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Am Ende der ersten Oktoberwoche war es im Kaskadengebirge an der Pine Mountain Academy eisig kalt. Ansonsten lief alles einfach von Tag zu Tag weiter wie gehabt.
Wir spielten noch zweimal Poker, immer sonntagnachts, weil dann die andern von ihrem Wochenende zurückkamen. Aber ich trank nach diesem ersten Mal nie wieder Bier. Chas wollte mich dazu zwingen, und ich dachte schon, ich müsste deswegen einen Boxkampf mit sicherem tödlichen Ausgang für Ryan Dean West bestreiten, aber Joey ging dazwischen und machte Chas klar, dass er bei dem Kampf mitmischen würde. Ich verlor sogar ein weiteres Mal, beim zweiten Spiel, und diesmal musste ich mitten in der Nacht nur in Boxershorts über den See schwimmen. Es war so kalt, dass ich kaum atmen konnte, und während ich durch diese flüssige Hölle kraulte, war ich mir sicher, Mrs Singer würde sich in ein vielarmiges Monster verwandeln und mich in ihre eiskalte schwarze Höhle hinabziehen.
Nachdem wir in Literatur Billy Budd von Herman Melville durchgenommen hatten, war ich überzeugt, dass Mr Wellins irgendwie pervers sein musste, denn er glaubte, dass alles, was wir lasen, mit Sex zu tun hatte. Ihm zufolge ging es in »Rappaccinis Tochter« um Inzest, und er vertrat die Auffassung, in Billy Budd gehe es um Homosexualität. Mr Wellins meinte, dass es nicht darauf ankam, was ein Schriftsteller mit seinem Werk sagen wollte, sondern ganz allein darauf, was es dem Leser sagte, und ich verstand, glaube ich, worauf er hinauswollte, aber ich hielt ihn trotzdem für einen scheußlichen alten Perversen. Ich fand, dass Melville einfach einen guten Roman geschrieben hatte, aber was weiß ich schon?
Mitte Oktober hatte Coach M die fünfzehn Leute für die Startaufstellung im Rugbyteam so ziemlich beisammen. Ich behielt meinen Platz als Nummer elf und meinen Spitznamen, JP war Fullback, Seanie Scrum-half, und das restliche Team bestand aus den Zwölftklässlern, die schon im Jahr davor dabei gewesen waren, darunter Chas, Kevin und Joey. Wir trainierten außerdem für unser erstes Freundschaftsspiel vor der eigentlichen Saison gegen die Sacred Heart Catholic School in Salem. Je näher das Spiel rückte, umso aufgeregter und nervöser wurden wir alle.
Apropos aufgeregt und nervös: In jener Nacht in der ersten Schulwoche, in der ich mit Megan Renshaw rumgemacht hatte, konnte ich Chas kaum ansehen, als ich ins Zimmer kam. Mir war zu Mute, als hätte ich etwas gestohlen, aber es ging mir dabei verdammt gut. Und jedes Mal, wenn Chas von da an den Mund voll nahm mit seinen Beleidigungen und Drohungen, grinste ich bloß noch und dachte mir: Deine Freundin steckt mir die Zunge in den Mund und findet es toll, und mein Grinsen brachte Chas noch mehr auf die Palme, weil er keine Ahnung hatte, woher ich auf einmal mein Selbstbewusstsein ihm gegenüber nahm.
Megan Renshaw und ich flirteten ständig in Mathe und Ökonomie, und manchmal trieben wir es richtig pervers auf die Spitze. Joey guckte nur zu und lachte über uns, und er verlor nie ein Wort zu irgendwem darüber, denn so war Joey Cosentino einfach. Aber ich hatte weiterhin irgendwie Schiss vor Megan, und ich machte mir keine Illusionen darüber, wer in unserer schrägen Beziehung die Fäden in der Hand hatte.
Einmal kam sie mir sogar im Unterricht hinterher, als ich aufs Klo gehen wollte, und wir gingen ungefähr dreißig Sekunden nonstop in einer Trinkbrunnennische zur Sache wie die Wilden, und dann ließ sie mich einfach dort stehen, völlig außer Stande, aufs Klo zu gehen, noch weniger zurück in den Unterricht.
Ich kam mir ziemlich mies vor wegen der ganzen Art, wie ich mit der megaheißen Megan rummachte. Vor allem hatte ich, ganz ehrlich, vorher und nachher echte Gewissensbisse. Nur währenddessen – wenn Megan mit ihrem Mund meinen förmlich verschlang und mich unter ihren Pullunder fassen ließ – meldete sich mein Gewissen überhaupt nicht. In den Situationen war ich definitiv nicht mit Gewissensbissen beschäftigt.
Wenn ich nicht in ihrer Nähe war – und somit vernünftig denken konnte – und mich nicht gerade in kranken Fantasien über Stewardessen oder Halloweenkostüme erging, fühlte ich mich schrecklich, weil ich merkte, dass ich zu Chas Becker genauso arschlöchig war wie er zu allen andern, und ich gab mir alle Mühe, nicht daran zu denken, wie es Annie gehen würde, wenn sie das mit uns herauskriegte.
Die Sache zerriss mich, abgesehen von den paar Minuten zwischendurch, in denen Megan mir nachstellte und diesen Ryan-Dean-Verhaften-Blick der strengen Polizistin bekam, aber ich hatte das Gefühl, dass ich mit niemandem über die Sache reden konnte. JP und Seanie würden es allen weitererzählen. Scheiße, Seanie würde eine Website darüber machen. Auf keinen Fall konnte ich mit Annie reden, denn ich wusste, dass ich Mist baute und mich schlicht und ergreifend fies verhielt (auch wenn es mir hin und wieder gefiel, den Fiesling zu spielen). Der einzige Mensch, mit dem ich offen darüber reden konnte, war Joey, und der war schwul.
