27
Annie lachte, als sie mich sah. Wie immer, wenn sie lacht, wurden ihre Augen schmal und feucht. Sie hatte den Zettel in der Hand, den ich ihr in Literatur gegeben hatte, und schwenkte ihn wie eine Kapitulationsfahne.
»Du bist voll der Perversling, West. Babysitten? Baden?«
»›Hier, Beatrice‹«, zitierte ich unsere Hawthorne-Geschichte, »›sieh nur, wie viele unumgängliche Pflichten an unserem größten Schatz zu verrichten sind.‹« Und ich strich mit der Hand über meinen Körper und deutete.
Auf mich.
Sie kicherte. »Perversling!«
»Du wirst es nicht glauben, welcher tödlichen Kugel ich gerade ausgewichen bin, Annie.«
Wir setzten uns auf einen bemoosten schwarzen Baumstamm, der Jahre vor meiner Aufnahme an der Pine Mountain in einem Sturm umgestürzt war. Ich erzählte Annie, wie Mr Farrow mich zur Rede gestellt und wie ich mit aller Kraft an Pinkeln gedacht hatte, um mir eine Träne abzupressen, und sie lachte und beugte sich so nahe heran, dass wir uns beinahe berührten. Leider machte ich in dem Moment die Entdeckung, dass meine magischen Pinkelbeschwörungen vor Mr Farrow und das Erzählen der Geschichte jetzt tatsächlich bewirkten, dass ich pinkeln musste, aber ich dachte gar nicht daran, mich von der Stelle zu rühren.
»Ich habe dich noch nie mit Gel in den Haaren gesehen, West«, sagte sie. Sie führte ihr Gesicht ganz dicht an meinen Hals (ich neigte mich ihr ein ganz klein bisschen entgegen und hoffte, ihre Lippen würden mich berühren), und sie atmete ein und sagte: »Und du riechst nach Parfüm.«
»Das nehme ich doch immer«, versuchte ich so selbstsicher und maskulin zu klingen, wie es mir bei dem kolossalen Ausmaß meiner nicht zu leugnenden vierzehnjährigen Luschigkeit möglich war.
»Du siehst jedenfalls absolut entzückend aus«, sagte sie.
Ich starrte nur auf ihre weichen Knie, die unter dem perfekten Saum ihres Rockes hervorlugten.
Ich kann dieses Wort nicht ausstehen. »Entzückend.« Schon gar nicht, wenn Annie es in dem Ton aussprach. Es hörte sich wie etwas an, das jedes Mädchen über einen pinken Kapuzenpullover im Hollister-Katalog sagen könnte, nicht wie eine Aussage über einen Jungen. Es sei denn, er würde Windeln tragen oder einen Schlafanzug mit Poklappe und Füßen und hätte dazu einen Schnuller im Mund, was mich auf eine semiperverse Idee für ein Halloweenkostüm brachte, das ich gern nur für Annie getragen hätte. Okay, ich will ehrlich sein. Es war nicht semi-, es war total pervers.
Ich seufzte.
»Danke, Annie«, sagte ich. »Du siehst selber total heiß aus. Hast du Lust, mit mir rumzumachen?«
Na gut, das mit dem »Rummachen« ließ ich aus, aber gern gesagt hätte ich es schon. Aber nur daran zu denken war schon ein Fehler, weil ich plötzlich an nichts anderes mehr denken konnte und merkte, dass Ryan Dean Wests Gehirn mal wieder voll damit ausgelastet war, an … äh, Sex zu denken. Und wie üblich nahm mich das völlig in Anspruch, deshalb zeichnete ich in meinem blutleeren Kopf rasch ein Hirnfunktionsdiagramm:
Ich bin voll der Loser.
»He, Annie, hast du das wirklich ernst gemeint, als du gesagt hast, mich zum Freund zu haben wäre das Einzige, was du an dieser Schule magst?«
»Na ja, den Smoothie, den ich heute zu Mittag hatte, habe ich auch gemocht, aber sonst, ja. Das meine ich ernst.«
»Danke.«
Und ich hätte da so gern ihre Hand genommen, aber ich hatte Angst. Ist das zu glauben? Gestern hatte ich Casey Palmer von den Beinen geholt, und heute war ich zu ängstlich, um die Hand eines Mädchens anzufassen.
