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Ich befürchtete schon, Joey würde draußen warten, als ich zur O-Hall zurückging. Ich wollte mir nicht schon wieder einen Vortrag über Megan anhören. Aber draußen stand niemand, und so ging ich allein im Dunkeln den Weg am See entlang.

Einen Vortrag bekam ich trotzdem gehalten.

Ich blieb am Ufer stehen, um einfach auf den schwarzen See hinauszuschauen, da meldete sich diese stänkernde und frotzelnde Stimme in meinem Kopf, die ungefähr so ging:

RYAN DEAN WEST 2: Und was willst du jetzt wegen Megan unternehmen?

RYAN DEAN WEST 1: Selber. Was willst du wegen Megan unternehmen?

RYAN DEAN WEST 2: Du bist voll der Loser.

RYAN DEAN WEST 1: Und sie ist voll fünf von fünf Space Needles in der Ryan-Dean-West-Hall-of-Fame für Formursachen männlicher Architektur.

RYAN DEAN WEST 2: Du musst viel Zeit damit verbringen, dir solchen perversen Kram auszudenken.

MR WELLINS: Was beweist, das Sex tatsächlich die Triebkraft hinter allem ist.

RYAN DEAN WEST 2: Sex existiert in Ryan Dean Wests Universum gar nicht. Nicht einmal in der Architektur. Da ist alles mickerschlapp und -schlaff.

MR WELLINS: Guter Einwand. Vielleicht muss ich meine Theorie noch nachjustieren.

RYAN DEAN WEST 1: He! Wie ist der alte Perversling in mein Stück reingekommen?

RYAN DEAN WEST 2: Dein Kopf ist in der Wüste der Reinheit die reinste Oase für alles Perverse. Also, um aufs Thema zurückzukommen: Du weißt, was du wegen Megan tun musst. Also tu es.

MRS KURTZ: Vergiss nicht deine Arbeitsgruppe morgen Abend, Ryan Dean!

RYAN DEAN WEST 1: Puh.

(Ryan Dean West wirft einen Stein in den See.)

ANNIE: Was machst du da, Ryan Dean?

Oh, Moment mal … das war ja in echt.

»Was machst du da, Ryan Dean?«

Und sie hat mich Ryan Dean genannt.

»Nichts. Ich hab nur nachgedacht.«

Ich drehte mich um und blickte sie an.

Sie war zu schön, wie sie da im Dunkeln stand. Ich musste daran denken, was Seanie gesagt hatte – warum ich nicht Nägel mit Köpfen machte und sie küsste. Herrje, was konnte denn im schlimmsten Fall passieren? Nicht wahr? Wir kannten uns seit über zwei Jahren, und ich hatte nur zweimal ihre Hand gehalten. Gott! Ich wollte sie furchtbar gern küssen, aber ich hatte nicht den Mumm dazu.

Ich bin voll der Loser.

»Und worüber denkst du nach?«

Ich grinste. »Gott, Annie. Kennst du mich inzwischen nicht?«

Sie lachte. »O doch. Du bist voll pervers, Ryan Dean.«

Wow. Jetzt hat sie mich schon zweimal so genannt.

Ich sah das ehrliche Lächeln in ihren Augen. Das liebte ich an ihr.

Sie legte sich die Finger an die eigene Augenbraue, als ob ich ein Spiegelbild wäre oder so. »Tut es weh?«

»Nicht so richtig.«

»Du bist sauer auf mich, stimmt’s?«

»Ein bisschen.« Ich seufzte. »Es ist bescheuert. Ich kann nichts dagegen machen.«

»Seanie sagt, ihr hättet echt Streit gehabt, du und JP

Ich blickte auf den See hinaus. Ich wollte mit Annie nicht darüber reden. »Ich kriege Ärger, wenn ich nicht in so was wie zwei Minuten in der O-Hall bin, Annie.«

»Dann komm«, sagte sie. Sie nahm meine Hand und begleitete mich.

Vor der Tür zum Vorraum blieben wir im Dunkeln stehen.

»Gute Nacht, Annie.«

Sie ließ meine Hand nicht los.

