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Nach dem Abendessen gingen Joey und ich mit unseren Analysisbüchern zur Verabredung mit Megan in die Bibliothek. Ich hatte von dem Treffen mit Annie draußen im Wald irgendwie ein schiefes Gefühl zurückbehalten, so als hätte ich vielleicht zu viel gesagt und das würde jetzt unsere Freundschaft gefährden, deshalb war ich ein wenig bedrückt und sagte nichts zu Joey.

Immer wieder sah ich diese Kreise vor mir. Ich hoffte, dass ich mich Annie verständlich gemacht, mich nicht wie eine weinerliche kleine Heulsuse angehört hatte. Dabei dachte ich auch an Joey, daran, wie mies und schrecklich einsam er sich manchmal fühlen musste, und genau aus dem Grund gab ich mir immer besondere Mühe, die Sache an ihm nicht zu bemerken, die man eh nicht bemerkte.

Wir blieben in der Bibliothek, bis sie uns um Viertel vor zehn vor die Tür setzen. Megan sah zum Fingerschlecken gut aus, und sie grinste ganz breit, als ihr schließlich nach und nach wieder alles klar wurde. Ich nehme an, Joey und ich hoben die verdummende Wirkung auf, die Chas Becker mit seiner Brillanz ausübte.

Megan ging zwischen Joey und mir mit zur O-Hall zurück, links und rechts bei uns eingehakt. Ich gebe zu, dass ich zweimal absichtlich über einen Stein stolperte, nur damit mein rechter Arm an ihre Brust streifte, und das war krass.

Der Performancekünstler war an dem Tag voll auf der Höhe.

Bei der O-Hall angekommen sagten Joey und ich Megan gute Nacht und wollten uns zur Tür umdrehen.

»Vielen Dank, ihr zwei, dass ihr mir geholfen habt«, sagte Megan. »Ihr seid echt gute Freunde, und ich mag euch beide sehr.«

»Kein Problem«, sagte Joey.

»Genau.«

Dann trat Megan auf Joey zu und küsste ihn auf die Wange, und ich sah, dass er sie zurückküsste, ganz anständig und gesittet, als würde er so was laufend machen. Er zog die Tür zum Vorraum auf, und Megan wandte sich mir zu.

Ich dachte, ich würde gleich tot umfallen. Megan Renshaw in ihrer ganzen superscharfen Chilischärfe (fünf von fünf Habaneros) wollte mich küssen, Ryan Dean zeitlebens-noch-nie-von-einer-die-nicht-schon-beim-Sputnikstart-auf-der-Welt-gewesen-wäre-geküsster West.

Ich schloss die Augen.

Sie legte mir beide Hände seitlich auf den Unterkiefer.

Sie küsste mich direkt auf den Mund.

Und ihr Mund blieb, wo er war.

Ich glaube, sie musste mich regelrecht auf den Beinen halten, als sie mir die Zunge zwischen die Lippen schob.

Dann legte sie ihr Gesicht an mein Ohr und flüsterte: »Ich finde dich wirklich entzückend.«

Na gut, ich gebe zu, dass ich das Wort nicht mehr unausstehlich fand.

Dann drehte sie sich um und eilte davon.

Als ich Joey auf der Treppe abklatschte, stellte ich einen neuen Homo-Hetero-Highfive-Weltrekord auf.

Und er sagte: »Wegen mir musst du dir keine Sorgen machen. Ich werde Chas nicht erzählen, dass du mit Megan rumgemacht hast. Er ist eh ein Wichser, und du weißt selber, dass er dich dafür umbringen würde.«