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Am Morgen saßen wir alle um sechs im Bus, um von der Pine Mountain zu unserem ersten Rugbyspiel des Jahres zu fahren. In der Nacht hatte es aufgehört zu regnen, es war also der ideale Matschtag, um ein Rugbymatch auszutragen. Fünfundzwanzig Spieler fuhren mit, die meisten auf zwei Sitzen ausgestreckt, dazu der Trainer und zwei andere Erwachsene, und ich schwöre, ich musste von Platz zu Platz gehen und jedem einzelnen von denen, die nicht am Vorabend beim Essen mit dabeigesessen hatten, persönlich die Geschichte vom Pflaster auf meinem Sack erzählen.

Der Bus fuhr vier Stunden bis zur Sacred Heart. Der Anpfiff war um eins, und wie immer sollte es hinterher nach alter Rugbysitte ein geselliges Beisammensein geben, wo wir mit dem gegnerischen Team zu Abend aßen, bevor wir zur Pine Mountain zurückfuhren. Wir mussten zu einem Rugbyspiel immer in unserer Schuluniform mit Schlips und Kragen erscheinen, das war einfach ein ungeschriebenes Gesetz. Wir wussten alle, es würde ein langer und anstrengender Tag werden.

Aber wir hatten keine Ahnung, wie heftig und unerwartet die Sache enden würde.

Wir sangen fast die ganze Fahrt über. Ich weiß nicht, wieso Coach M das zuließ. Es war, als wäre er taub oder so, denn er verzog niemals die Miene, auch nicht, wenn die Lieder komplett ordinär wurden. Singen war anscheinend die einzige Form, in der er unser Fluchen duldete, und seine Aufmerksamkeit blieb die ganze Zeit auf sein Notizbuch geheftet, wo er sich mit Spielerlisten, Untersuchungsergebnissen und Notizen zu Spielen beschäftigte. Aber den Fahrer unseres Mietbusses brachte das Singen offensichtlich richtig in Rage. Er blickte zusehends angespannt und empört, aber ich hörte, wie Coach M ihm in seinem britischen Schnöselton erklärte: »Die Jungs sind eine Rugbymannschaft. Sie singen. Es gibt nichts, was ich, Sie oder Gott dagegen tun können außer hoffen, dass sie irgendwann müde werden.«

Und kurz bevor wir ankamen, stahl sich jemand zu unserem Verbandskasten und teilte an alle im Team außer mir heimlich Pflaster aus. Als wir schließlich an den Umkleideräumen der Sacred Heart vorfuhren und der Direktor im vollen Priesterornat und zwei Nonnen aus der Schule uns begrüßten, hatten unsere sämtlichen Spieler mit Ausnahme von mir, als sie mit schwarz-blauem Schulschlips, weißem Hemd und Khakihosen vorn aus dem Bus stiegen, ein Pflaster über dem Hosenschlitz kleben.

Schick.

Wir zogen uns um und gingen zum Aufwärmen auf den Platz. Ich trug einen Kopfverband, und ich fühlte mich absolut einsatzbereit. Als Sacred Heart herauskam und mit den Dehnübungen anfing, liefen wir auf dem Platz um die Jungs herum und sangen »She Wore a Yellow Ribbon«. Das war das einzige Lied, das wir an einer katholischen Schule singen durften, weil es nicht richtig schmutzig war, es handelt nur von einem Mann, der ein außereheliches Kind zeugt und dann vom Vater des Mädchens die Eier weggeballert bekommt. Zahm für unsere Verhältnisse, so dass, wie der Trainer sagte, nicht damit zu rechnen war, dass es einen Religionskrieg oder so was auslösen würde, da es ja eine moralische Lektion enthielt.

Aber die Sacred-Heartler fanden es gar nicht lustig, und statt uns ihrerseits etwas zu singen, was jedes anständige Rugbyteam an ihrer Stelle getan hätte, mufften sie bloß und beteten.

Ich bin überhaupt nicht gläubig. Einige andere an der PM hingegen sind es, und wir haben auf dem Gelände eine überkonfessionelle Kapelle für Schüler, die an den Wochenenden nicht nach Hause fahren. Aber vor Spielen wurde immer gebetet, und mit dem Team zu beten war der einzige Fall, wo mir beim Beten wohl war. Wenige Minuten vor dem Anpfiff knieten wir uns alle im Kreis hin und legten die Arme umeinander, und Kevin Cantrell stand in der Mitte und dankte Gott für den Tag und für das andere Team, das gegen uns spielte, und für das Glück, den größten Mannschaftssport überhaupt machen zu dürfen, und sprach die Hoffnung aus, dass alle, auch unsere Gegner, heil bleiben und Spaß haben würden.