»Warte«, sagte sie. »Sei nicht sauer, Ryan Dean. Ich freue mich so auf das Wochenende. Bitte sei nicht sauer auf mich.«

Und ich dachte: Pfiffiges Mädel. Klingt beinahe so wie ich, als ich vor Mr Farrow so tat, als müsste ich weinen.

»Okay, Annie.«

Sie trat ganz dicht an mich heran. Ihre offene Jacke kitzelte mich sogar, als sie an den Reißverschluss meiner Hose streifte, und mit einem Mal hatte ich JP und meine Wunde und überhaupt alles auf der Welt vergessen, was sich oberhalb meiner Taille abspielte, alles außer Annie Altman. Unsere Lippen waren nur Zentimeter voneinander entfernt, und ich spürte ihre Wärme und roch dieses krasse Zeug, dass sie sich auf die Haare tut, und ich dachte: O mein Gott, sie wird mich endlich küssen. Endlich werden wir uns küssen, und das wird das Beste sein, was ich in meinem ganzen armseligen Leben jemals gefühlt und geschmeckt habe, und ich wusste, dass wir uns küssen würden, und genau in dem Moment ging die Tür auf und die gletschermäßig unheiße Mrs Singer streckte den Kopf heraus und sagte: »Junger Mann, du wirst dich verspäten, wenn du dich nicht auf der Stelle bei deinem Erzieher meldest!«

Das war, als hätte man mir einen Niagarafall rasiermesserscharfer Eiswürfel in den Hosenschlitz geschüttet. Ach, und einige dieser Eiswürfel waren zudem noch geformt wie rostige Bärenfallen und Drillingshaken.

Sie musste eine Hexe sein.

Annie ließ meine Hand los und drehte sich um.

»Bis Morgen, West«, sagte sie.

Ich seufzte. Am liebsten wäre ich ihr gefolgt und hätte Nägel mit Köpfen gemacht, wie Seanie es mir geraten hatte, aber die Gelegenheit war vorbei, und Mrs Singer stand da und beobachtete mich mit starrem Blick, die Tür wegen der Kälte und Dunkelheit nur halb geöffnet.

Sieh ihr nicht in die Augen!

Während ich an Mrs Singer vorbeiging, hielt ich den Blick gesenkt, um nur nicht mit dieser seelenleckenden, durchfallfluchwirkenden Hexe aneinanderzugeraten. Da fühlte ich ihre arktisch kalten Finger auf meiner Schulter, und sie sagte: »Dein Kopf würde sich auf einem Servierteller ganz nett machen.«

Ich quiekte wie ein erschrockenes Mäuslein und flüchtete zur Treppe.

Na gut, um ganz ehrlich zu sein, sagte sie eher so was wie: »Dein Kopf sieht gar nicht gut aus. Was machst du denn für Sachen?« Aber das konnte auch mit zu diesem Fluch oder so gehören, mit dem sie mich peinigte, seit sie mich in der Mädchentoilette beim Pinkeln erwischt hatte. Und während ich die dunkle Treppe hinaufhastete, sagte sie entweder »Ja, hab du nur Angst!« oder »Wovor hast du Angst?«. Aber wieder kann ich nicht sicher sagen, was es war, wenn ich ganz ehrlich sein will. Aber ich schwöre, ich schwöre, ich habe sie, glaube ich, wirklich etwas über »eine katastrophale Verletzung an deinem Penis« sagen hören, als ich gerade die Tür der Jungenetage hinter mir zuschlug.

Durchfall halte ich aus, aber das mit der katastrophalen Penisverletzung rührt in jeder Jungenseele die tiefsten Ängste auf, die man sich vorstellen kann.

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Ich war verschwitzt, verletzt, abgehetzt und verängstigt. Aber wenigstens war ich nicht zu spät.

Ich bin. Ihr wisst schon.

Voll der Loser.

Ich kam gerade noch rechtzeitig im Gemeinschaftsraum an, um mich bei Mr Farrow auf der Anwesenheitsliste einzutragen. Der Fernseher war gerade ausgestellt worden, und die meisten Bewohner der O-Hall waren im Begriff, auf ihre Zimmer zu schlurfen. Nachdem ich mich anwesend gemeldet hatte, ging ich in den Waschraum.

