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Das Rugbytraining kam. Es war unser letztes hartes Training vor dem Spiel.

Ich wollte jemanden umnieten. Ich wollte auch selber was abbekommen.

Nach zwei Stunden Lauftraining, Verteidigungstechniken und Konditionstraining waren wir alle am ganzen Leib mit Schweiß, Gras und Staub bedeckt. Es war das härteste Training des ganzen Jahres, und Coach M erklärte uns, er werde uns kein Spiel machen lassen wie sonst immer zum Abschluss, er wolle uns keine Fehler machen sehen.

Stattdessen fand am Ende ein Kräftemessen statt, das wir Sumo nannten, eine Trainingsübung Mann gegen Mann, bei der ein Ballführer gegen einen Verteidiger anrennen und den Ball in einem sehr kleinen Kreis im Gras ablegen muss. Und die Übung ist erst zu Ende, wenn der Ball dort liegt, und wenn es noch so lange dauert. Ich habe es schon erlebt, dass Spieler vor Erschöpfung zusammenbrechen, wenn sie den Ball gegen einen sehr harten Verteidiger nicht in den Kreis bekommen.

Nachdem ungefähr das halbe Team durch war, stand Kevin in der Mitte als Verteidiger gegen Chas. Es war ein erbitterter Kampf. Sie waren gleich groß und gleich stark, und kurz bevor Chas den Ball in den Kreis legen konnte, holte Kevin ihn jedes Mal von den Füßen und machte noch eine spöttische Bemerkung, die Chas in Rage brachte.

Schließlich, glaube ich, wurde Kevin entweder müde oder hatte Mitleid mit Chas, denn Chas bekam mit einem Hechtsprung seinen Arm an ihm vorbei und den Ball in den Kreis, begleitet von einem herzlichen: »Fick dich, Kevin.«

Kevin half ihm auf die Füße, und ich blickte zu Coach M hinüber, der so tat, als hätte er Chas’ Fluch nicht gehört.

Jetzt stand Chas in der Mitte, und bei uns läuft es so, dass der Mann in der Mitte ansagt, wer gegen ihn antreten soll.

Ich wusste schon, wen ich aufrufen würde, wenn ich drankam.

Chas sah sich im Kreis seiner schmutzigen und müden Teamkameraden um, und er warf mir den Ball knallhart zu und sagte: »Winger.«

So ein Arsch.

Ich grinste.

Chas stellte sich vor den kleinen Kreis im Gras, ging in die geduckte Abwehrstellung und fixierte mich grimmig. Ich lief zwei Schritte auf ihn zu und stockte. So lahmarschig, wie er war, kriegte er mich nie, das wusste ich. Ich täuschte eine Richtung an, schoss dann blitzschnell in die andere und an ihm vorbei und legte den Ball ab, ohne dass Chas mir auch nur einen Schweißtropfen abstreifte.

Die Jungs im Team lachten Chas aus und murmelten »Betch«, und er drehte sich zu mir um und machte mit den Lippen so leise »Fick dich«, dass der Trainer es nicht hören konnte.

Jetzt hatte ich den Ball. Normalerweise hätte ich Bags aufgerufen, einen unserer anderen Wings, weil wir ungefähr gleich groß waren, auch wenn er älter war, aber ich hatte vorher schon beschlossen, dass für mich, wenn ich den Ball hatte, nur einer als Gegner in Frage kam.

»Sartre«, sagte ich.

Alle mussten sich denken, dass das kein richtiger Kampf werden würde, dass es einem von JPs Stärke und Antritt nicht schwerfallen konnte, tief zu bleiben und mich einfach über den Haufen zu rennen, dass ich verrückt sein musste, unseren Fullback aufzurufen.

Ich hörte ein paar leise »Ohos« aus der Runde, und ich warf JP den Ball so niedrig zu, auf Kniehöhe, dass er sich bücken musste, um ihn zu fangen. Es war ein mieser Trick, ich gebe es zu. Denn ich sauste sofort los, und kaum hatte JP den Ball in den Händen, flog ich ihm schon in die Beine, Schulter voran, wickelte mich um ihn und warf ihn zu Boden.

»Fuck«, knurrte JP, als ich ihn umnietete.

Beim Aufspringen stützte ich mich mit der Linken so fest wie möglich auf seine Eier, und JP stöhnte auf und krümmte sich und ließ dabei den Ball los. Als er ihn sich wieder angeln wollte, kickte ich ihm den Ball aus der Hand und trat seine Finger gleich mit. Ich weiß, das war gemein, aber ich war stinksauer auf JP, und mittlerweile hatte er das sicher mitgekriegt, denn er musste aufstehen und hinter dem Ball herjagen, um den nächsten Anlauf zu starten.

JP brach durch den Kreis der Jungen, die uns umstanden und zuschauten. Als er den Ball holen lief, den ich fortgetreten hatte, kam ich direkt hinterher. Ich bemerkte, dass Coach M sich an der Außenseite des Sumorings auf uns zubewegte. Er wirkte amüsiert.

Kaum hatte JP seine Finger am Ball, holte ich ihn wieder von den Beinen, wobei ich ihm diesmal das Trikot aus der Hose riss und ihn daran mitschleifte, bis es ganz draußen war und ihm über den Kopf ging. Wir waren jetzt ungefähr drei Meter außerhalb des Rings, und die andern ließen für JP eine Lücke frei, damit er hindurchlaufen und den Ball ins Ziel bringen konnte. Falls er an mir vorbeikam.

