26
Diesmal duschte ich nach dem Rugby. Ich zog meine Schulsachen wieder an und band mir den Schlips so ordentlich, wie ich nur konnte. Ich schnorrte sogar Parfüm von Joey. Ich schmierte mir Gel von Kevin Cantrell in die Haare und bemühte mich, sie zu kämmen.
Alle wussten, dass was im Busch war.
Diesmal warteten Casey Palmer und Nick Matthews nicht am Rand des Footballplatzes, als wir aus der Kabine kamen. Gott sei Dank.
Ich wäre im Laufschritt zur O-Hall geeilt, aber ich wollte nicht in Schweiß geraten, bevor ich Annie sah. Ich wollte nur kurz meine Schulbücher im Zimmer ablegen, damit ich nicht den Rucksack den ganzen Weg bis zu unserem Steinkreis mit mir rumschleppen musste.
Das Haus wirkte verlassen, als ich eintraf, wohl weil ich als Erster von der Schule zurückkam. Obwohl ich so viel Aufmerksamkeit auf Kleidung und Haare verwandt hatte, war ich in Windeseile aus der Kabine gestürzt und hatte es geschafft, vor allen andern in der O-Hall zu sein. Deshalb rechnete ich nicht damit, jemandem zu begegnen, als ich die Tür vom Vorraum ins Treppenhaus aufriss, und diesmal kreischte ich wirklich laut auf, als ich beinahe auf die selbst für außerirdische Maßstäbe unheiße Mrs Singer prallte.
Ich weiß gar nicht, warum ich so erschrak, aber nach diesem Durchfallfluch, mit dem sie mich meiner Überzeugung nach belegt hatte, und dem plötzlichen Nasenbluten in der Nacht davor glaubte ich steif und fest, dass sie entschlossen war, mir etwas Grässliches anzutun, mich etwa in ihren Eunuchensklaven zu verwandeln oder mir Gift einzuhauchen.
Vielleicht schlug mir ja diese Hawthorne-Geschichte aufs Gemüt, ich weiß es nicht.
Unsere Blicke begegneten sich, während ich wie versteinert am Fuß der Treppe stehen blieb. Und ich weiß nicht, wo mein ganzes Blut hinströmte, aber ich weiß, dass es nirgends hinströmte, wo ich viel davon hatte.
Dann sagte sie: »Ich werde dir kleinem Fucker meine Stachelzunge in die Augenhöhlen bohren und die Seele weglecken.«
Na ja, um ganz ehrlich zu sein, sagte sie in Wirklichkeit: »Oh, hallo. Du schon wieder«, aber ich hatte nicht vor, dort Wurzeln zu schlagen und mir ihre dämonischen Verwünschungen anzuhören. Ich hatte eine Verabredung. Während ich nach oben lief, überlegte ich fieberhaft, ob ich vielleicht aus dem Fenster springen sollte, damit ich ihr beim Hinuntergehen nicht noch einmal begegnen musste.
Verdammt! Ich fing an zu schwitzen.
Ich stieß die Tür auf und warf rasch den Bücherrucksack auf mein Bett.
Ich blickte zum Fenster hinaus und sah Chas, Joey und Kevin vom Training kommen. Wenigstens wusste ich damit, dass ich nicht springen musste, denn die Seelen von Chas und Kevin waren bestimmt sehr viel leckerer wegzulecken als meine, da sie sich in den vielen Gedrängen, die die beiden als Stürmer hinter sich hatten, schon viel mehr verflüssigt haben mussten. Dann aber musste ich doch »Leck mich!« denken, denn als ich gerade loswollte, um Annie zu treffen, erschien Mr Farrow in der Tür und versperrte mir den Weg.
»Ryan Dean«, sagte er, »wie es aussieht, geht es dir heute schon viel besser. Ich würde mich gern mal mit dir unterhalten, ja?«
Wenn ich’s mir recht überlegte, wäre mir die seelenleckende Stachelzunge doch lieber gewesen.
Mr Farrow stand in der offenen Tür und sah mich nur an, als wartete er auf eine Beichte. Mir schwirrte der Kopf, denn im Ryan-Dean-West-Sündenregister der letzten achtundvierzig Stunden gab es ganz gewiss einen ganzen Haufen Kack, den ich hätte beichten können. Mir blieb daher nichts anderes übrig, als möglichst unschuldig zu gucken und zu klingen, und natürlich brach mir die Stimme wie einem Pfadfinder-Wölfling, als ich sagte: »Bitte, Mr Farrow, ich muss mich vor dem Essen noch mit jemand treffen. Es geht um die Hausaufgaben, und ich fürchte, ich bin schon spät dran.«
Ich hörte die andern die Treppe heraufkommen.
