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Achtzehn Stiche waren nötig, um die klaffende Platzwunde über meiner Augenbraue zu schließen, teils unter der Haut und teils darüber. Aber die Wunde selbst war nicht so groß. Der Arzt ließ mich die Narbe im Spiegel anschauen, als er fertig war, aber ich achtete hauptsächlich darauf, wie grässlich der Rest von mir aussah. Ich war schmutzig und schwitzig, und auf der Haut und in den Haaren klebte mir schwarzverkrustetes Blut.

Seanie und Joey blieben bei mir, während der Arzt die Wunde versorgte, aber beim eigentlichen Nähvorgang durften sie nicht zu nahe dabeistehen. Ich sagte die ganze Zeit dort kein Wort, ich konnte an nichts anderes denken als an JP und Annie und daran, wie wütend ich war.

Dann verließ der Arzt den Raum, und eine atemberaubende Krankenschwester kam herein (fünf von fünf möglichen brasilianischer-Karneval-mäßigen Tuttifrutti-Hüten auf dem Ryan-Dean-West-Sambamometer) und forderte mich auf, den Kopf auf das Kissen zu legen.

»Jetzt wollen wir mal dieses blutige Hemd ausziehen«, sagte sie zuckersüß. »So. Schön die Arme heben.«

Und sie hatte – o mein Gott – ein Stahlbecken mit warmen feuchten Handtüchern dabei!

Sie zog mir das Trikot aus der Hose und ganz sanft und behutsam über den Kopf. Als es ganz herunter war, schaute ich mich kurz im Zimmer um, ob meine Uroma und dieser überfahrene Chihuahua da waren. Ich war fest überzeugt, dass ich gestorben und in eine viel, viel bessere andere Welt gekommen war.

Dem Himmel sei Dank für Kompressionshosen.

»Boiiing!«, sagte Seanie.

Ich musste lachen. »Halt die Klappe.«

Ich muss sagen, manchmal enttäusche ich mich selbst. Denn wenn mich in dem Moment jemand nach Annie gefragt hätte, wäre meine Antwort mit Sicherheit gewesen: »Wer ist das?«

»Tut es weh?«, fragte sie. Sie wischte mir sanft mit einem warmen Handtuch übers Gesicht und begann, meine Haare mit einem zweiten nassen Handtuch sauber zu reiben.

Ich bemühte mich, besonders traurig zu gucken. »Nur ein bisschen.«

Das war gelogen. Ich spürte überhaupt nichts.

»Och«, sagte sie.

Wenn ich ein Kater gewesen wäre, hätte ich geschnurrt.

Wenn ich ein Alligator gewesen wäre, hätte mich das hypnotisiert.

Aber da ich nur meine Wenigkeit war, blieb mir nichts anderes übrig, als dort zu liegen und mir sämtliche perversen Träume, die ich gut und gern seit meinem siebten Lebensjahr gehabt hatte, durch den Kopf gehen zu lassen.

Sie warf die ersten blutverschmierten Handtücher auf ein Tablett neben dem Bett und nahm sich zwei neue. Sie wischte mir Hals und Schultern ab. Sie rieb mir mit einem Schwamm die Stellen auf Brust und Bauch ab, wo das Blut angetrocknet war, bis hinunter zum Hosenbund. Sie trocknete mir sogar die dünnen Härchen in meinen Achselhöhlen, was ein bisschen kitzelte, aber ich hätte unter gar keinen Umständen gekichert. Ich hätte am liebsten die Augen geschlossen, aber ich konnte nicht aufhören, ihre wahnsinnig heiße Erscheinung anzugaffen. Dann wischte sie mir behutsam das Blut von den Knien und weiter oben von den Schenkeln bis dort, wo meine Kompressionshosen endeten, und an dem Punkt wurde ich so nervös, dass ich Schluckauf bekam.

Ich bin voll der Loser.

Sie legte alle schmutzigen Handtücher neben dem Bett auf einen Haufen und sagte: »Jetzt siehst du wieder ganz adrett aus. Du hast keine Gehirnerschütterung, deshalb wirst du nicht über Nacht hierbleiben müssen …«

Verdammt. Äh … du siehst selber nicht schlecht aus.

»… aber du musst es in nächster Zeit ein bisschen sachte angehen lassen …«

Ich kann mich im Moment eh nicht bewegen.

»Wir rufen deine Eltern an und sagen ihnen Bescheid. Möchtest du mit ihnen sprechen?«

NEIN!

»Äh.« Hicks. Kacke. »Sagen Sie ihnen nur« – hicks! – »es geht mir gut.«

»Hast du was Frisches zum Anziehen?«

Nein, und die übrigen schmutzigen Sachen ziehst du mir auch lieber aus. Macht mir gar nichts.

»Wir können seine Sachen aus der Kabine holen«, sagte Joey.

Halt’s Maul!!!

»Das ist sehr lieb von euch. Vielen Dank«, sagte sie, dann raffte sie die Handtücher zusammen und warf sie beim Hinausgehen in einen Wäschekorb neben der Tür. »Ich bin gleich wieder da, Jungs.«

»Alter«, sagte Seanie. »Das war ja wie Pornogucken. Krankenschwestern ohne Grenzen

»Puh.« Ich schloss die Augen und ließ die Arme links und rechts aus dem Bett hängen. »Ich dachte, ich werde« – hicks – »oh … ohnmächtig. Sagt mir bitte, dass das eben wirklich passiert ist.«

»Ich kann nur eins sagen: Komme, was wolle, ich werde mir morgen den Schädel aufschlagen«, sagte Seanie. »Und wenn du willst, Ryan Dean, gehe ich sie holen und sage ihr, sie hat eine Stelle ausgelassen.«

»O mein Gott. Würdest du das für mich tun, Seanie?«

»Alter, für so einen kleinen Knirps bist du echt pervers.«

Ich lachte.