Unmittelbar danach nahm Coach M mich beiseite und teilte mir mit, er werde mich nicht von Anfang an spielen lassen, er habe Mike Bagnuolo aufgestellt, einen Zehntklässler, der allerdings älter war als ich, weil er sehen wollte, wie Bags sich machte.

Natürlich war ich niedergeschlagen, aber ich hätte nie etwas dagegen gesagt oder versucht, den Coach umzustimmen. Das ist etwas, was man am Spielfeldrand einfach nicht tut. Wenigstens trug Bags die Nummer sechzehn und ich durfte die Elf behalten, alle wussten also, wer der echte linke Wing war. So läuft das mit Rückennummern im Rugby: Man sucht sich seine Nummer nicht selbst aus, die Position des Spielers im Team entscheidet darüber, und daran ist nicht zu rütteln. Mir blieb also nichts übrig, als den Spielbeginn von der Bank aus zu verfolgen und einfach zu hoffen, dass ich durch ein Wunder doch noch zum Einsatz kam.

Joey stand dabei, als Coach M seine Entscheidung bekannt gab, und ich sah, dass er mit der Aufstellung nicht einverstanden war, denn er warf mir einen bedauernden Blick zu. Aber er gab Bags die Hand und sagte: »Ich will was von dir sehen da draußen«, und dann: »Sorry, Ryan Dean, der Coach will nur kein Risiko eingehen«, und er tippte an meinen Kopfverband.

»Ich weiß, Joey, aber trotzdem könnte ich JP in der Luft zerreißen.«

»Erinnerst du dich noch, dass ich dir gesagt habe, du sollst deinen Scheiß auf die Reihe kriegen? Gestern Abend hat Megan gar nicht mehr aufgehört, von dir zu reden. Also wann machst du das wahr, Ryan Dean?«

Dann lief Joey an seine Position auf dem Platz, und ich konnte nur zusehen, wie das Spiel begann.

Am schlimmsten, schlimmer noch als Joeys Anschiss – mit dem er natürlich recht hatte – war, dass ich genau solche Spiele für mein Leben gern mache. Beide Mannschaften waren ziemlich gleich stark, und jedes Mal, wenn es so aussah, als würden die einen punkten, verstärkten die andern die Abwehr und erzwangen einen Turnover. Fast die ganzen fünfunddreißig Minuten der ersten Hälfte wurde kein Treffer erzielt, bis schließlich JP ein gefährliches Tackling angezeigt bekam und Sacred Heart direkt vor der Halbzeit einen Straftritt zum 3:0 verwandelte. Mich freute es, dass JP den Punktverlust verschuldet hatte und dass er deswegen offensichtlich völlig zerknirscht war.

Drecksack.

Im Rugby dauert die Halbzeitpause nur fünf Minuten, und die Spieler dürfen den Platz nicht verlassen. Und im Unterschied zu andern Sportarten kann ein ausgewechselter Spieler nicht wieder hereinkommen, was, glaube ich, einer der Gründe war, weshalb das Footballteam uns so hasste: Rugbyspieler müssen einfach in viel besserer Verfassung sein als die Spieler in fast allen andern Sportarten. In der Halbzeit jedoch rief der Trainer das Team zusammen und sagte: »Bags geht raus. Ryan Dean, pass auf deinen Kopf auf«, und ich hätte jubeln können.

Joey gab mir die Hand, und ich zog ihn dicht heran und flüsterte: »Ich schwöre, ich bringe das mit Megan in Ordnung, sobald ich kann. Sieh zu, dass du mich anspielst.«

»Okay«, sagte er.

Und er hielt Wort. Nach ungefähr fünf Minuten warf Joey den Ball über unsere beiden Center und mir direkt in die Hand, und ich musste nur noch den gegnerischen Winger abhängen, der keine Chance hatte, mich zu kriegen. Ich legte den Ball genau zwischen den Pfosten ab und erzielte damit einen Versuch, und kaum dass ich wieder auf den Füßen stand, dachte ich wirklich an Annie.

Seanie war bei uns im Team der Kicker, und er erzielte die Erhöhung. Damit stand es 7:3 für uns. Wir machten nach seinem Schuss einen Bodycheck Brust an Brust, und Seanie lachte und sagte: »Ich glaube, das ist das Schwulste, was ich je gemacht habe.«

Und ich sagte: »Nein, bei weitem nicht. Du hast mir ein Haiku geschrieben und du hast mich gestern gefragt, was meine Eier machen, schon vergessen?«

7:3 war auch der Endstand, und damit hatten wir gewonnen.