Ich versuchte, Megan darauf anzusprechen, aber sie machte dicht. Ich hatte den Eindruck, dass sie mich wirklich gern mochte, und das machte mir ein noch schlechteres Gewissen wegen Annie. Letztlich, schien mir, wollte sich Megan Renshaw nur deshalb mit der Trophäe Chas Becker schmücken, weil alle andern Mädchen an der Pine Mountain ihn haben wollten. So war sie einfach. Für Megan war es ein Spiel, und bei der Vorstellung, wie traurig und einsam sie am Ende dasitzen würde, tat sie mir richtig leid.
Am letzten Montag vor dem Spiel in Salem gingen Joey und ich nach dem Training zusammen zurück zur O-Hall.
»Ach, was ich dich noch fragen wollte, Ryan Dean«, begann Joey. »Was hat es eigentlich mit dieser Website von Casey Palmer auf sich? Ich hätte gar nicht gedacht, dass er so … extrovertiert ist, aber ich kann mich ja irren.«
Volltreffer. Ich hatte Joey dazu gebracht, sich Seanies Eier anzugucken.
Das war in der Tat der Stoff für zukünftige epische Sonette.
»Ich hab nur davon gehört«, sagte ich. »Ich hab sie selbst nicht gesehen.«
»Na klar«, sagt er und lachte, als ob er mir nicht glaubte. »Und warum hast du dann so viele Kommentare darüber gepostet, wie schwul Casey ist?«
Seanie. Selbst wenn du denkst, du hast ihn endlich mal ausgetrickst, macht er dir klar, dass er schon wieder einen Schritt schneller ist als du.
»Seanie Flaherty ist ein Sack«, sagte ich.
Joey lachte.
Ich seufzte.
Und Joey sagte: »Ihr solltet mit Casey Palmers Ego lieber nicht so rumfucken. Ich hab den Typ schon ziemlich üble Sachen machen sehen.«
»Zum Beispiel?«, fragte ich.
»Er flippt aus. Er kann gewalttätig werden«, sagte Joey.
»Oh.« Ich zuckte die Achseln. »Ich sage Seanie, er soll es lassen. Aber er wird nicht auf mich hören.«
»Seanie hört auf niemanden.«
»Joey, ich muss dich was fragen. Du bist der Einzige, mit dem ich darüber reden kann, und es quält mich echt. Was meinst du, was ich wegen Megan machen soll?«
»Du machst doch eh, was du willst, wie es aussieht. Oder was sie will«, sagte Joey.
»Irgendwer wird dahinterkommen.«
»Ganz bestimmt«, pflichtete er bei.
»Eben. Es ist mir egal, was Chas mit mir macht, wenn er dahinterkommt, denn ich hab’s echt verdient. Es ist einfach unfair, einen andern so zu behandeln, selbst wenn es Chas ist, vor allem aber, wenn du mit ihm im selben Team spielst. Aber ich mag Megan wirklich gern. Sie ist superklug. Und sie ist wahnsinnig heiß.«
»Ryan Dean, ich weiß, du würdest dir schreckliche Vorwürfe machen, wenn jemand, den du gern magst, am Ende deswegen leiden würde.«
»Annie zum Beispiel.«
»Genau. Und außerdem, liebst du Annie nicht oder so?«, fragte Joey.
»Alter, ich bin so wahnsinnig in Annie Altman verliebt, dass ich nicht mehr normal denken kann. Das meine ich nicht in Abgrenzung zu schwul.«
Joey grinste.
»Offensichtlich kannst du gar nicht denken, ob normal oder sonst wie«, sagte Joey. »Deshalb machst du ja mit Megan rum.«
Dann hielt Joey an, und er sah mir direkt die Augen. Er wirkte auch irgendwie angepisst. »Es ist eine Sache, zu Betch ein Arschloch zu sein. Er hat es verdient. Aber warum willst du Annie wehtun? Fuck noch eins, Ryan Dean, warum wirst du nicht mal erwachsen? Zum allermindesten musst du mit Annie darüber reden. Sie ist doch deine beste Freundin, oder?«
Ich blieb wie angewurzelt stehen.
Ich hatte von Joey noch nie derart die Meinung gesagt bekommen.
Es tat weh.
Er sagte: »Sorry.«
»Nein, Joe. Du hast ja recht.« Ich seufzte.
Wir setzten uns wieder in Bewegung. »Wie kommt es, dass du diese Probleme nicht hast?«
»Haben sie dir ins Hirn geschissen oder was, Ryan Dean?«
Ich schubste ihn. »War nur ein Witz, Joey.«
Joey lächelte, und ich sagte: »Aber weißt du was, das mit dem Jungen-lieber-haben-als-Mädchen kapiere ich echt nicht. Nichts für ungut, du weißt ja, dass ich dich trotzdem mag, so oder so. Ich kapier’s bloß nicht.«
»Ryan Dean.«
»Was?«
»Halt die Klappe.«
»Okay.«
Ich bin voll der Loser.
Egal was Megan mir anbot oder womit sie mich lockte, ich hörte nicht auf, nach der total heißen Annie Altman total verrückt zu sein. Mit Megan zu spielen war, als spielte man mit einer Klapperschlange. Na ja, einer superheißen Klapperschlange. Mit unglaublichen Titten. Die Ryan Dean West tatsächlich angefasst hatte.
Ich wusste, dass Joey recht hatte.
Ich musste aufhören.