Die Tür ging wieder auf, und Coach M kam herein. Er trug meine Sachen aus der Umkleide an einem Kleiderbügel über der Schulter. In der andern Hand hielt er meine Schuhe und meinen Bücherrucksack.

»Die habe ich dir mitgebracht, Ryan Dean«, sagte er. »Das spart dir einen unnötigen Gang.«

»Vielen Dank, Coach.« Ich setzte mich auf die Bettkante und ließ die Füße baumeln. Bevor die Tür zuklappte, sah ich etliche Jungs aus dem Team geduscht und umgezogen draußen warten. Es gab mir ein echt gutes Gefühl, dass sie gekommen waren, wenn auch nicht ganz so gut wie diese Waschung gerade.

»Und danke euch beiden, dass ihr euch um euern Kumpel gekümmert habt«, sagte Coach M zu Joey und Seanie. »Komm, lass mal sehen.«

Ich legte den Kopf zurück, damit der Trainer sich meine Narbe anschauen konnte.

»Willkommen im Reißverschlussverein, Ryan Dean«, sagte er. Das sagen Rugbyspieler, wenn jemand genäht worden ist.

»Flaherty«, sagte Coach M, »du kannst dich jetzt duschen und anziehen gehen. Ich möchte mit Ryan Dean und seinem Kapitän sprechen.«

»Meinst du, du bist zum Essen wieder da?«, fragte mich Seanie.

»Auf jeden Fall.«

Seanie ging. Seine Metallstollen klackten auf dem blitzblanken Fußboden der Krankenstation, dann hörte ich ihn draußen mit den andern reden.

Ich begann mich umzuziehen. Ich zog meine Sporthose aus. Genau jetzt, dachte ich mir, wäre es echt cool, wenn die Krankenschwester wieder reinkäme.

»Die Naht darf nicht nass werden«, sagte der Coach.

»Das haben die mir schon gesagt«, entgegnete ich. »Achtzehn Stiche. Aber keine Gehirnerschütterung.«

Ich wusste, worauf das hinauslief. Bei einer Gehirnerschütterung wäre ich ziemlich lange nicht mehr aufgestellt worden.

»Ich hab dich noch nie so rangehen sehen, Ryan Dean«, sagte der Coach. »Das hatte Feuer, gelinde gesagt. Ist irgendwas zwischen dir und Tureau, das du mir erzählen möchtest?«

Ich saß in der Klemme. Ich musste die Wahrheit sagen, vor allem vor Joey. Und Coach M duldete keine Streitigkeiten im Team. Er musste mich wahrscheinlich rausschmeißen, und ich hatte es wahrscheinlich auch verdient. Ich zog die Strümpfe an, und während ich mir das Hemd zuknöpfte, wich ich ihren Blicken aus und überlegte, was ich sagen sollte.

Ich fühlte mich miserabel. Vielleicht sah man es mir an den Augen an.

Ich sagte: »Coach, JP und ich –«

Joey unterbrach mich. »Sie wollten einfach ausprobieren, wie weit sie gehen konnten. Und Ryan Dean hat bewiesen, dass er in die Startaufstellung gehört, Coach.«

»Aha. Ich dachte, ich hätte da noch etwas anderes gewittert.«

»Ryan Dean und JP sind gute Freunde, Coach.«

Also das war jetzt ein bisschen übertrieben, fand ich. Ich blickte Joey an, dann den Trainer. Ich zog meine lange Hose an und fing an, mir den Schlips zu binden.

Coach M wandte sich Joey zu. »Wer kann am Donnerstag auf dem linken Flügel spielen?«

»Ich«, rief ich dazwischen, bevor Joey antworten konnte.

»Ich kann dich so nicht spielen lassen, Ryan Dean. Was soll ich deinen Eltern sagen, wenn du dich noch mal verletzt?«

»Dann sagen Sie ihnen, was sie eh schon wissen. Dass es mit zum Spiel gehört. Bitte, Coach! Ich habe keine Gehirnerschütterung. Ich spiele einfach mit Kopfverband. Das ist doch üblich in solchen Fällen. Gar nichts Besonderes. Ich will wirklich unbedingt spielen, Sir.«

Ich musste mir keine gespielten Tränen abpressen. Bei dem Gedanken, in unserem ersten Spiel auf der Bank zu sitzen, kamen mir ganz echte.

»Ich will Ryan Dean bei mir hinten haben, Sir. Er ist unser bester Wing. Das wissen Sie«, sagte Joey.

Memo an mich selbst: In deinem Gebet heute Abend unbedingt Gott für drei Sachen danken: a) diese unglaublich heiße Krankenschwester, b) Kompressionshosen und c) Joey Cosentino.

»Ich denke drüber nach«, sagte der Coach. Dann ging er zur Tür, machte sie einen Spaltbreit auf und rief: »JP

JP kam langsam hereingeschlichen, den Blick gesenkt. Ich sah, dass ihn das Gewissen zwickte, aber seine Gefühle waren mir egal. Wieso auch nicht? Meine waren ihm ja auch egal. Er hielt mir die Hand hin, und ich nahm sie. Der Trainer hätte das nicht von ihm verlangt, wenn ihm nicht klar gewesen wäre, dass wir Streit gehabt hatten.

»Tut mir leid, Ryan Dean.«

»Das hast du schon auf dem Platz gesagt, JP«, sagte ich. Ich schlüpfte mit den Füßen in meine Schulschuhe. »Bis morgen dann, Coach.«

Ich griff mir meine Stollenschuhe und die übrigen blutigen Trainingssachen, warf mir den Rucksack über die Schulter und ging stoisch hinaus, ohne mich noch einmal umzudrehen.