22

Ich fühlte, wie ich leichter wurde, mein Herz schlug schneller, und meine Kopfhaut prickelte irgendwie, als ich sie sah. Vielleicht war es ja bloß das Antischuppen-Shampoo, das jemand am Morgen in der Dusche vergessen und das ich benutzt hatte.

Ich will ehrlich sein. Ich dachte in dem Moment, wenn mich jemand fragen würde, ob ich in Annie Altman verliebt bin, müsste ich sagen, ich weiß es nicht, weil ich es wirklich nicht weiß. Ich habe keinen Vergleich für das, was ich für sie empfinde. Aber ich weiß, dass ich im Zusammenhang mit ihr irgendwie Bedürfnisse spüre. Ich spüre das Bedürfnis, dass sie mich mehr zur Kenntnis nimmt. Ich spüre das Bedürfnis, mir vorzustellen, dass sie sich leichter fühlt, wenn sie mich sieht. Natürlich konnte ich unmöglich glauben, dass das je im Leben tatsächlich eintreten würde, denn ich war ja bloß der kleine Ryan Dean West, ein Vierzehnjähriger in genau der gleichen Schuluniform wie vierhundert andere Jungen hier an der Pine Mountain, alle weitgehend gleich außer mir, denn da war diese eine Sache, an die sie sich einfach nicht gewöhnen konnte und die mich verglichen mit allen andern männlichen Elftklässlern in diesem Kackladen völlig uninteressant machte.

Das war es, was ich ihr in dem Brief zu sagen versuchte, den ich am Abend vorher weggeworfen hatte.

Es war eh verlorene Liebesmüh, denn ich wusste, dass ich ihr genug gute Gründe geliefert hatte, nie wieder mit mir zu reden: Ich war übergelaufen, hatte versucht, voll so einer zu werden wie Chas Becker, indem ich gegen die Vorschriften verstieß und Poker spielte und mich betrank, als ob solche dämlichen Verhaltensweisen in dem Affen Ryan Dean West jemals einen magischen Evolutionssprung anstoßen und dazu führen könnten, dass er in Annies Augen seinen Schwanz abwarf und den aufrechten Gang lernte.

Immerhin konnte ich hoffen, auch wenn ich voll der Loser war.

Sie saß beim Frühstück gegenüber von Isabel Reyes, aß einen Bagel und saugte Orangensaft aus einem Trinkpäckchen. Und obwohl JP laut »He, Ryan Dean!« rief und Seanie mir winkte, damit ich mich zu ihnen in Türnähe setzte, wo sie jedes Mädchen im Blick hatten, das kam und ging, beachtete ich sie gar nicht, aber nicht hochnäsig, denn ich hatte schlicht Muffensausen, als ob ich gleich vom höchsten Sprungturm aller Zeiten springen müsste. Ich hielt den Blick starr nach vorne gerichtet und ging direkt auf Annie zu.

Sie sah mich kommen, aber ich konnte nicht erkennen, ob sie sich freute, mich zu sehen, oder nicht. Wie immer sah Annie total heiß aus, aber Isabel auch, und das, obwohl sie mehr Haare im Gesicht hatte, als auf Ryan Dean Wests Kinderpopo zu Collegezeiten jemals wachsen würden (Gott! Was fand ich jetzt daran heiß?). Und dann sah ich, wie Annie sich vorbeugte und Isabel etwas zuflüsterte, und ich konnte mir gut vorstellen, was sie sagten.

WAS DIE MÄDCHEN WAHRSCHEINLICH SAGTEN:
EIN THEATERSTÜCK VON RYAN DEAN WEST

ANNIE: Da kommt dieser versoffene Fucker Ryan Dean West. Pass mal auf, den behandle ich jetzt, als ob er eine armselige Rotwangenschildkröte wäre.

ISABEL: Er scheint wirklich ein bisschen rote Bäckchen zu haben. Ich finde ihn süß.