Ich stand eine ganze Weile vor dem Spiegel und betrachtete die Stiche, die die Platzwunde über meinem Auge schlossen. Je länger ich schaute, umso größer, schwärzer und schlimmer erschien mir die Wunde. Ich war müde und wollte zu Bett gehen. Ich drehte das Wasser an und wusch mir Hände und Gesicht.

Die Tür ging auf, und Chas kam herein. Ich hatte völlig vergessen, wie er mich angeschaut hatte, als er mit Megan abgezogen war, aber ich dachte mir, dass ich die Begegnung mit ihm größtenteils deshalb fürchtete, weil es mir ein schlechtes Gewissen machte, was seine Freundin und ich hinter seinem Rücken taten.

Damit lag ich falsch. Bevor ich meine nassen Hände auch nur in Handtuchnähe bringen konnte, packte Chas mich am Kragen, riss mich herum und knallte mich mit dem Rücken gegen einen Seifenspender, genau auf die Stelle, wo JP mir das Knie reingerammt hatte.

Aua … das waren definitiv vier von fünf möglichen Mausefallen an den Eiern auf dem Ryan-Dean-West-Schmerzometer.

»Was läuft mit dir und Megan, Winger?«

Als ich einen meiner Schuhe verlor, wurde mir bewusst, dass meine Füße über dem Fußboden baumelten, und aus vier Mausefallen wurden die vollen fünf.

»Ich hab gesehen, wie ihr beiden euch heute Abend angeschaut habt«, sagte er. »Alle sagen, du flirtest ständig mit ihr.«

»Chas, wer würde Megan denn nicht so anschauen? Sie ist superheiß«, gurgelte ich.

Ich war mir sicher, dass er gleich zuschlagen würde. Und, wie gesagt, ich hatte es verdient. Also … autsch.

Mir blieb nichts anderes übrig. Ich musste zuerst zuschlagen. Ich ballte die Rechte zur Faust und versetzte ihm einen Uppercut unters Brustbein. Ich will ehrlich sein. Es war nicht das erste Mal, dass ich jemandem einen Boxhieb verpasste, aber vom Hieb gegen Chas Becker tat mir die Hand weh. Chas lockerte seinen Griff, so dass ich wieder auf den Füßen zu stehen kam, aber er hielt mit der Linken weiter meinen Schlips fest und hob gleichzeitig die rechte Faust.

Wer Schlipse erfunden hat, kann nie in einen Boxkampf verwickelt gewesen sein.

Okay. Das würde jetzt echt hässlich werden, denn eine schnelle Berechnung der Schlagbahn, die seine Faust nehmen würde, ergab, dass der Punkt, wo sie auftreffen musste, vermutlich irgendwo zwischen dem zehnten und elften Stich lag. Ich konnte nur hoffen, dass mein traurigstmöglicher Jammerblick Marke »verletztes und vernähtes und verlorenes Hündchen« mir etwas Mitgefühl eintragen würde.

Chas erstarrte in der Ausholbewegung, als die Tür aufging. Er ließ meinen Schlips los, die Faust sank, dann drehte er sich um und sah, dass Joey ihm in den Waschraum gefolgt war.

»Was soll der Fuck, Chas?«, sagte Joey. »Siehst du nicht, dass Ryan Dean verletzt ist?«

Und Joey war ein Kämpfer. Er guckte echt angepisst und stürmte auf Chas zu und stieß ihn durch den ganzen Waschraum, praktisch in eine Duschkabine.

Er brüllte: »Rühr ihn ja nicht an! Sonst bring ich dich um, Betch!«

Ich schlüpfte wieder in meinen Schuh.

»Hab dich nicht so, Joey«, sagte Chas ruhig. »Es ist überhaupt nichts. Ich hätte ihm schon nichts getan. Es passt mir nur nicht, wie er meine Freundin angafft. Weiter nichts. Das wollte ich nur mal klargemacht haben.«

Damit verließ Chas den Waschraum, doch als er die Tür aufzog, knurrte er noch: »Ihr seid doch scheiß Schwule.«

Joey lehnte sich mit verschränkten Armen an die hellgrünen Wandfliesen und starrte mich an. Ich sah, dass er wütend war.

»Besser wär’s, er hätte mir eine reingehauen, Joey.«

Joey entgegnete nichts.

Ich ging zu Bett.