Vor dem geselligen Beisammensein nach dem Spiel mussten wir duschen und uns wieder feinmachen. Das Essen war super, und das Beste am ganzen Nachmittag war, dass die Jungs von Sacred Heart alle Handys hatten und der Trainer uns erlaubte, sie uns auszuleihen, damit wir unsere Eltern anrufen und ihnen von dem Spiel berichten konnten.

Ich lieh mir das Telefon von dem Winger mit der Nummer vierzehn, dem Jungen, dem ich bei meinem erfolgreichen Versuch davongelaufen war, und er nahm es mit Humor, versprach allerdings, dass sie sich revanchieren würden, wenn sie in der regulären Saison gegen uns spielten.

Dann musste ich die Erfahrung machen, dass man mit Handys anscheinend eine direkte Verbindung in die Hölle bekommen kann, denn mein Anruf lief so:

MOM: Hallo?

RYAN DEAN WEST: Hi, Mom. Ich bin’s, Ryan Dean.
(Ich meldete mich immer so am Telefon, obwohl ich gar keine Geschwister habe und daher der Einzige bin, der »Mom« zu ihr sagen kann.)

MOM: Du lieber Gott, Schätzchen. Hast du dich schon wieder verletzt? Was macht dein Kopf?
(Unter der Woche durfte ich sonst nicht anrufen. Internatsvorschrift.)

RYAN DEAN WEST: Mir geht’s gut, Mom.
(Ich hatte nicht vor, ihr von dem Pflaster am Sack zu erzählen. Gott! Welcher Junge würde sich trauen, über so etwas mit
seiner Mom zu reden?)

RYAN DEAN WEST (weiter): Ich rufe von unserem Spiel an. Wir haben gewonnen. Ich habe einen Versuch erzielt

MOM: Das wird deinen Dad sehr freuen, wenn er das hört.

RYAN DEAN WEST: Ist Dad da?

MOM: Nein, Herzchen. Er ist in New York.
(Dann klang sie auf einmal sehr ernst.)

MOM (weiter): Ryan Dean, wie bist du an ein Telefon gekommen?

RYAN DEAN WEST: Ach, ich wollte dir einfach Bescheid sagen, Mom. Der Trainer lässt uns heute die Handys der andern Jungs benutzen, weil wir nicht in der Schule sind. Aber ich wollte dir Bescheid geben und mich bei dir und Dad bedanken, dass ich dieses Wochenende mit zu Annie darf.

MOM: Oh. Ryan Dean?

RYAN DEAN WEST: Was?

MOM: Wolltest du deswegen mit Dad sprechen?
(Verlegenes Schweigen.)

MOM (weiter): Musst du ihn was fragen … wegen … Mädchen? Ich habe nämlich mit deinem Vater in New York telefoniert, und da habe ich dir gestern ein Päckchen geschickt mit Kondomen und einer Broschüre über, na ja, das erste Mal. Das müsstest du heute Nachmittag bekommen, Herzchen.
(Oje … Solange ich lebe, habe ich mit meiner Mutter noch nie, kein einziges Mal, über »Kondome« und »das erste Mal« gesprochen. Ich fühlte, wie ich rote Ohren bekam. Ich bin voll der verfickte Loser. Mein Leben ist die Hölle. Nein, schlimmer. Mein Leben ist ein Pflaster am Sack.)

RYAN DEAN WEST: Nein! Gott … Das darf doch bitte nicht wahr sein … Mom? FUCK!!!
(Gut, ich will ehrlich sein. Ich sage nicht »fuck« zu meiner Mom. Während des folgenden zweiten verlegenen Schweigens dachte ich einen Moment ernsthaft daran, mich umzubringen.)

MOM: Du solltest deine Freundin fragen, ob sie einmal Lust hätte, Boston zu besuchen.
(»Deine Freundin«. Würg. Na klar, Mom, leg nur schon mal Gummi- und Pornovorräte an.)

RYAN DEAN WEST: Okay, Mom.
(Mir ging auf, wie sehr ich es verabscheute, mit meiner Mom zu reden, seit ich ins Teenageralter gekommen war. Und wenn es ein stärkeres Abschreckungsmittel gegen Perversitäten gibt als einen Niagarafall rasiermesserscharfer Eissplitter, der mir in die Hose rauscht, dann müssen es Gespräche mit meiner Mom über »Kondome« und »das erste Mal« sein.)

RYAN DEAN WEST (weiter): Gut, sag Dad hallo von mir. Ich muss jetzt los, Mom.

MOM: Ich liebe dich, Ryan Dean.

RYAN DEAN WEST (vernuschelt, damit der Junge neben ihm es ja nicht versteht:) Ichliebedichauchmom. Tschüs.

Klick.

Ich fühlte mich mit einem Mal ganz schmutzig.