ANNIE: Du findest ihn süß? Er ist doch bloß ein kleiner Junge. Wahrscheinlich beachte ich den Mickerarsch einfach nicht und tu so, als wäre er gar nicht da.

ISABEL: Aber du hast mir doch immer erzählt, du würdest ihn gern mögen.

ANNIE: Er hat sich wie ein Arschloch benommen, kaum dass wir am Sonntag hier ankamen. Erst wollte er nicht mit mir reden, log mir vor, er wollte nicht mit mir laufen gehen, und dann hat er sich mit Chas Becker betrunken. Definitiv voll unsüß.

Und da dachte ich: Wirst du mich wirklich nicht beachten, Annie? Will ich wirklich weiter zu dir hingehen, nur damit du mir noch mal in die Eier treten kannst?

Ich schaute mich kurz nach JP und Seanie um und sah, dass sie mich beobachteten.

Kacke!

Irgendwas passiert, wenn Jungen andere Jungen bei solchen Sachen beobachten. Sie wussten, was los war, und sie mussten unbedingt die Ryan-Dean-West-Selbstmordaktion aus nächster Nähe verfolgen. Es ist, wie wenn man aus einem Flugzeug springt. Es gibt keine Auszeit und keinen zweiten Versuch, es gibt nur die Schwerkraft. Und außerdem jede Menge Zeugen, die zusehen, wie dein Fallschirm zusammenklappt und dein Körper hilflos in den sicheren Tod stürzt.

Ich hatte keine Wahl. Ich konnte nur hoffen, dass ich vor den mehreren Hundert frühstückenden Schülern nicht wie ein kleines Mädchen in Tränen ausbrach.

Es war ein surrealer Comic meines Lebens, und ich malte mir den schlimmstmöglichen Ausgang aus:

007_OD-56027-winger.tif

»Annie. Wäre es okay, wenn ich mich einen Moment zu dir setze?«, sagte ich im sanftesten, betroffensten Ton, den ich hinkriegte. (Was nicht heißt, dass sich meine Stimme im letzten Jahr nicht verändert hätte. In einem dieser kirchlichen Knabenchöre hätten sie mich als Sänger nicht genommen.)

Da blickte sie mir direkt in die Augen, und in dem Moment wusste ich, dass alles gut werden würde. Unter Freunden sieht man sich einfach an, was los ist, wie zum Beispiel bei meiner Eier/Joey/Haiku-Nummer mit Seanie am Abend davor, mit dem Unterschied natürlich, dass Annie mich richtig freundlich anschaute.

»Hi, West. Klar«, sagte sie.

Volltreffer.

Nur dass es mir lieber gewesen wäre, sie hätte mich Ryan Dean genannt.

Und ich hatte noch einmal Glück, weil Isabel ihr gegenüber saß, was bedeutete, dass ich mich neben Annie setzen musste, was mir die Gelegenheit verschaffte, mit dem Schenkel ganz ganz leicht an ihren zu streifen, was eine sehr bestürzende und peinliche Wanderung ansonsten durchaus vollbeschäftigter roter Blutkörperchen in eine Region im Ryan-Dean-West-Land auslöste, die mein Ökonomielehrer vielleicht als unterentwickelt und unterbeschäftigt bezeichnet hätte.

»Hi, Isabel.« Mir brach die Stimme, als ich das sagte. Ich kam mir wie ein Depp vor. Ich glaube nicht, dass in den nördlichen Provinzen noch das kleinste bisschen Blut übrig war. »Hattest du einen schönen Sommer?«

»Schon«, sagte Isabel.

Gut, und jetzt geh weg, Schnurrbartmädchen (nicht dass dein Schnurrbart nicht irgendwie heiß wäre). Puh. Ich glaube, ich werde ohnmächtig.

