weil ich mir sicher war, dass Mrs Singer mich auf dem Kieker hatte und darauf aus war, mich auf eine dämonische Art langsam umzubringen. Da boxte Chas von unten gegen die Matratze; ich fühlte einen Faustschlag an der Niere.

»Sag mir bitte, dass du da oben nicht machst, was ich denke, du fuck Homo.«

Was dachte er denn? Ein absoluter Hohlblock, dieser Chas Becker.

»Ich mache gar nichts«, sagte ich mit gedämpfter Stimme wegen dem Hemd vor dem Mund. »Mir blutet die Nase. Sorry.«

Er schlief wieder ein.

Ich versuchte mich zu entspannen, musste aber immerzu an diese grässliche Frau unten im Erdgeschoss denken und malte mir die grausige Kacke aus, die sie mir am Morgen antun würde. Aber was konnte es Schlimmeres geben als diesen ersten Tag?

Ich seufzte und sank langsam wieder in den Schlaf.