JP stand auf, den Ball zu Füßen, und stopfte sich das Trikot in die Hose zurück.

Er hatte grüne und schwarze Gras- und Erdstriemen im Gesicht.

»Was soll der Fuck, Ryan Dean?«

»Mäßige dich, JP«, ermahnte ihn Coach M. Er fügte hinzu: »Gut gemacht, Elfer.«

Ich glaube, ich war noch nie im Leben körperlich so aggressiv gewesen, aber ich konnte an nichts anderes denken als an JP und seine süffisante Ankündigung beim Mittagessen, er würde meine Freundin ausführen, und an Annies Rat, ich müsste dieses Jahr die Zähne zusammenbeißen. Ich hatte diesen Scheißdreck gründlich satt, hatte es satt, mich wie einen kleinen Bubi behandeln zu lassen, vor allem von meinen besten Freunden, und ich dachte gar nicht daran, das noch länger hinzunehmen.

»Süßes oder Saures, Stinkmaul«, sagte ich.

Ich bin sicher, Coach M musste darüber nachdenken, und da er nichts sagte, stimmte er mir wohl zu, dass »Stinkmaul« kein richtiges Schimpfwort war.

JP grinste. »Oh. Verstehe. Na gut, Winger. Auch dir ein fröhliches Halloween.«

Jetzt hatten es alle gespannt. Beim Streit zwischen JP und mir ging es ums Ganze, und das war der einzige Streit, der an der PM unter Umständen geduldet wurde.

Er rannte abermals gegen mich an, diesmal jedoch entwischte er meinem Tackling, und ich fiel hin und schaffte es nur, meine Armbeuge fest um sein linkes Fußgelenk zu schlingen. Ich rollte auf den Bauch, und JP fiel auf mich drauf und rammte mir dabei beide Knie in den Rücken (bestimmt absichtlich, aber es war seinerseits eine völlig faire Aktion). Es fühlte sich an, als würde er mir die Rippen brechen, aber beim Hineinknien ließ JP den Ball fallen und verlor den linken Schuh, und ich bekam ihn in die Hand.

Ich rappelte mich auf. Ich schwitzte und hatte Schmerzen. Mir hämmerte das Herz gegen Rippen und Brustbein. Ich wusste, dass ich so gut wie erledigt war, dass ich JP nicht viel länger vom Kreis abhalten konnte, und ihn machte die Sache langsam richtig wütend.

Was bei ihm wahrscheinlich das Fass zum Überlaufen brachte, war, dass ich, als er wieder aufstand, seinen Schuh so weit übers Feld schleuderte, wie ich konnte, und damit einige Lacher erntete.

Ich hörte Seanie sagen: »JP muss Wingers Stöckchen apportieren«, und er erntete damit noch mehr Lacher.

JP stand keuchend da, den Ball fest im Arm. Er blickte sich nach seinem weggeworfenen Stollenschuh um, dann fixierte er mich mit einer Miene, in der kein Fünkchen Freundschaft mehr lag. Er ging tief, senkte den Kopf und rannte mit nur einem Schuh an den Füßen mit voller Geschwindigkeit gegen mich an.

Als ich mich frontal auf ihn warf, hielt JP voll dagegen und landete mit ganzer Wucht auf mir. Er ging ebenfalls zu Boden, doch er stieß mir das Knie ins Gesicht, und als er mein Auge traf, hörte ich etwas platzen, wie wenn man auf eine Weinbeere tritt. Ich erinnere mich an die »Ooh«-Rufe, als ich mich aufsetzte, und beim Versuch, auf die Beine zu kommen, sah ich ein rot verschmiertes Bild von JP, wie er hinter mir den Ball ablegte, und im nächsten Moment waren Seanie und Joey bei mir und legten mir die Hände auf die Schultern und redeten auf mich ein, ja nicht aufzustehen.

Alle versammelten sich um mich.

Ich blickte auf meinen Schoß. Überall war Blut. Ich fühlte, wie es mir übers Gesicht und auf mein Trikot lief, wie es auf meine schmutzigen Beine tropfte.

Coach M kniete sich neben mich. »Lass mal sehen«, sagte er. Ich merkte, dass mein linkes Auge aus irgendeinem Grund geschlossen war, deshalb drehte ich den Kopf, um ihn anzuschauen.

»Das wird genäht werden müssen«, sagte er.

Dann hing mir Seanie direkt vor der Nase und sagte: »Man sieht seinen Schädel! Man sieht seinen Schädel!«

Was wahrscheinlich so ziemlich das Letzte ist, was man in so einem Moment hören will, auch wenn Seanie freudig erregt über die Entdeckung klang.

Ich wollte mich hinlegen, aber sie ließen mich nicht. Der Physio war da und machte mir mit Mullbinden und Pflaster einen festen Verband um den pochenden Kopf, direkt über dem linken Auge. Dann fassten mich Seanie und Joey links und rechts unterm Arm und halfen mir auf die Füße.

Mir war schwindlig und mir tat alles weh, aber ich zwang mich, nicht umzukippen.

Ich erinnere mich, dass Coach M anordnete, mich in den Buggy zu setzen und hinunter zum Arzt zu fahren, und ich sah JP vor mir stehen, den Stollenschuh in der Hand, den ich fortgeschleudert hatte.

»He. Sorry, Ryan Dean.«

»Ja. Wurscht.«