Ich sagte: »Fährst du dieses Wochenende nach Hause?«
Annies Eltern wohnten in der Nähe von Seattle, deshalb war das kein großes Problem.
»Ja.«
»Es ätzt mich an, am Wochenende hier allein zu sein. Alle meine Freunde fahren weg«, sagte ich. »Vielleicht könntest du ja mal ein Wochenende hierbleiben, dann könnten wir was zusammen machen.«
Sie stand auf, und wir gingen zum Spiralpfad in unserem Stonehenge.
»Ich weiß«, sagte sie. »Ich frage mal meine Eltern, ob du ein Wochenende mit zu mir nach Hause kommen kannst. Das wäre toll. Sie würden dich unheimlich gern kennenlernen.«
Volltreffer!
»Hast du ihnen von mir erzählt?«
»Natürlich.«
Ich fragte mich, was sie gesagt hatte. Ob sie mich ihnen als bemitleidenswerten kleinen Jungen dargestellt hatte.
»Versprichst du, sie zu fragen? Sie dieses Wochenende zu fragen, okay?«
»Okay.«
Plötzlich war mein Gehirn zu hundert Prozent mit der Vorstellung beschäftigt, ein Wochenende mit Annie bei ihr zu Hause zu verbringen. Ich hätte mir in dem Moment in die Hose pinkeln können und es nicht einmal gemerkt.
Wir fingen an, auf dem spiralförmigen Wunschpfad auf die Mitte zuzugehen.
Ich schluckte.
Ich nahm ihre Hand.
Sie erwiderte den Griff.
Wir blieben stehen, und Annie sagte: »He, West, halten wir uns echt an der Hand?«
»Äh. Ja.«
»Komisch.«
»Ich weiß.«
»Willst du loslassen?«
»Nein.«
»Okay.«
Und mehr sagte sie nicht. Okay. In diesem singenden, entspannten Tonfall, in dem alles ganz schmerzlos klang, als ob es nicht wichtig wäre, als ob es im ganzen Universum überhaupt keine Probleme gäbe.
Als wir wieder hinausgingen, sagte sie: »Was hast du dir gewünscht?«
Und ich sagte: »Ich dachte, das soll man nicht sagen.«
»Nur dieses eine Mal.«
»Okay«, sagte ich, »komm her.«
Und ich ging mit ihr zu dem Baumstamm, auf dem wir vorher gesessen hatten. Ich strich mit meinen brandneuen Schuhen den Boden glatt und kniete mich hin. Ich zeichnete zwei sich überschneidende Kreise: ein Venn-Diagramm.
»Das habe ich mir gewünscht, Annie.«
»Sieht aus wie ein Venn-Diagramm, West.«
»Ist auch eines.« Ich legte den Finger in die Schnittmenge der beiden Kreise. »Das hier sind alle Jungen an der Pine Mountain. Wir gleichen uns alle total. Wir sind gleich gekleidet, wir finden alle so ziemlich die gleichen Sachen gut, wir machen alle Sport, und jeder Einzelne von uns findet dich, Annie Altman, total heiß.«
»Ach, sei still.« Sie lachte.
Ich legte den Finger in die schmale Sichel eines der Kreise, den äußeren Teil.
»Und das hier ist Ryan Dean West. Na ja, wenigstens ist es der winzige Teil von Ryan Dean West, der ihn anders macht als die andern, das Einzige, das allen an ihm auffällt. Die Zahl vierzehn. Und du denkst, deswegen wäre ich ganz anders, ich wäre ein kleiner Bubi oder so. Aber tatsächlich hat jeder so einen kleinen Teil, der außerhalb der allgemeinen Schnittmenge liegt. Und viele Leute schießen sich auf diese eine kleine Sache ein, an die sie sich nicht gewöhnen können. Bei Joey zum Beispiel, dass er schwul ist. Manche kriegen es besser hin als andere, dass dieser äußere Teil nicht so auffällt, aber ich nicht. Und das habe ich mir gewünscht. Was denkst du dazu?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie. Sie blickte auf einmal ganz ernst.
»Ich wollte dir nicht die Stimmung vermiesen«, sagte ich. »Sorry. Was hast du dir gewünscht?«
»Vielleicht sollte ich das nicht sagen.«
»Das ist unfair, Annie.«
»Soll ich echt?«
»Ja.«
»Ich habe mir gewünscht, dass dein Wunsch in Erfüllung geht.«