Ich räusperte mich. Ich sah Isabel an. Gott! Ich wollte, dass sie ging, weil ich genau wusste, was die beiden im Anschluss an diese ganze unbehagliche Szene tun würden: Sie würden sich alles nacherzählen und es uminterpretieren, und sie würden auch Sachen dazuerfinden, Sachen, die ich in ihrer Vorstellung gesagt hatte, die mir aber nie über die Lippen gekommen waren.

»Annie«, fing ich an.

Danach wusste ich nicht mehr, was ich sagen sollte. Ich saß einfach da und starrte sie an. Ich war so verloren, ich dachte sogar an die Präambel der amerikanischen Verfassung.

Ich, das Volk, bin voll der Loser.

Gott sei Dank rettete Annie mich.

»Geht es dir heute Morgen besser?«, fragte sie.

Okay. In dem Moment wusste ich, absolut, dass ich total, total in sie verliebt war. Und diese Erkenntnis machte mich augenblicklich auch traurig, weil ich ein helles Köpfchen bin. Ich wusste, dass ich nicht die geringste Chance hatte.

Ich blickte auf meine Hände, die neben einem Senfklecks auf dem Tisch lagen. Eigentlich, dachte ich, ging es mir ganz gut, und ich war erleichtert, dass Mrs Singer mich nicht zufällig doch verhext hatte und ich jetzt einen Anfall von explosionsartigem Erbrechen kriegte oder so.

»Ja, doch. Viel besser. Wie geht’s dir?«

»Gut. Ich habe angefangen, diese Hawthorne-Geschichte zu lesen.«

»Ich auch. Echt schräg.«

»Allerdings.«

Ich ballte die Fäuste, so fest ich konnte. Sie wurden weiß.

Zeit, zu springen.

»Annie, es tut mir echt leid, wie dämlich ich mich verhalten habe. Ich wusste nicht, auf was ich mich da einließ, aber jetzt bin ich klüger, aber mieser dran bin ich auch, denn du hast dich über mich geärgert, und ich würde dich nie im Leben mit irgendwas vorsätzlich ärgern, weil du in diesem ganzen erbärmlichen Laden meine beste Freundin bist, deshalb tut es mir echt leid, und ich gehe jetzt mal lieber, aber ich musste dir das einfach sagen.«

Zen-Bogenschießen mit Bandwurmentschuldigungen.

Beinahe hätte ich aufgeschaut, um zu sehen, ob mein Fallschirm wieder Aufwind hatte oder ob er bloß in der Luft herumflatterte wie ein riesiger schmutziger Strumpf.

Ich presste die Hände auf die Tischplatte und setzte an, aufzustehen.

Da legte sie ihre Hand auf meine und sagte: »Ist schon gut, West. Wegen mir musst du nicht gehen. Und ich ärgere mich auch nicht mehr. Du hast dich halt zwischendurch mal dämlich benommen. Welcher Junge macht das nicht mindestens zehnmal am Tag?«

Ich seufzte und entspannte mich auf meinem Stuhl. Mein Bein berührte wieder ihres.

Bitte nimm deine Hand nicht weg, Annie!

Als sie ansetzte, ihre Hand wegzuziehen, legte ich meine darauf und drückte. Sie drückte zurück.

Ryan Dean West hielt tatsächlich die Hand eines weiblichen Wesens, das nicht seine Mom war.

In die Leute um uns herum kam Bewegung, sie griffen sich ihre Bücher und Rucksäcke. In fünf Minuten fing die erste Stunde an, aber ich wollte nicht gehen. Außerdem wäre ich wahrscheinlich umgekippt, wenn ich versucht hätte aufzustehen.

Da erhob sich Isabel von ihrem Platz und sagte: »Tschüs, Ryan Dean. Bis später, Annie.«

Und ohne Annies Hand loszulassen sagte ich: »Können wir später reden? Allein?«

»Klar.«

»Treffen wir uns nach dem Training in Stonehenge?«

»Willst du laufen gehen?«

»Nein.«

»Okay.«

»Okay.«