»Ich bin ein wenig in Sorge, dein Einstieg in dieses Schuljahr könnte nicht ganz so gewesen sein, wie er sein sollte, Ryan Dean.«
O Gott. Das hörte sich an, als wüsste er alles.
Jetzt würde es den unvermeidlichen Anruf zu Hause geben, und schwuppdiwupp war Ryan Dean Wests Schulkarriere an der PM beendet und er saß am Morgen in einem Flugzeug nach Boston, an den vierzehnjährigen Mickerarschkragen von der Fluggesellschaft ein fuck Namensschild mit Smiley geheftet, das ihn als alleinreisendes Kind kenntlich machte und nichts anderes sagte als: »Gestatten, mein Name ist Loser.« Ich konnte nur hoffen, die fürs Füttern und Mundabputzen zuständige Stewardess verdiente, hm … fünf von fünf dampfend heißen Fischsuppentellern auf der Ryan-Dean-West-Skala für appetitlichen Bordservice, an dem man sich liebend gern die Zunge verbrennt.
»Tut mir sehr leid, Mr Farrow. Ich werde mich ganz bestimmt bessern.«
»Das erwarte ich auch von dir, Ryan Dean, vor allem wo wir uns zum Ziel gesetzt haben, dass du zum Halbjahresende ins Jungenhaus zurückdarfst.«
Das hörte sich an, als gäbe es doch noch Hoffnung.
Vorsichtig jetzt, Ryan Dean. Nicht zu viel sagen.
»Aber wegen des Essens auf dem Zimmer und deiner zwei Besucher gestern Abend«, fuhr Farrow fort, »werde ich dir wohl oder übel Stubenarrest geben müssen.«
Was noch schlimmer war, als von der Schule zu fliegen. Das hieß, keine Annie. Keine Megan Renshaw.
Was ist es doch für ein grausames Schicksal, mit Hoden geboren zu sein und sich auf dem Elendsweg durchs Leben damit abschleppen zu müssen. Sie fühlten sich groß wie zwei Volkswagen an, so eine Last waren sie mir geworden.
Ich strengte mich an, mir Tränen in die Augen zu treiben. Meistens klappt das, wenn ich an Pinkeln denke; zumindest bei meinen Eltern wirkt es.
»Bitte, Mr Farrow«, sagte ich. »Ich war wirklich krank, aber ich habe mich gezwungen, den ganzen …«
Denk an Pinkeln. Denk an Pinkeln.
»… ersten Schultag durchzuhalten, weil ich mich in diesem Jahr …«
Denk an Pinkeln. Denk an Pinkeln.
»… unbedingt bessern möchte. Aber dann bin ich eingeschlafen …«
Denk an Pinkeln. Denk an Pinkeln.
»… und meine Freunde machten sich Sorgen, deshalb weckten sie mich auf und brachten mir was zu …«
Denk an Pinkeln. Denk an Pinkeln.
»… essen.«
Um es mit einem angeblichen Ovid-Zitat zu sagen: »Bisweilen haben Tränen das Gewicht gesprochener Worte.«
Gerade als die Jungen aus dem Treppenhaus hereingepoltert kamen, kullerte mir eine perfekte Träne aus dem Augenwinkel. Als schämte ich mich, vor den andern zu weinen, wischte ich sie eilig weg.
An Farrows verlegenem Gesichtsausdruck sah ich, dass der altbewährte und maßvoll eingesetzte Ryan-Dean-West-Pinkeltränenbluff hervorragend funktionierte.
Ryan Dean West, Performancekünstler der Extraklasse.
»Bitte«, fügte ich ganz sanft hinzu, wie wenn ein Torero mit dem Estoque den Todesstoß setzt. Ich stellte mir vor, wie die ultraheißen und leidenschaftlich erregten Annie und Megan mich mit einem Blumenregen überschütteten, und ich hob eine auf, roch daran und klemmte sie mir zwischen die Zähne; und der durchbohrte Mr Farrow blickte auf die durch den Flur kommenden Jungen, dann beugte er sich nahe heran, als wollte er mich in meiner Verletzlichkeit schützen, und flüsterte: »Diesmal lasse ich es noch durchgehen, Ryan Dean. Nimm dich in acht. Jetzt lauf.«
Als ich durch den Flur segelte und an Joey vorbeikam, hob ich die Hand, klatschte ihn mit den härtesten und lautesten Highfive in der gesamten Homo-Hetero-Highfive-Historie ab, und rief: »Danke für das Haargel, Kevin. Danke für das Duftwasser, Joey.«
Und schon flog ich die Treppe hinunter, ohne im Geringsten besorgt zu sein, ich könnte auf die seelenleckende und voll unheiße Mrs Singer stoßen.